Das vierjährige binationale Forschungsprojekt zur Erschließung des Briefwechsels zwischen den Germanisten August Sauer und Bernhard Seuffert wurde aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanziert und von je einer Arbeitsgruppe am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und am Institut für Germanistik der Universität Hamburg bearbeitet. Im Zentrum des Projekts stand eine zentrale Quelle für die Früh- und Konsolidierungsphase der Neugermanistik: der bislang unveröffentlichte Briefwechsel zwischen August Sauer (1855–1926) und Bernhard Seuffert (1853–1938) aus den Jahren 1880 bis 1926. Mit über 1200 erhaltenen Korrespondenzstücken – etwa 650 von Sauer und knapp 600 von Seuffert – handelt es sich um einen der umfangreichsten germanistischen Gelehrtenbriefwechsel des betreffenden Zeitraums.
Bald nach dem Tode Sauers (1926) wurden die Korrespondenzen zwischen Bernhard Seuffert und Sauers Witwe getauscht. Die Briefe von Bernhard Seuffert an August Sauer liegen als Teil eines größeren Seuffert-Familienarchivs seit 1962 im Staatsarchiv Würzburg. Die Briefe von Sauer an Seuffert befinden sich in Sauers Teilnachlass in der Handschriftenabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek, die ihn 1963 übernahm. Einzelne Korrespondenzstücke Sauers liegen außerdem im Würzburger Seuffert-Nachlass und in den Sammlungen des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar.
Was Sauer und Seuffert – neben der Herkunft aus der Schule des Berliner Germanisten Wilhelm Scherers – verband, war die geographische Randlage der Universitäten, an denen sie den Hauptteil ihres wissenschaftlichen Lebens zubrachten, und die zentrale Position, die sie dennoch in der österreichischen und reichsdeutschen Germanistik ihrer Zeit erlangten. Der gebürtige Deutsch-Österreicher Sauer, der sich 1879 in Wien habilitierte, kam über Lemberg und Graz 1886 nach Prag, wo er bis zu seinem Tode lehrte. Seuffert war seit 1877 fast neun Jahre Privatdozent in seiner Heimatstadt Würzburg, bevor er 1886 Nachfolger Sauers an der Universität Graz wurde, wo er – alle auswärtigen Rufe ausschlagend – bis zu seiner Emeritierung 1924 blieb. Das typische Profil der Literaturhistoriker aus der „Scherer-Schule“, in dessen Zentrum die umfassende Erschließung von Leben, Werk und Wirkung eines bedeutenden Autors stand, erfüllten beide auf durchaus unterschiedliche Weise: Seuffert beschäftigte sich lebenslang mit Christoph Martin Wieland, Sauer mit der Edition und Erforschung der Werke Adalbert Stifters und vor allem Franz Grillparzers. Neben Scherers Berliner Nachfolger Erich Schmidt wurde Sauer zum wichtigsten Organisator der frühen Neugermanistik: 1894 gründete er die Zeitschrift Euphorion – ein modernes, bis heute bestehendes Fachperiodikum, das mit seiner pluralistischen Ausrichtung zum wichtigsten Kommunikationszentrum der Neueren deutschen Literaturgeschichte im deutschsprachigen Raum wurde. 1891 übernahm er die von Seuffert 1881 begründete Reihe Deutsche Literatur-Denkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken, die er bis 1904 herausgab. Während Sauer mit anderen österreichischen Scherer-Schülern – wie etwa Jakob Minor (Wien) und Richard Maria Werner (Lemberg) – Grundlagen für eine österreichische Literaturgeschichte zu schaffen suchte, blieb Bernhard Seuffert stärker auf die reichsdeutsche Germanistik orientiert.
