Die Stadt B.
Feuermaul war in der
Spinn- und Webstadt B. als der Sohn eines reichen Tuchkommissionärs geboren; aus
irgendwelchen Gründen verdienten diese Zwischenhändler mehr als die Fabrikanten
selbst, und die Feuermauls gehörten zu den reichsten Leuten, obgleich der alte
Feuermaul damit zurückhielt.
Dieses B. war um das Jahr 1890 herum, wo der junge Feuermaul geboren wurde, eine
sonderbare Stadt. Um eine alte, häßliche, auf einem Berg liegende Festung herum,
der Kasematten, die von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als
Staatsgefängnis gedient hatten und berüchtigt waren, lag ein alter, wenn auch
längst vermauerter Stadtkern, von dem nicht allzu zeitgemäßen Geschäftsbetrieb
wohlhabender Bürger erfüllt; um diesen Kern breiteten sich im Ring die
Fabriksviertel, große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen
Fensterlöchern, aufgefädelt längs einiger gewundener, breiter, schlecht gehaltener
Straßen und einem Gewirr von Nebengäßchen, hohe graue Kamine ragten als traurige
Flaggenmaste darüber weg; und wo sich das ins Land verlor, begann unvermittelt
schwarzbraune, fette, fruchtbare Erde, geduckte Dörfer, in einer Zeile die
Landstraße begleitend und in den Farben des Regenbogens angestrichen, fremd
reizvolles Bauernland, aus dem die Fabriken ihre Arbeiter, Männer und Frauen
sogen, und weites Rübenland, das Großgrundbesitzern gehörte. Diese Stadt bildete
die nördliche Spitze einer deutschen Sprachinsel und war eine von Deutschen
kolonisierte Stadt, seit dem 13. Jahrhundert in die Erinnerungen deutscher
Geschichte verflochten. Man konnte in den Schulen dieser Stadt lernen, daß hier
der Türkenprediger Kapistran gegen die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo
gute Österreicher auch in Neapel noch geboren werden konnten; daß die
Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur
österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen
worden sei als hier; daß die Schweden im Dreißigjährigen Krieg diese tapfere Stadt
einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie
erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg
vermocht. Mit anderen Worten, es war eine gute kakanische Stadt, und man sah es
ihr auch an.
Unter ihren zehn Klöstern waren manche Zeugen aus alter Zeit, am höchsten Punkt
thronte ein Gefängnis; am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, darunter hatten die
Macht der Landstände und der Fleiß der Bürger manches Gebäude hinterlassen, das in
der Sprache der Renaissance oder gar der Gotik dem Vorübereilenden ein Wort aus
dem Grabe ins Ohr flüsterte. Merkwürdig, das wird ja anders werden; wenn dereinst
unsere Stimmen von 1929 aus versenkten Grammophonplatten den im Jahre 2179
vorbeieilenden Menschen ins Ohr rufen werden, wie und namentlich was wir
gesprochen haben, so werden die erschreckt zusammenzucken! Das optische Grammophon
der Baukunst hatte trotz der aufgewandten Steinmassen diese Wirkung nicht
erreicht. Wir haben uns niemals durch schöne alte Häuser abhalten lassen, sie zu
benützen, so wie wir sind. Das hatte seine Ursache freilich auch darin, daß die
alte Bausprache viel lebendiger erhalten geblieben ist als die alte Schriftsprache
und Mundart, und wenn ein historisch unbefangener Mensch die gotische Jakobskirche
sah mit ihrem Nadelturm oder vor den barocken Brunnen am Krautmarkt stand, so
konnte er nur dadurch auf ihr Alter kommen, daß er eigens eines der neueren Häuser
seiner Vaterstadt anblickte, in deren Schauseiten sich dem Fortschritt der Zeit
entsprechend sowohl Gotik wie Barock wie Renaissance wie Romanik und Empire
gemischt hatten. Unter den großen Städten Kakaniens hatte B. die zeitgemäßeste
Architektur, ein reiches Bauwelsch, das die roten
Türmchen, Dächerchen und schieferblauen Mansardendächer seiner Villen als Träger
der Kultur in die Wälder hineinschob, die es auf einer Seite »umkränzten«. Es lag
in der Gabel zweier Flüsse, aber einer sehr weiten, locker ansitzenden Gabel, und
die Flüsse waren eigentlich
nicht so recht Flüsse, sondern an manchen Stellen waren sie breite gemäßigte Bäche
und an anderen wieder waren sie stehende Wasser, die dennoch insgeheim flossen.
