Graz 3. V. 01

Lieber freund, Sie haben meine recension freundlicher aufgenommen, als sie verdient. Dass ich gerne zu grösseren arbeiten käme u. dass mich eigentlich nur das producieren freut, ist richtig; ich bin nur auch wieder zu ängstlich etwas hinauszugeben, das nicht philologisch fertig ist und dazu gehört schrecklich viel. Wenn Sie mir so zureden, bekomm ich vielleicht mut, obwol ich nicht so wenig selbsterkenntnis habe, mehr als ein kleines bruchteilchen Ihres lobes anzunehmen.
Sie haben viel hinter sich gebracht und ich danke Ihnen im vorraus für das verheissene. Es ist recht schade, dass Ihnen die freude an den Saeculargedichten immer mehr geschwunden ist, hoffentlich gibt die kritik sie Ihnen wieder. Ich selbst kanns mir gar nicht vorstellen, wie die sammlung auf mich wirken wird. Zur neuherausgabe des G-Sternbergbrfw. wünsche ich glück; das wird sehr nützlich sein. Goethe u. Österreich kann ich mir als einheitliches buch nicht vorstellen (schon wieder!), aber Sie werden das zu machen wissen. Über Minor brauchen Sie sich meines erachtens nicht mehr zu ärgern, als jeder, der nicht sein leibsklave ist, sich immer über das ...... seiner Unart ärgern muss. Ob er nun Faust erklärt oder recensiert, es gibt nur einen, der alles weiss, und gegen den jeder andere ein esel und womöglich ein schlechter kerl ist. Dass die anzeige gegen Sie gerichtet sei oder auch nur nebenher Sie meint, kann ich aus ihr nicht herauslesen. U. Rubensohn gibt sich ja wirklich blössen. Hätte Minor sich rein sachlich gehalten, so wäre es noch übler für ihn; so aber wird doch jeder denkende stutzig durch den ..... ton. Man müsste Wiener reichsrat sein, um den richtigen ausdruck für meine punkte in den mund zu nehmen. Übrigens: je weiter die guten einzelheiten in Minors Faustbuch in meinem gedächtnis zurückrücken, desto weniger fühl ich mich im ganzen dadurch gefördert, es wird mir immer weniger u. reizt nicht einmal mehr meinen widerspruch, was es beim lesen im princip und in vielen anwendungen und verleugnungen des allein seligmachenden princips tat.
Stern las ich nicht. Um alles in der welt! ist es Ihnen denn nicht völlig gleichgültig was dieser salonjude über Ihre mühselige arbeit sagt, die erst zur geltung kommen wird, wenn die personen einmal – freilich nicht bei Nagl-Zeidler – bearbeitet werden? Ich muss bekennen, dass mir das urteil Adolf Sterns, der doch nicht die spur eines forschers an sich hat, kaum ein mitleidiges lächeln über seine urteilslosigkeit abringen könnte, aber gewiss nicht eine krume verdruss. Recht haben Sie: bei Goedeke kommt die arbeit als Ihre arbeit nicht voll zur geltung und das ist schade; als einzelnes buch hätte Sie Ihnen mehr den voll verdienten dank eingetragen. Das ist der fluch der sammelwerke. Wer rechnet es mir an, dass ich die Goethe-ausgabe im wesentlichen eingerichtet habe? mindestens zur hälfte mit Erich Schmidt.