Sauer und Seuffert gehörten – gemeinsam mit Jakob Minor, Erich Schmidt, Josef Eduard Wackernell und Richard Maria Werner – zur ersten Generation germanistischer Literaturhistoriker, die ihren fachlichen Schwerpunkt hauptsächlich auf die Erforschung der neueren deutschen Literatur legten. Die Korrespondenz zwischen Sauer und Seuffert besitzt daher nicht allein für die Erforschung der Biographie und des wissenschaftlichen Œuvres der beiden Gelehrten einen hohen Quellenwert, sondern für die Disziplingenese der Neugermanistik insgesamt. Sie umfasst wichtiges neues Material zum personellen und institutionellen Ausbau des Faches, vor allem an den Universitätsstandorten Graz und Prag, zur Gründung von Zeitschriften und Buchreihen sowie zur Herausbildung fachlicher Schwerpunkte, etwa auf den Gebieten der Goethe-Forschung und der österreichischen Literaturgeschichte. Ein weiterer Schwerpunkt der Korrespondenz betrifft die Konsolidierung disziplinärer Praktiken in der Editionsphilologie. August Sauer stellte sich mit seinen Editionen der Werke Ewald von Kleists (1881/82), Ferdinand Raimunds (1881) und Johann Peter Uz’ (1890) früh schwierigen textkritischen Aufgaben, die ihm die Grenzen der aus der älteren deutschen Philologie übernommenen methodischen Standards bewusst machten und ihn nach neuen Wegen suchen ließen. Sowohl Seuffert als auch Sauer arbeiteten an der seit 1887 erscheinenden Weimarer Goethe-Ausgabe mit und kritisierten informell deren starre Editionsprinzipien. Beide traten für eine stärkere Berücksichtigung entstehungsgeschichtlicher Aspekte in der Textedition ein, ohne dies jedoch in den von ihnen mitverantworteten großen Ausgaben zu Christoph Martin Wieland und Franz Grillparzer konsequent umsetzen zu können.
Hauptziel des Projekts war die Erarbeitung einer gedruckten Auswahlausgabe. Der 2020 im Böhlau Verlag herausgegebene Band Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926 umfasst rund 300 Korrespondenzstücke. Im Rahmen der Einleitung zu dieser Ausgabe wird insbesondere untersucht, welche relevanten Informationen die Korrespondenz zu den folgenden Aspekten enthält: fachliche und intellektuelle Biographie der beiden Korrespondenzpartner, Stationen der akademischen Laufbahn, Netzwerke mit anderen Gelehrten und wissenschaftlichen Institutionen, Werkgeschichte, Publikationen sowie Mitarbeit und Leitung wissenschaftlicher Großunternehmen und Buchreihen.
Dies beinhaltet die Genese der bekannten Lehr- und Forschungsschwerpunkte, methodische Diskussionen, die Entstehung ihrer wichtigsten Werke, Werkpläne und wissenschaftliche Unternehmungen, vor allem die von ihnen gegründeten und herausgegebenen Zeitschriften, Buchreihen und Editionen. Die Briefe beleuchten aber auch Projekte, die unvollendet oder unausgeführt geblieben sind, wie die von Sauer geplante „Entwicklungsgeschichte der Lyrik“, seine Überlegungen zu einem „Grundriss“ der deutschen Literatur in Österreich und das jahrelange Ringen mit den Biographien zu Wieland (Seuffert) bzw. Grillparzer (Sauer). Neben dem wissenschaftlichen Leben und Kommentaren zur disziplinären Entwicklung und zur Persönlichkeit von Fachkollegen musste die Auswahl auch Einblicke in die private Lebensführung, die familiäre und wirtschaftliche Situation berücksichtigen und die Reaktionen der Briefschreiber auf wichtige Ereignisse der politischen Geschichte oder des kulturellen Lebens registrieren.
Für die Druckausgabe wurde zunächst das gesamte, in den Nachlässen vorfindliche Korpus transkribiert. Die Auswahl der etwa 300 Stücke für den Druck erfolgte in erster Linie im Hinblick auf ihre wissenschaftsgeschichtliche Relevanz und die diesbezüglichen Fragestellungen des Forschungsprojektes. Es wurden aber auch solche Stücke aufgenommen, die für den Alltag privater und wissenschaftlicher Lebensführung aufschlussreich sind oder denen eine Brückenfunktion zwischen verschiedenen Teilen der Korrespondenz und dem Kommentar zukommt.
