Prag 14. Oct 89.

Lieber Freund! Wien ist eine prächtige, eine herrliche Stadt, voller Anregungen, voller Neuigkeiten, erholt, erfrischt trotz stetem Arbeiten kam ich letzten Mittwoch, noch Zwiedineks Reisesegen im Herzen, nach Prag zurück. Wollt, daß ich Flügel hätt’ und öfter hinflattern könnte! Was ich an theatralischen Früchten (Räuber, Gyges, Jüdin, Medea, Esth[er,] Verschwender, Bluthochzeit) eingeheimst habe, wie ich mich an guter Musik vollsaugte: das kommt mir alles den langen Winter hindurch zu Gute. Von Fachcollegen sah ich Seemüller, der an seinem Ottokar nun endlich druckt; Burdach und Wahle nur im Fluge; Minor 3mal; er hat sich im vorigen Herbst mit Schmidt halb u. halb zertragen, daher er eine große Sehnsucht nach Anschluß an Fachcollegen hat. Aber von uns allen scheint er zu glauben, daß wir ihn um seine Wiener Central-Professur beneiden und der Heularsch Werner bestärkt ihn in diesen seinen Vermuthungen. „Also im russischen Kriege erschossen zu werden haben Sie keine Aussichten“ waren RMarias letzte Worte an den erbosten Herrn Nimor. An Suphan hat er einen Narren gefressen, we[il] dieser ihm vor versammeltem Seminar eine – Rose überreichte. Ich sagte darauf: diese Scene hätte verdient durch ein AvWernersches Gemälde verewigt zu werden. Über die VJS schimpft er weidlich; er selbst schreibe aber in die Zachersche Zs. weil diese einmal besser zahle und weil Sie gern regelmäßig Heinzel nicht aber auch ihn auf der Universität aufsuchten. Ich sagte ziemlich derb darauf, der Redacteur könne doch nicht jedem Mitarbeiter die Artikel persönlich aus dem Steiße ziehen. Sonst war er ganz Schiller: 30 Bogen bis zur Flucht; ob da die vier Bände bis zum Tode reichen werden? Aber ich glaube, das Buch wird wirklich großartig. Zu mir sagte er: ich sollte zu einer gescheidteren Zeit nach Wien kommen damit die Sehnsucht seiner Studenten mich zu sehen einmal befriedigt werde. Zu einem germanistischen Panorama bin [ich] mir aber doch noch zu gut. Sonst war er liebenswürdig, fast gemütlich. Herr v. Waldberg nett, gelehrt, mit einer Geschichte des deutschen Romans schwanger. Heinzel an einem Abend im Hotel de France ungemein gesprächig, bes. über Methode im Betrieb der neueren Litteraturgeschichte. Er ist der vornehmste aller älteren Germanisten. – Im Ministerium sagte man mir das Haupthindernis meiner Ernennung sei das geringe Erträgnis der Branntweinsteuer; ich bat daher alle meine Freunde, sie sollen tiefer ins Glas blicken. – Mein Hauptverkehr war Glossy. 2 Bände Schreyvogels Tag[ebü]cher mit wertvollen Briefen im Anhang sind fast gedruckt; einen Band Grillparzer Briefe habe ich selber druckfertig gemacht (Herausgeber auch Glossy); Raimund soll zum 100. Geburtstag illustrirt werden, in Melk wird der Briefwechsel zwischen Halm und Enk edirt, u. später sollen vom Kloster aus auch Enks Werke gesammelt werden: Kurz und gut die Vorarbeiten zu meiner öst. Lit. Gesch. gehen flott vorwärts. Eigentlich aber habe ich an meinem Grillparzer Buch gearbeitet, das immer greifbarere Gestalt annimmt. Ich halte heuer im Seminar Übungen über Grs dramatische Fragmente u. werde auch sonst jedes Zeit-Atomchen dem ‚Hauptges[c]häfte‘ widmen.
Daß der Uz stockte u. noch immer stockt ist fatal. Ich hoffe mein Wort trotzdem halten zu können, obwol ich vom 2. Thl. jetzt weder Manuscr. noch Correcturbogen habe. Einige Ergänzungen hat Schnizlein noch gesandt. Kleist hoffe ich gleichfalls liefern zu können, wenn meine rein frühjahrsmäßige Arbeitsstimmung nur einige Zeit anhält; und ich hoffe das, weil ich mich trainire, meinen Körper munter und geschmeidig zu erhalten trachte, was bei mir das Wichtigste ist. – Daß Sie nun doch beim Grundriß mitthun, ist hübsch von Ihnen. Götze ist im (schriftlichen) Ver[keh]r nett. Ich habe viele Lücken in der eben erscheinenden Lieferung ausgefüllt, was er in einem spontanen Dankschreiben anerkannte; u. ich will auch in Zukunft beisteuern was ich habe. – Was Sie über Pfeifer – Klinger – Faust schreiben, verstehe ich nicht ganz. Meine St u. Dr. wollen keine wiss. Edition sein und haben deshalb beim größeren Publikum weit mehr Anklang gefunden u. passen besser in die (ob ihrer Existenzberechtigung allerdings zweifelhafte) Sammlung als der wissenschaftlichere Bürger und Voß. Was der junge Heißsporn also so Böses über mich sagen kann, weiß ich nicht. Aber thun Sie auch recht daran, diese Arbeit, die ja allerdings wenn sie ihren Vf. fördern könnte, gedruckt zu werden verdient hätte, noch nach dem Tode des Vf. in aller schreckliche[n] Breite drucken zu lassen?!
Durch Zwiedinecks Erzählungen bin ich über Graz und seine Bewohner, insbesondere über die im Alter von 1–2 Jahren wieder im Laufenden. Ich muß schon der Kinder wegen einmal kommen; denn die Kinder: das ist mein Theil; bei meinem Bruder waren sie heuer im Sommer das erste und fast einzige. Liegt aber mein Kind, der Grillparzer einmal im Schaukasten bei Leuschner aus, dann komme ich und hole mir aller Euer Lob.
Grüßen Sie mir Ihre liebe Frau un[d] behalten Sie mich, auch wenn ich heuer in Schweigsamkeit verfalle. An A. E. schreibe ich gleichzeitig, Mit seiner Fruchtbarkeit kann niemand concurriren. Mit herzlichen Grüßen
Der getreueste Mitarbeiter der DLD und der VJS AS.