4.V.
Gestern musste ich einer sitzung wegen abbrechen, in der auch Cornus ernennung verlesen wurde. Nach Ihrer beurteilung freue ich mich auf den herrn; er muss hier alles neu gründen, denn sein vorgänger hat den unterricht der lehramtscandidaten ganz vernachlässigt. Meine elaborate in sachen des frauenstudiums u. des naturwissenschaftler-doctors sind Ihrem Collegium zugegangen.
Ich bin sehr neugierig, wie Anzengruber im seminar herauskommt; zunächst lass ich Der einsam und Stahl u. stein u. Gwissenswurm, dann Wissen macht herzweh u. Fleck auf d. ehr behandeln. Will sehen, wie viel zeit dann noch fürs 4. Gebot oder einen roman übrig bleibt.
Ihre beschreibung der Weimarer zustände entspricht leider meinen erwartungen; so kenne ich den gewalthaber. Allerdings hat mich E Schmidt beschwichtigen wollen u. vor ein paar monaten Suphan arbeitsfähiger als seit jahren genannt; aber ich fasste kein vertrauen dazu. Ich fürchte, das wird nie mehr besser. Denn leben kann S. noch lang; wer wird ihn pensionieren? u. wer soll den arg verfahrenen karren wieder herausziehen?
Übrigens hat Suphan mir vorgespiegelt, E Schmidt sei Ihr redactor, dass ich für ihn eintrete, erfahre ich erst durch Sie. Die vorgeschichte Ihres Götzapparates kenne ich nicht, und brauche sie nicht zu kennen. Ich kann da, wo ich als ersatzmann eintrete, nicht revidieren, was früher zwischen herausgeber und redactor vereinbart worden ist. Nur wo ich von anfang an mitspiele, halt ich mich zu den spielregeln verpflichtet. Übrigens sind Sie ja eingearbeitet und befolgen die regeln selbst, ich werde also nur eine art aufsichtsmaschine oder richtiger hilfsmaschine sein und Sie nur da behelligen, wo ich etwas nicht verstehen sollte. Ich habe wirklich die überzeugung, dass wir zwei leicht zusammen arbeiten können. Leid ist mir, dass Ihnen auch an dieser aufgabe die freude genommen ist, dass Sie durch die centralleitung verhindert wurden, das material vollständig als Ihnen möglich wäre zu sammeln und so erschöpfend durchzuarbeiten als Sie vermocht hätten. Ich bin aber sicher, dass Sie alles getan haben, was Sie unter den erschwerenden umständen (und eigentlich sollte die centralleitung alles erleichtern!) tun konnten; u. damit müssen Sie sich eben trösten.
Ihre „Volkshochschule“ in Prag blüht anders als die hiesige. 500 zuhörer! ich gratuliere. Freilich gehört dazu auch Ihre begabung die sache den leuten mundgerecht zu machen und durch gewalt des vortrags sie zu gewinnen. Beides vermag ich nicht. Ich bin an der Volkshochschule nicht beteiligt. Arbeiter- u. mittelstand besucht hier kaum die kurse; pensionisten, professorenfrauen und töchter bilden die mehrzahl.
Ihre beispiele von Geigers berühmter schlamperei sind lustig. Auf dem abgetrennten blatt lege ich einen andern schluss für meine Gottschedrecension bei. Als die blätter fort waren, kam mir in der erinnerung der schluss zu Reichelisch pathetisch vor. Sagt auch Ihnen der ersatz besser zu, so bitt ich ihn überzukleben.
Spitzer sagt mir von seiner correctheitstheorie: darauf bin ich sehr neugierig.
Herzlich grüsst
Ihr sehr ergebener
BSeuffert.

Graz 3. V. 01

Lieber freund, Sie haben meine recension freundlicher aufgenommen, als sie verdient. Dass ich gerne zu grösseren arbeiten käme u. dass mich eigentlich nur das producieren freut, ist richtig; ich bin nur auch wieder zu ängstlich etwas hinauszugeben, das nicht philologisch fertig ist und dazu gehört schrecklich viel. Wenn Sie mir so zureden, bekomm ich vielleicht mut, obwol ich nicht so wenig selbsterkenntnis habe, mehr als ein kleines bruchteilchen Ihres lobes anzunehmen.
Sie haben viel hinter sich gebracht und ich danke Ihnen im vorraus für das verheissene. Es ist recht schade, dass Ihnen die freude an den Saeculargedichten immer mehr geschwunden ist, hoffentlich gibt die kritik sie Ihnen wieder. Ich selbst kanns mir gar nicht vorstellen, wie die sammlung auf mich wirken wird. Zur neuherausgabe des G-Sternbergbrfw. wünsche ich glück; das wird sehr nützlich sein. Goethe u. Österreich kann ich mir als einheitliches buch nicht vorstellen (schon wieder!), aber Sie werden das zu machen wissen. Über Minor brauchen Sie sich meines erachtens nicht mehr zu ärgern, als jeder, der nicht sein leibsklave ist, sich immer über das ...... seiner Unart ärgern muss. Ob er nun Faust erklärt oder recensiert, es gibt nur einen, der alles weiss, und gegen den jeder andere ein esel und womöglich ein schlechter kerl ist. Dass die anzeige gegen Sie gerichtet sei oder auch nur nebenher Sie meint, kann ich aus ihr nicht herauslesen. U. Rubensohn gibt sich ja wirklich blössen. Hätte Minor sich rein sachlich gehalten, so wäre es noch übler für ihn; so aber wird doch jeder denkende stutzig durch den ..... ton. Man müsste Wiener reichsrat sein, um den richtigen ausdruck für meine punkte in den mund zu nehmen. Übrigens: je weiter die guten einzelheiten in Minors Faustbuch in meinem gedächtnis zurückrücken, desto weniger fühl ich mich im ganzen dadurch gefördert, es wird mir immer weniger u. reizt nicht einmal mehr meinen widerspruch, was es beim lesen im princip und in vielen anwendungen und verleugnungen des allein seligmachenden princips tat.
Stern las ich nicht. Um alles in der welt! ist es Ihnen denn nicht völlig gleichgültig was dieser salonjude über Ihre mühselige arbeit sagt, die erst zur geltung kommen wird, wenn die personen einmal – freilich nicht bei Nagl-Zeidler – bearbeitet werden? Ich muss bekennen, dass mir das urteil Adolf Sterns, der doch nicht die spur eines forschers an sich hat, kaum ein mitleidiges lächeln über seine urteilslosigkeit abringen könnte, aber gewiss nicht eine krume verdruss. Recht haben Sie: bei Goedeke kommt die arbeit als Ihre arbeit nicht voll zur geltung und das ist schade; als einzelnes buch hätte Sie Ihnen mehr den voll verdienten dank eingetragen. Das ist der fluch der sammelwerke. Wer rechnet es mir an, dass ich die Goethe-ausgabe im wesentlichen eingerichtet habe? mindestens zur hälfte mit Erich Schmidt.