Wortlaut, Orthographie und Interpunktion des edierten Textes folgen den Handschriften. Historisch oder individuell bedingte Schreibgewohnheiten bleiben gewahrt. Die Edition gibt jedoch nur die jeweils letzte Stufe der handschriftlichen Überlieferung eines Korrespondenzstückes wieder. In der Grundschicht getilgter Text wurde dementsprechend nicht mittranskribiert. Schreibvorgänge wie Überschreibungen, Hinzufügungen, Umstellungen ect. werden nicht gekennzeichnet. Zusätze, die nicht von Schreiberhand stammen, wie Vermerke des Empfängers oder des Postzustellers, werden im Apparat dokumentiert, der auch Hinweise zur Überlieferung und Umfang der Korrespondenzstücke enthält. Bei Postkarten werden außerdem der Text der Adresse sowie die Daten der Poststempel aufgeführt (Details s. Editionsprinzipien). Die in die gedruckte Auswahl aufgenommenen Stücke werden außerdem kommentatorisch durch Erläuterungen zu einzelnen Stellen sowie ein kombiniertes Namens- und Werkregister erschlossen.
Parallel zur gedruckten Auswahlausgabe wurde die vorliegende Webplattform erarbeitet, die das Gesamtkorpus des Briefwechsels in faksimilierter und transkribierter Form darbietet. Alle überlieferten Korrespondenzstücke sind per Volltextsuche zugänglich und die einzelnen Transkriptionen mit Faksimiles der Originale verknüpft.
Diese „digitale Edition“ ist weder als umfassende Einzeldarstellung noch als facettenreiche Ergänzung der Druckausgabe zu verstehen. Sie bietet jedoch ansonsten meist nicht zugängliches editorisches Arbeitsmaterial. Sowohl die Reintranskripte der Korrespondenzstücke der Druckausgabe als auch die noch nicht vollständig kollationierten Arbeitstranskripte der übrigen Korrespondenzstücke werden zugänglich gemacht. Außerdem wurden Teile des Textes nach TEI-Standards codiert, um das Editionsprojekt mit den aktuellen Entwicklungen der Digital Humanities zu verbinden.
Aus den Inhalten der Metadateneingabemaske der Projektdatendank sowie aus den Formatvorlagen des Transkriptionsprozesses wurden XML-Codes generiert, die auf diese Art Webservices für Briefeditionen (wie etwa correspSearch) zur Verfügung gestellt und eventuell in späteren Forschungen ergänzt werden können (Details s. Editionsprinzipien). Gleichsam als „Nebenprodukt“ der editorischen Arbeit wurde in Kooperation mit Peter Stadler und Sabine Seiffert dafür die Möglichkeit geschaffen, briefspezifische Metdaten im TEI-Header darzustellen (s.<correspDesc> bzw. Towards a Model for Encoding Correspondence in the TEI: Developing and Implementing <correspDesc>).
Ebenso wurde das Namensregister der Druckausgabe auf der Webplattform zugänglich gemacht - es umfasst nur jene Personen, die in den für die Druckausgabe ausgewählten Briefen erwähnt werden. Eine vollständige datenbank- bzw. codebasierte Suche nach Personen kann deshalb nicht angeboten werden. Die erfassten Namensdatensätze sind allerdings mit der Gemeinsamen Normdatei (GND) verknüpft, wodurch auf personenspezifische Inhalte anderer Quellen (z. B. Wikipedia, Deutsche Biographie, Österreichisches Biographisches Lexikon) zugegriffen werden kann.
Für die Kodierung der Schreib- und Empfangsorte wurden Geonames als Normdatenbasis genutzt. Auch hier bestehen für eventuelle spätere Forschungen praktikable Ansatzpunkte.