Prag 14. Oct 89.

Lieber Freund! Wien ist eine prächtige, eine herrliche Stadt, voller Anregungen, voller Neuigkeiten, erholt, erfrischt trotz stetem Arbeiten kam ich letzten Mittwoch, noch Zwiedineks Reisesegen im Herzen, nach Prag zurück. Wollt, daß ich Flügel hätt’ und öfter hinflattern könnte! Was ich an theatralischen Früchten (Räuber, Gyges, Jüdin, Medea, Esth[er,] Verschwender, Bluthochzeit) eingeheimst habe, wie ich mich an guter Musik vollsaugte: das kommt mir alles den langen Winter hindurch zu Gute. Von Fachcollegen sah ich Seemüller, der an seinem Ottokar nun endlich druckt; Burdach und Wahle nur im Fluge; Minor 3mal; er hat sich im vorigen Herbst mit Schmidt halb u. halb zertragen, daher er eine große Sehnsucht nach Anschluß an Fachcollegen hat. Aber von uns allen scheint er zu glauben, daß wir ihn um seine Wiener Central-Professur beneiden und der Heularsch Werner bestärkt ihn in diesen seinen Vermuthungen. „Also im russischen Kriege erschossen zu werden haben Sie keine Aussichten“ waren RMarias letzte Worte an den erbosten Herrn Nimor. An Suphan hat er einen Narren gefressen, we[il] dieser ihm vor versammeltem Seminar eine – Rose überreichte. Ich sagte darauf: diese Scene hätte verdient durch ein AvWernersches Gemälde verewigt zu werden. Über die VJS schimpft er weidlich; er selbst schreibe aber in die Zachersche Zs. weil diese einmal besser zahle und weil Sie gern regelmäßig Heinzel nicht aber auch ihn auf der Universität aufsuchten. Ich sagte ziemlich derb darauf, der Redacteur könne doch nicht jedem Mitarbeiter die Artikel persönlich aus dem Steiße ziehen. Sonst war er ganz Schiller: 30 Bogen bis zur Flucht; ob da die vier Bände bis zum Tode reichen werden? Aber ich glaube, das Buch wird wirklich großartig. Zu mir sagte er: ich sollte zu einer gescheidteren Zeit nach Wien kommen damit die Sehnsucht seiner Studenten mich zu sehen einmal befriedigt werde. Zu einem germanistischen Panorama bin [ich] mir aber doch noch zu gut. Sonst war er liebenswürdig, fast gemütlich. Herr v. Waldberg nett, gelehrt, mit einer Geschichte des deutschen Romans schwanger. Heinzel an einem Abend im Hotel de France ungemein gesprächig, bes. über Methode im Betrieb der neueren Litteraturgeschichte. Er ist der vornehmste aller älteren Germanisten. – Im Ministerium sagte man mir das Haupthindernis meiner Ernennung sei das geringe Erträgnis der Branntweinsteuer; ich bat daher alle meine Freunde, sie sollen tiefer ins Glas blicken. – Mein Hauptverkehr war Glossy. 