Auch die Landschaft war nicht einfach, sondern bestand aus drei Teilen. Auf der
einen Seite eine weite sehnsüchtige sich eröffnende Ebene, die nach Wien führte
und an manchen Abenden und Morgen von zarten Silber- und Orangefarben überschwebt
war; auf der anderen buschiges, baumwimpeliges, treudeutsches Waldhügelland, von
grellem Grün in fernes Blau führend; auf der dritten eine heroische, nazarenische
Landschaft von großartiger Eintönigkeit mit Steinbrüchen, graugrünen, von Schafen
beweideten Hügelkuppen und braunen, wie ein Violinton wegschwebenden Feldern. Im
ganzen war das wohl ein Dreiviertelkreis von Hügeln und Bergen, Tafeln und
Kulissen, zur Hälfte kahl, zur Hälfte bewaldet, aus dessen offener Seite, wenn
nicht alles täuscht, die beiden vereinigten Flüsse hinausführten; aber man kann es
nicht so genau sagen, denn in dieser ganz und gar kakanischen Landschaft gab es
natürlich auch auf der Bergseite große Ebenen, auf der Kahlseite ein paar Wälder
und inmitten der Waldidyllen schweigende Ackerbreiten. Man vermag auch nicht zu
sagen, ob die Bewohner dieser Stadt ihre Stadt und deren Umgebung schön oder
häßlich fanden; würde man gesagt haben, sie sei häßlich, so würden sie in dem
ihnen eigenen singenden Tonfall geantwortet haben: aber gehn Sie, der rote Berg, und der gelbe Berg, und die schwarzen Felder, und der
Kuhberg…! Und man muß zugeben, daß allein schon diese Namen sich landschaftlich
hören lassen. Würde man aber gesagt haben, sie sei schön, so würden sie gelacht
und erzählt haben, sie kämen eben aus der Schweiz oder vom Semmering und aus Wien
zurück. Es war damit keinesweg eine Schönheit des Häßlichen ihrer Heimat gemeint;
eher, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft geben konnten, so etwas wie die
Unruhe, in die uns die Vorstellung der Todesruhe versetzt, oder das wohlige
Herabsinken eines Zwielichts, in dem die Augen schmerzen, wenn man etwas
ansieht.
Und gerade das gehörte zu den Vorbildlichkeiten Kakaniens, denn wie sich gezeigt
hat, ist es nirgends in der Welt viel anders, oder, um es zeitgemäß auszudrücken,
alles ist dem Menschen heute zugleich Unlust und Lust. Kakanien war eine
großartige Mischung davon, und der Geburtsort des Dichters Feuermaul B. war in
Kakanien einer der am vorbildlichsten gemischten Orte. Die Menschen, die es
bewohnten, lebten von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von dem Verkauf von
Tuchen und Garnen, von der Erzeugung und dem Handel mit allen Dingen, die Menschen
brauchen, welche Tuche und Garne erzeugen oder verkaufen, einschließlich der
Erzeugung und Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, Krankheiten, Kenntnissen,
Vergnügungen und dergleichen, was zu jeder größeren Stadt gehört. Alle diese
Menschen hatten eine Eigenheit, die sich schwer ausdrücken läßt: es gab keinen
bekannten Ort der Welt, ob es nun Kitzbühel, St. Moritz oder Tokio war, wo man
nicht, wenn man selbst aus dieser Stadt stammte, einen Menschen oder eine Familie
aus der Heimat antreffen konnte, die sich auf der
gleichen Reise befanden; das hatte zur Folge, wenn man sich zu Hause wiedertraf,
daß alle Menschen dieser Stadt ebensoviel davon an sich hatten, daß die Welt groß
und weit ist, wie daß schließlich auch die Weltkugel nur einen winzigen
Mittelpunkt hat.