4.V.
Gestern musste ich einer sitzung wegen abbrechen, in der auch Cornus ernennung verlesen wurde. Nach Ihrer beurteilung freue ich mich auf den herrn; er muss hier alles neu gründen, denn sein vorgänger hat den unterricht der lehramtscandidaten ganz vernachlässigt. Meine elaborate in sachen des frauenstudiums u. des naturwissenschaftler-doctors sind Ihrem Collegium zugegangen.
Ich bin sehr neugierig, wie Anzengruber im seminar herauskommt; zunächst lass ich Der einsam und Stahl u. stein u. Gwissenswurm, dann Wissen macht herzweh u. Fleck auf d. ehr behandeln. Will sehen, wie viel zeit dann noch fürs 4. Gebot oder einen roman übrig bleibt.
Ihre beschreibung der Weimarer zustände entspricht leider meinen erwartungen; so kenne ich den gewalthaber. Allerdings hat mich E Schmidt beschwichtigen wollen u. vor ein paar monaten Suphan arbeitsfähiger als seit jahren genannt; aber ich fasste kein vertrauen dazu. Ich fürchte, das wird nie mehr besser. Denn leben kann S. noch lang; wer wird ihn pensionieren? u. wer soll den arg verfahrenen karren wieder herausziehen?
Übrigens hat Suphan mir vorgespiegelt, E Schmidt sei Ihr redactor, dass ich für ihn eintrete, erfahre ich erst durch Sie. Die vorgeschichte Ihres Götzapparates kenne ich nicht, und brauche sie nicht zu kennen. Ich kann da, wo ich als ersatzmann eintrete, nicht revidieren, was früher zwischen herausgeber und redactor vereinbart worden ist. Nur wo ich von anfang an mitspiele, halt ich mich zu den spielregeln verpflichtet. Übrigens sind Sie ja eingearbeitet und befolgen die regeln selbst, ich werde also nur eine art aufsichtsmaschine oder richtiger hilfsmaschine sein und Sie nur da behelligen, wo ich etwas nicht verstehen sollte. Ich habe wirklich die überzeugung, dass wir zwei leicht zusammen arbeiten können. Leid ist mir, dass Ihnen auch an dieser aufgabe die freude genommen ist, dass Sie durch die centralleitung verhindert wurden, das material vollständig als Ihnen möglich wäre zu sammeln und so erschöpfend durchzuarbeiten als Sie vermocht hätten. Ich bin aber sicher, dass Sie alles getan haben, was Sie unter den erschwerenden umständen (und eigentlich sollte die centralleitung alles erleichtern!) tun konnten; u. damit müssen Sie sich eben trösten.
Ihre „Volkshochschule“ in Prag blüht anders als die hiesige. 500 zuhörer! ich gratuliere. Freilich gehört dazu auch Ihre begabung die sache den leuten mundgerecht zu machen und durch gewalt des vortrags sie zu gewinnen. Beides vermag ich nicht. Ich bin an der Volkshochschule nicht beteiligt. Arbeiter- u. mittelstand besucht hier kaum die kurse; pensionisten, professorenfrauen und töchter bilden die mehrzahl.
Ihre beispiele von Geigers berühmter schlamperei sind lustig. Auf dem abgetrennten blatt lege ich einen andern schluss für meine Gottschedrecension bei. Als die blätter fort waren, kam mir in der erinnerung der schluss zu Reichelisch pathetisch vor. Sagt auch Ihnen der ersatz besser zu, so bitt ich ihn überzukleben.
Spitzer sagt mir von seiner correctheitstheorie: darauf bin ich sehr neugierig.
Herzlich grüsst
Ihr sehr ergebener
BSeuffert.

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 5 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-8996 [Druckausgabe Nr. 197]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8996/methods/sdef:TEI/get

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Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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