Graz 20 VI 94
Lieber freund, Herzlichen Dank für Ihren reichen brief. Sie stehen jetzt mitten im getriebe und so sauge ich in meiner abgeschiedenheit – Sie wissen aus erfahrung, dass das bei einem Grazer keine phrase ist – doppelt gierig an aller nahrung, die Sie mir bieten. Ich danke für die freundliche aufnahme meines Euphorionbriefes. Dass die bibliographie durchschlägt ist mir eine genugtuung. Wenn andere die theoretika lieben, gut, so beharren Sie dabei; und Ihr artikel: littgesch. u. litt.-kritik trifft schon im titel mit meinem urteil überein. Übrigens sei es bei dieser gelegenheit gesagt: ich habe nie erwartet, dass Sie so starker klassicist sind als Ihr programm es aussprach; da Sie hier durch semester 19. jh. lasen, hielt ich Sie für einen anhänger des neuen wenn auch nicht des naturalistischen neuesten. Ich für meine person las 19. jh. nie, z. tl. aus faulheit; denn man müsste sich da alles selbst erarbeiten. Nach meiner – nicht erprobten – meinung liegt ein einschnitt um 1813, der zweite um 1848. Bis in die 50er jj. getraute ich mich, gesch. vorzutragen. Darnach nur kritik einzelner erscheinungen oder von gruppen. Ich habe mich bei Litzmanns buch gefragt: soll man dergleichen tun? Schwer hat er sichs nicht gemacht. Fesselnd für unsere studenten wären solche themata. Dass man den stud. stützpunkte für ein urteil in tageslitt. gebe, halte ich nicht für übel. U. so lange man derlei vor druck bewahrt, gibt man ja auch seinem gelehrtenbewusstsein keinen zu tiefen stich. Immerhin: ich fühle da mich nicht zuhause mit wissenschaftlicher betrachtung und ich mag nicht als philologe über die dinge so reden, wie die alten philosophen und historiker im nebenamt die littgesch. einschlachteten. Endlich gibt für mich den ausschlag: die prüfungsordnung schreibt kenntnisse bis ins 19. jh. vor, u. ich habe für 8 semester genug zu tun mit der zeit von Luther bis Goethe. U. ich denke, dass Schönbach die modernste zeit einmal auf dem katheder behandelt: ich habe seiner neigung dazu sehr vorschub geleistet. Klassicist aus princip bin ich nicht; Scherer war mirs immer zu viel. Von früher zeit her gehe ich mit der romantik, deren poetisches programm auch den naturalismus einschliesst u. überhaupt ja weiter ist als die poetische praxis der romantik oder irgend einer poetischen mode. –
Ihr verleger sandte mir ausser einer entschuldigungskarte noch ein ganzes heft: das ist nobel.
Briefe und „saucen“ zu unterscheiden, so dass jene grösser diese kleiner gedruckt werden, ist ja auch sonst üblich u. da jene die hauptsachen sind, gewiss gerechtfertigt. Für mein ehemaliges programm, die arbeit heraustreten, das material zurücktreten zu lassen, die erklärung auch materiell besser zu lohnen als die abschreiberei, war der umgekehrte weg nötig. Ich finde den häufigen schriftwechsel in der VJSchrift hässlich u. habe darum Ihnen s. z. einheit geraten. Will es der Verleger anders, so tun Sie ihm ja den gefallen. Miscellen petit zu setzen, halte ich für gut; tat es auch selbst zuweilen.
52 bogen zu 16 M. ist viel. Gelingt die einführung trotzdem, desto besser! Bewegliche hefte sagte mir Böhlau auch von vornherein zu; schon vom 2. jahrgang an erklärte er festen preis bei fester bogenzahl für unausweichlich. Hoffentlich bewährt sich Ihr jüngerer beweglicherer verleger geschickter.
Was Sie über Weimar schreiben, ist alles recht nach meinem herzen, bis auf das Burdachsche. Er ist kein angenehmer unterhalter, er ist schroff und mislaunig; er ist schwer zu behandeln, erklärt sich selbst für lästig empfindlich. Ich stehe ihm gar nicht nahe, habe aber trotz heftigen zusammenstosses beim Divan immer vermocht, sachlich über sachen mit ihm zu reden u. ihn stets gerne gehört. Denn eitel gab er sich bis vor 2 jahren, da ich ihn zuletzt sprach, niemals. Für mich gehört er in die rubrik Steinmeyer (trotz vieler verschiedenheiten); der war Ihnen ja auch nie so sympathisch wie mir. Über Minor denken andere kaum anders wie Burdach. Ich habe über seinen beitrag zum 1. heft Euphorion nur schroff ablehnende urteile von hier u. von auswärts gehört ausser von einem, Schönbach wenn mir recht ist. Alle andern verpönten diese hohle anmasslichkeit. Warum Suphan so unhöflich gegen Sie war, verstehe ich nicht; haben Sie denn vordem eine balgerei mit ihm gehabt? Jacoby hätte ich sehr gerne endlich einmal kennen lernen.
Leben Sie wol u. seien Sie herzlichst gegrüsst. Ein verschwiegenes wort eines Ihrer sätze stimmt mich sehr fröhlich; mögen Sie in Ihrer arbeit durch so lautes kindergeschrei bald gestört werden wie ich jetzt. Gute ferien! guten fortgang des Euphorion! besten fortgang der hoffnung!
Meine frau muss noch zu bette liegen. Lothar u. Burkhard umgeben Sie mit spiel und plärren. Wissen Sie etwas von Werner? er schweigt auffällig lang.