Man könnte sagen, daß
damit der Charakter dieser Stadt beschrieben sei, wenn in dieser Beschreibung
nicht noch etwas fehlte, und man wird kaum irren, wenn man annimmt, daß es gerade
der Charakter ist. Fleiß, Sparsamkeit, gute Konzerte, mit- telmäßiges Theater,
Bälle, Einladungen und die Erzeugung von Wollen und Garnen machen noch sowenig
einen Charakter aus, wie ein Nebeneinander gut gefüllter Säcke ein Orchester
darstellt. Dazu gehören noch entweder der Kampf mit einer sich auflehnenden
Arbeiterschaft oder der Kampf um den Weltmarkt oder der um die Staatsmacht, kurz,
nicht nur das Verdienen nach Verdienst, sondern auch ein Stück Erbeuten. In
Kakanien dagegen wurde wohl sehr viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte
keines werden. Wenn in diesem Staate Verbrechen erlaubt gewesen wären, so würde
man doch strenge darauf geachtet haben, daß sie nur von kaiserlich-königlich
privilegierten Verbrechern ausgeübt werden. Und das gab allen solchen Städten das
Aussehen eines großen Saals mit einer niedrigen Decke.
Der Staatscharakter Kakaniens war ein sanfter und gemäßigter. Ein Kranz von
Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte
aufbewahrte, groß genug, um bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in
Trümmer zu legen; aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen
schwarzgelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß die
Bürger kein Unheil anrichteten. Die Polizei war mit Säbeln ausgestattet, die so
lang waren wie die der Offiziere. In die neuen Stadtviertel hatte der Staat, schon
ehe sie so weit ausgedehnt waren, weit vorausblickend, Militärspitäler,
Monturdepots und Trainkasernen gelegt, deren riesige Rechtecke der städtischen
Ordnung einen gewissen Halt gaben, und eine Beamtenarmee in langschössigen
Uniformen amtierte in großen Amtskasernen oder früheren Klöstern. Man darf alles
das nicht für Militarismus halten, dessen man Kakanien bezichtigt hat, es war nur
Ordnung. Diese Ordnung, irgendwann, unter Franz I. oder Ferdinand I. planmäßig
entstanden, aber inzwischen zu einer Landschaft und Natur geworden, gab der
Franzisko-Josephinischen Ära ihr Gepräge. Ganz bestimmt hätten bei längerer Dauer
auch noch die Geistlichen Säbel bekommen, da die Universitätsprofessoren doch
schon welche hatten; aber man sah eben im Säbel nichts anderes als eine
unentbehrliche geistige Waffe.
Trotzdem war dieser
gemäßigte Staat der Schauplatz erbitterter Kämpfe. Bisher ist nur von den
deutschen Bewohnern die Rede gewesen, aber es gab, wenn man von den Offizieren und
Beamten absieht, beinahe ebensoviel Tschechen wie Deutsche in B. und außerdem war
es die Hauptstadt einer Provinz, in der doppelt soviel Tschechen wie Deutsche
lebten. Es ist nicht üblich, in einer Dichtung von solchen Fragen in Zahlen zu
sprechen, denn wenn es überhaupt geschieht, daß man die Politik berührt, so
spricht man nur von ihren Leidenschaften; allein, am Grund der Leidenschaften
ruhen sehr oft Zahlen, und besonders bei Politikern. Und schließlich ist das
dauernde Unvermögen der Deutschen und Tschechen, sich
miteinander zu vertragen, zwar nicht mit den anderen großen Weltspannungen zu
vergleichen gewesen, wohl aber hat es hauptsächlich dazu beigetragen, in
Österreich jenen Krankheitszustand zu schaffen, der den Kriegspolitikern außerhalb
und innerhalb Kakaniens Mut zu dem großen chirurgischen Eingriff machte, oder wenn
man es so lieber hat, sie vor den ernsten Entschluß zu einem solchen stellte. Die
geschilderte Stadt hatte also nicht nur die Ehre, der Geburtsort des
friedliebenden Lyrikers Feuermaul zu sein, sondern man darf ihr auch nachrühmen,
daß sie ein Herd des Weltkriegs war.