2 Bände Schreyvogels Tag[ebü]cher mit wertvollen Briefen im Anhang sind fast gedruckt; einen Band Grillparzer Briefe habe ich selber druckfertig gemacht (Herausgeber auch Glossy); Raimund soll zum 100. Geburtstag illustrirt werden, in Melk wird der Briefwechsel zwischen Halm und Enk edirt, u. später sollen vom Kloster aus auch Enks Werke gesammelt werden: Kurz und gut die Vorarbeiten zu meiner öst. Lit. Gesch. gehen flott vorwärts. Eigentlich aber habe ich an meinem Grillparzer Buch gearbeitet, das immer greifbarere Gestalt annimmt. Ich halte heuer im Seminar Übungen über Grs dramatische Fragmente u. werde auch sonst jedes Zeit-Atomchen dem ‚Hauptges[c]häfte‘ widmen.
Daß der Uz stockte u. noch immer stockt ist fatal. Ich hoffe mein Wort trotzdem halten zu können, obwol ich vom 2. Thl. jetzt weder Manuscr. noch Correcturbogen habe. Einige Ergänzungen hat Schnizlein noch gesandt. Kleist hoffe ich gleichfalls liefern zu können, wenn meine rein frühjahrsmäßige Arbeitsstimmung nur einige Zeit anhält; und ich hoffe das, weil ich mich trainire, meinen Körper munter und geschmeidig zu erhalten trachte, was bei mir das Wichtigste ist. – Daß Sie nun doch beim Grundriß mitthun, ist hübsch von Ihnen. Götze ist im (schriftlichen) Ver[keh]r nett. Ich habe viele Lücken in der eben erscheinenden Lieferung ausgefüllt, was er in einem spontanen Dankschreiben anerkannte; u. ich will auch in Zukunft beisteuern was ich habe. – Was Sie über Pfeifer – Klinger – Faust schreiben, verstehe ich nicht ganz. Meine St u. Dr. wollen keine wiss. Edition sein und haben deshalb beim größeren Publikum weit mehr Anklang gefunden u. passen besser in die (ob ihrer Existenzberechtigung allerdings zweifelhafte) Sammlung als der wissenschaftlichere Bürger und Voß. Was der junge Heißsporn also so Böses über mich sagen kann, weiß ich nicht. Aber thun Sie auch recht daran, diese Arbeit, die ja allerdings wenn sie ihren Vf. fördern könnte, gedruckt zu werden verdient hätte, noch nach dem Tode des Vf. in aller schreckliche[n] Breite drucken zu lassen?!
Durch Zwiedinecks Erzählungen bin ich über Graz und seine Bewohner, insbesondere über die im Alter von 1–2 Jahren wieder im Laufenden. Ich muß schon der Kinder wegen einmal kommen; denn die Kinder: das ist mein Theil; bei meinem Bruder waren sie heuer im Sommer das erste und fast einzige. Liegt aber mein Kind, der Grillparzer einmal im Schaukasten bei Leuschner aus, dann komme ich und hole mir aller Euer Lob.
Grüßen Sie mir Ihre liebe Frau un[d] behalten Sie mich, auch wenn ich heuer in Schweigsamkeit verfalle. An A. E. schreibe ich gleichzeitig, Mit seiner Fruchtbarkeit kann niemand concurriren. Mit herzlichen Grüßen
Der getreueste Mitarbeiter der DLD und der VJS AS.

Briefdaten

Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 422/1-170
Umfang: 4 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-8512 [Druckausgabe Nr. 96]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8512/methods/sdef:TEI/get

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