Ihr
ergebener
BSeuffert
Graz 20 VI 94
Lieber freund, Herzlichen Dank für Ihren reichen brief. Sie stehen jetzt mitten im getriebe und so sauge ich in meiner abgeschiedenheit – Sie wissen aus erfahrung, dass das bei einem Grazer keine phrase ist – doppelt gierig an aller nahrung, die Sie mir bieten. Ich danke für die freundliche aufnahme meines Euphorionbriefes. Dass die bibliographie durchschlägt ist mir eine genugtuung. Wenn andere die theoretika lieben, gut, so beharren Sie dabei; und Ihr artikel: littgesch. u. litt.-kritik trifft schon im titel mit meinem urteil überein. Übrigens sei es bei dieser gelegenheit gesagt: ich habe nie erwartet, dass Sie so starker klassicist sind als Ihr programm es aussprach; da Sie hier durch semester 19. jh. lasen, hielt ich Sie für einen anhänger des neuen wenn auch nicht des naturalistischen neuesten. Ich für meine person las 19. jh. nie, z. tl. aus faulheit; denn man müsste sich da alles selbst erarbeiten. Nach meiner – nicht erprobten – meinung liegt ein einschnitt um 1813, der zweite um 1848. Bis in die 50er jj. getraute ich mich, gesch. vorzutragen. Darnach nur kritik einzelner erscheinungen oder von gruppen. Ich habe mich bei Litzmanns buch gefragt: soll man dergleichen tun? Schwer hat er sichs nicht gemacht. Fesselnd für unsere studenten wären solche themata. Dass man den stud. stützpunkte für ein urteil in tageslitt. gebe, halte ich nicht für übel. U. so lange man derlei vor druck bewahrt, gibt man ja auch seinem gelehrtenbewusstsein keinen zu tiefen stich. Immerhin: ich fühle da mich nicht zuhause mit wissenschaftlicher betrachtung und ich mag nicht als philologe über die dinge so reden, wie die alten philosophen und historiker im nebenamt die littgesch. einschlachteten. Endlich gibt für mich den ausschlag: die prüfungsordnung schreibt kenntnisse bis ins 19. jh. vor, u. ich habe für 8 semester genug zu tun mit der zeit von Luther bis Goethe. U. ich denke, dass Schönbach die modernste zeit einmal auf dem katheder behandelt: ich habe seiner neigung dazu sehr vorschub geleistet. Klassicist aus princip bin ich nicht; Scherer war mirs immer zu viel. Von früher zeit her gehe ich mit der romantik, deren poetisches programm auch den naturalismus einschliesst u. überhaupt ja weiter ist als die poetische praxis der romantik oder irgend einer poetischen mode. –
Ihr verleger sandte mir ausser einer entschuldigungskarte noch ein ganzes heft: das ist nobel.
Briefe und „saucen“ zu unterscheiden, so dass jene grösser diese kleiner gedruckt werden, ist ja auch sonst üblich u. da jene die hauptsachen sind, gewiss gerechtfertigt. Für mein ehemaliges programm, die arbeit heraustreten, das material zurücktreten zu lassen, die erklärung auch materiell besser zu lohnen als die abschreiberei, war der umgekehrte weg nötig. Ich finde den häufigen schriftwechsel in der VJSchrift hässlich u. habe darum Ihnen s. z. einheit geraten. Will es der Verleger anders, so tun Sie ihm ja den gefallen. Miscellen petit zu setzen, halte ich für gut; tat es auch selbst zuweilen.
52 bogen zu 16 M. ist viel. Gelingt die einführung trotzdem, desto besser! Bewegliche hefte sagte mir Böhlau auch von vornherein zu; schon vom 2. jahrgang an erklärte er festen preis bei fester bogenzahl für unausweichlich. Hoffentlich bewährt sich Ihr jüngerer beweglicherer verleger geschickter.
Was Sie über Weimar schreiben, ist alles recht nach meinem herzen, bis auf das Burdachsche. Er ist kein angenehmer unterhalter, er ist schroff und mislaunig; er ist schwer zu behandeln, erklärt sich selbst für lästig empfindlich. Ich stehe ihm gar nicht nahe, habe aber trotz heftigen zusammenstosses beim Divan immer vermocht, sachlich über sachen mit ihm zu reden u. ihn stets gerne gehört. Denn eitel gab er sich bis vor 2 jahren, da ich ihn zuletzt sprach, niemals. Für mich gehört er in die rubrik Steinmeyer (trotz vieler verschiedenheiten); der war Ihnen ja auch nie so sympathisch wie mir. Über Minor denken andere kaum anders wie Burdach. Ich habe über seinen beitrag zum 1. heft Euphorion nur schroff ablehnende urteile von hier u. von auswärts gehört ausser von einem, Schönbach wenn mir recht ist. Alle andern verpönten diese hohle anmasslichkeit. Warum Suphan so unhöflich gegen Sie war, verstehe ich nicht; haben Sie denn vordem eine balgerei mit ihm gehabt? Jacoby hätte ich sehr gerne endlich einmal kennen lernen.
Leben Sie wol u. seien Sie herzlichst gegrüsst. Ein verschwiegenes wort eines Ihrer sätze stimmt mich sehr fröhlich; mögen Sie in Ihrer arbeit durch so lautes kindergeschrei bald gestört werden wie ich jetzt. Gute ferien! guten fortgang des Euphorion! besten fortgang der hoffnung!
Meine frau muss noch zu bette liegen. Lothar u. Burkhard umgeben Sie mit spiel und plärren. Wissen Sie etwas von Werner? er schweigt auffällig lang.
Ihr
ergebener
BSeuffert
Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 5 Seite(n)
Rohtranskription, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-8706 [Druckausgabe Nr. 146]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8706/methods/sdef:TEI/get
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