Nun ist über die Ursachen sowohl des Kriegs wie der Eintracht, die seither am
gleichen Orte zwei Völker friedlich vereint, die sich ehedem gehaßt haben, schon
soviel Kluges und Wohlbegründetes verbreitet worden, daß die größte poetische
Gabe, Dinge zu erzählen, die niemals gewesen sind, neben dem gleichen Talent der
Wirklichkeitsmenschen erblassen mußte. Trotzdem haben Menschen damals in Kakanien
gelebt, die noch heute, in der seither verbesserten Welt, leben; ja sie machen
nach wie vor ihre Geschäfte oder reiten ihre Steckenpferde; dazwischen aber haben
sie Weltgeschichte gemacht, sind einem Weltgericht unterworfen worden, das ihre
Nationen hob und senkte, und es bleibt eine ungemein fesselnde, ja sogar eine
eminent moralische Frage, wie man eigentlich zu so etwas kommt. Man betrachte
einen durchschnittlichen Jüngling, der in dieser Stadt die deutsche technische
Hochschule besuchte, um dereinst Dampfmaschinen zu baun oder sein Vaterland mit
Licht zu versorgen. Unterscheiden wir ihn vom Genie durch den Namen Biermaul.
Biermaul hat in der Zeit, wo er noch nicht Student
war, am Nachhauseweg von der Schule zwei Arten von Kämpfen kennengelernt: entweder
gab es eine Schlacht der Realschule mit dem Gymnasium, in der bald die eine, bald
die andere Partei siegte, oder eine Schlacht mit der tschechischen Straßenjugend,
die immer zu einem Rückzug der höheren Bildung führte, den die höhere Intelligenz
verschleierte und als geordneten Rückzug weniger beschämend machte. Sobald nun
Biermaul über diese
Jahre hinaus ist, sind die Kämpfe zwischen Realschule und Gymnasium vergessen, die
anderen aber haben sich zu der Vorstellung verfestigt, daß der Tscheche etwas
Pöbelhaftes an sich hat und der Deutsche die Kulturmacht ausüben müsse. Diese
Vorstellung hat vorläufig noch gar nichts mit blonden Haaren oder blauen Edelaugen
zu tun, wenn das weitere später auch hinzukommt; sie ist vorläufig nichts als die
Feststellung der Tatsache, daß es viele tschechische Jungen gibt, die bloßfüßig
und zerlumpt sind, roher sind, als die deutschen Jungen gern sein möchten, und
ausgezeichnet mit Steinen werfen. Auch die Dienstmädchen sind meist Böhminnen, wie
man das nennt, und alle kleinen Leute, die man da und dann zu kleinen Diensten
braucht, sind Böhmen. Das sind so die Familieneindrücke Biermauls, mit denen er in
die Politik eintritt. Seine Jugendfreunde heißen Navratil und Prschihoda, aber da
ihre Väter deutsche Beamte sind und sie selbst kein Wort des Tschechischen
verstehn, hält er sie mit Recht für ebenso deutsch wie sich.
Die Erklärung dafür ist sehr einfach. Geschichte, Kern, Reichtum, Mehrheit dieser
Stadt und der ganze ihr eingelagerte Staatsapparat waren seit Geschlechtern
deutsch. Jeden Morgen holten aber die Sirenen der
Fabriken aus den Dörfern der Umgebung Scharen von tschechischen Arbeitern herein,
und verstreuten sie zwar abends wieder über das Land, aber mit den Jahrzehnten
blieben davon immer mehr in der Stadt zurück und machten von unten her das schon
vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig nach oben wachsen. Wenn man sagen
dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses Maß von Kultur, so
entwickelte sich nun eine gewisse österreichische Kultur, denn die kleinen Leute
dieser Stadt sprachen weder tschechisch, noch deutsch, sondern ein bescheiden
selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen. Man stand in Kakanien damals immer noch
auf dem Standpunkt, daß es nicht gut sei, wenn die einfachen Leute zu viel lernen.