Der Versuch, auch das Werkregister der Druckausgabe für die Webplattform nach TEI-Standards zu kodieren (Element <bibl>) und die Relationen zwischen den einzelnen Einträgen nach RDA/FRBR -Terminologie darzustellen, musste aus Zeitgründen aufgegeben werden. Das Werkregister wird in Kürze als pdf zugänglich gemacht werden.
Durch die Aufarbeitung des zur Verfügung gestellten Materials ergeben sich drei unterschiedliche Qualitätsstufen, denen durch ein ampelartiges Farbsystem jeder Brief zugewiesen wird: Eine grüne Markierung (nicht vergeben, Stand: November 2016) nach der Datumsangabe steht für mehrfach kollationierte Transkription und vollständige Codierung der im Brieftext erwähnten Personen, eine gelbe Markierung weist auf mehrfach kollationierte Transkription und unvollständige Codierung, eine rote Markierung auf unvollständige Kollationierung und unvollständige Codierung hin.
Was die Webplattform bei allen vorhandenen Leerstellen bietet, ist eine mehrere tausende Faksimiles und etwa 1200 Transkriptionen umfassende Darstellung des gesamten Briefwechsels zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert, der – zumindest in Bezug auf die Metadaten und die Brieftexte – auch anderen elektronischen Nutzungsmöglichkeiten offensteht. Die Projektziele, die vorwiegend an der Druckausgabe orientiert waren, werden mit der bestehenden Plattform übertroffen.
Die für die Druckausgabe erarbeiteten Stellenkommentare fehlen in der Webplattform. Teile des Kommentars wurden für die Ausarbeitung von Themenlinien genutzt, in denen ausgewählte Inhalte des Briefwechsels zusammengefasst dargestellt werden. Dafür wurde auf der Webplattform eine Zeitleiste entwickelt, die eine exemplarische Übersicht über Ereignisse aus dem Leben der beiden Protagonisten bietet und darüber hinaus ausgewählte Textstellen der Briefe herausgreift, in thematische Zusammenhänge einbettet und die jeweiligen Zitate kurz kommentiert. Die herausgearbeiteten Themenlinien orientierten sich an den Forschungsfragen des Projektantrags und gruppieren sich in drei inhaltliche Blöcke: Intellektuelle Biographie und wissenschaftliches Netzwerk / Editionsprojekte und Forschungsschwerpunkte / Herausgeberschaft von Zeitschriften. Mit der Darstellung in dieser vernetzten Form wird versucht, inhaltliche Aspekte des Briefwechsels für ein breiteres Publikum aufzubereiten.
Im Rahmen der Strategie Digital Humanities der Österreichischen Nationalbibliothek wurde die digitale Edition des Briefwechsels in die nachhaltige Infrastruktur für digitale Editionen an der Österreichischen Nationalbibliothek migriert. Hintergrund ist es, alle an der Österreichischen Nationalbibliothek beheimateten digitalen Editionen auf eine einheitliche technische Infrastruktur zu stellen. Dazu gehört ein für alle digitalen Editionen einheitliches Erscheinungsbild sowie modulartig angelegte Basisfunktionen. Die technische Basis dafür ist eine eigene Instanz der GAMS, einem Fedora basierten Repository. Weitere Details sind unter der technischen Dokumentation nachzulesen.
Es wurde versucht, alle Funktionen der oben genannten, ursprünglichen Webplattform zu erhalten. Einige wenige Funktionen wie Filter nach Geburts- und Sterbejahr der erwähnten Personen wurden nicht übertragen. An den Transkriptionen der Korrespondenzstücke wurden keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen. Lediglich der Abschnitt <correspDes> wurde innerhalb der TEI Header verschoben, um den aktuellen Richtlinien der Text Encoding Initiative (Ausgabe TEI P5 version 4.0.0 vom 13.02.2020) zu entsprechen. Der Link auf die 2020 erschienene Druckausgabe wurde auf der Startseite ergänzt.