Man legte auch nicht zu viel Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich gut gehe.
Steckt etwas Tüchtiges in einem Menschen, so ringt es sich schon durch, und
Widerstände sind geeignet, einen Mann zu erziehen. Es war ein Stück
altösterreichischer Überlieferung, den Menschen nur mit Bedacht das Vorwärtskommen
zu erleichtern, wenn sie nicht schon aus Kreisen stammten, zu deren Rechten es
gehörte. Es gab mehrere wohlhabende Männer in Kakanien und einige hohe
Staatsbeamte, welche die Richtigkeit dieses Grundsatzes bewiesen; außerdem hatten
es mehrere Söhne von Feldwebeln zu Oberstleutnants gebracht. Darum gab es in
dieser Provinz zwar doppelt soviel Tschechen als Deutsche, dem aber nur auf der
untersten Stufe die Zahl der Schulen entsprach; an höheren Bildungsanstalten
hatten dagegen die Deutschen doppelt soviel und die Tschechen um die Hälfte zu
wenig, als ihnen nach ihrer Zahl zugekommen wäre. Selbstverständlich wurden die meisten Familien,
die es zu etwas brachten, auf diese Weise deutsch.
Die Tschechen nennen das heute noch eine gewaltsame Germanisierung und leiten
daraus das Recht ab, daß sie heute den Deutschen zufügen. Es war aber nur der
Zusammenhang von Besitz und Bildung. Sie hätten ebensogut Sozialisten werden
können; aber auf jenem von vorübergehenden Tatsachen und bleibenden Umständen
ausgetretenen Weg, den man den der Geschichte nennt, wurden sie nationale
Romantiker. Bekanntlich ist es eine große Erleichterung, wenn man sich ärgert,
seinen Zorn an jemand auszulassen, der nichts dafür kann; weniger bekannt ist das
ja von der Liebe, und dennoch läßt man gerade in der großen Liebe oft nur seine
Liebe aus. Gerade darin besteht aber das, was man Romantik nennt. Wenn ein
Romantiker sich nicht wohl fühlt, so verliebt er sich in das deutsche Mittelalter,
die ägyptische Königszeit und andere Zeiten, die er nicht kennt, oder er gibt die
Schuld seiner Frau, die ihn nervös macht. Er wird immer einen Punkt finden, den er
nicht erreichen kann, und dorthin verlegt er die Schuld oder das Ziel. Die
Anwendung auf nationale Liebe und Haß liegt auf der Hand.
Es kann also gar keine
Rede davon sein, daß die Deutschen als Nation etwas wollten, ebensowenig wie die
vernünftigen Tschechen heute, nach Umkehrung der Verhältnisse, den Deutschen etwas
Übles wollen, obgleich sie es ihnen antun. Tatsache war es jedenfalls, daß die
Tschechen damals ihre Forderungen aufstellten, und die Deutschen ihre Belange, und
daß sie einander nicht nur mit allen Mitteln der Kabale, sondern auch mit Steinen
und Knütteln bekämpften. Das Bedürfnis, erregt und eindeutig zu sein, ergreift
gleich eine solche gewöhnlich ja versagte Gelegenheit. Eine solche nationale Leidenschaft nennt man Balkanisierung, und sie ist mit
der Blutrache verwandt. Was aber Blutrache ist, erkennt man ausgezeichnet, wenn
man sich vorstellt, daß man einen Mann, an dem man geschäftlich verdient,
erdolchen müßte, weil ein Tunichtgut, mit dem man verwandt ist, von einem
Tunichtgut, mit dem er verwandt ist, beleidigt worden ist. Das wäre ja zum Lachen,
und so kommt Blutrache nur von dem Mangel an Geschäftsverbindungen, nationaler
Geist aber ebenfalls. Den Mangel natürlicher Beziehungen vertreten augenblicklich
Ideengespenster, von deren vampyrhaftem Herumfliegen in der heutigen Luft ja schon
oftmals die Rede war.