Prag 30/8 11.

Lieber Freund! Ich danke Ihnen für den Freundesdienst, mich vom [Hi]nscheiden Schönbachs verständigt zu haben; auch die Wittwe hat mir telegraphiert. Leider aber weiss ich nicht, wann das Begräbnis ist, sonst wär es mir vielleicht möglich gewesen hinzufahren, obwohl gerade die Komplikation ist, dass ich, der ich seit Mitte Juli hier in Wien gearbeitet habe, jeden Tag meine Frau erwarte, um mit ihr in die Ferien zu gehen, ich also nicht ganz Herr meiner [En]tschlüsse und meiner Zeit bin. Ich hätte doch nach seiner Frische im vorigen Jahr einen so raschen Ausgang nicht vermutet, obgleich die Fülle seiner Projekte etwas beängstigend auf mich niederprasselte. Sie verlieren viel an ihm; ich noch mehr, weil ich mich, bes. in Österreich ganz isoliert fühle. Er war mir ein Mittel- und Ankerpunkt. Kann ich Ihnen oder der Witwe bei de[r] Ordnung des Nachlasses irgendwie behilflich sein, so bitte ich über mich zu verfügen; ich könnte auch im September einige Zeit in Graz zubringen, wenn ich dienlich sein könnte. Nachricht erreichte mich bis 4. oder 5. September am besten unter der Adresse: Wien I, Neues Rathaus, Stadtbibliothek (weil ich nicht weiss, an welchem Tag ich aus meiner hiesigen Junggesellenwohnung zu meiner Frau ins Hotel ziehen muss); später am besten nach Prag, weil ich noch nicht weiss, wohin wir gehen.
– Die Prager Besetzungsfrage löst sich nun wol von selbst. Wir haben 1) Zwierzina 2) Jellinek u. Lessiak 3) Schatz vorgeschlagen. Zwierzina kommt nun wol nach Graz, Jellinek wird wol Seemüllers Nachfolger, da S. um seine Pensionierung umge[no]mmen ist; Lessiak wird nach Prag kommen u. Schatz nach Innsbruck. Vielleicht bedauert es Kraus jetzt nach Bonn gegangen zu sein; eine Rückberufg. ist aber wol kaum möglich, da er in Bonn 20.000 M. bekommt!! Für mich bedeutet Kraus’ Weggang – jetzt darf ich es ja eingestehen – geradezu eine Erlösung; sein ganzes Dichten & Trachten, bes. in der letzten Zeit, gieng n[ur] dahin mich zu ärgern u. zu kränken; mühsam hab ich einen äusseren Verkehr aufrecht erhalten. Jeder andre, selbst Jellinek, wird für mich besser sein. Lessiak ist ein ruhiger anständiger Mensch, mit dem ich gut auszukommen hoffe.
Die letzten 6 Wochen waren ein reines Fegefeuer; die Hitze war unerträglich. Trotzdem bin ich froh, das grosse Opfer gebracht zu haben, weil ich zusammen mit meinem vortrefflichen Leipzige[r M]itarbeiter die sehr schwierige Ordnung der Papiere bedeutend gefördert und ausserdem einen Band corrigiert habe. Ich hoffe bis zum Frühjahr 8-9 Bde abstossen zu können u. dadurch mit meinem Kontrakt àjour zu kommen. Man quält mich nemlich im Rathaus bis aufs Blut. Was für mich ein Glück zu sein schien, ist mir zur Tortur geworden.
Sollte ich einen oder mehrere Ihrer letzten Briefe nicht beantwortet haben, so bitte ich um Entschuldigung; meine ganze Korrespondenz ist in Verwirrung geraten. Euphorionbogen folgen demnächst. Bleiben Sie mir jetzt der einzige Grazer Freund! Herzlichst
Ihr AS.

Prag 30/8 11.

Lieber Freund! Ich danke Ihnen für den Freundesdienst, mich vom [Hi]nscheiden Schönbachs verständigt zu haben; auch die Wittwe hat mir telegraphiert. Leider aber weiss ich nicht, wann das Begräbnis ist, sonst wär es mir vielleicht möglich gewesen hinzufahren, obwohl gerade die Komplikation ist, dass ich, der ich seit Mitte Juli hier in Wien gearbeitet habe, jeden Tag meine Frau erwarte, um mit ihr in die Ferien zu gehen, ich also nicht ganz Herr meiner [En]tschlüsse und meiner Zeit bin. Ich hätte doch nach seiner Frische im vorigen Jahr einen so raschen Ausgang nicht vermutet, obgleich die Fülle seiner Projekte etwas beängstigend auf mich niederprasselte. Sie verlieren viel an ihm; ich noch mehr, weil ich mich, bes. in Österreich ganz isoliert fühle. Er war mir ein Mittel- und Ankerpunkt. Kann ich Ihnen oder der Witwe bei de[r] Ordnung des Nachlasses irgendwie behilflich sein, so bitte ich über mich zu verfügen; ich könnte auch im September einige Zeit in Graz zubringen, wenn ich dienlich sein könnte. Nachricht erreichte mich bis 4. oder 5. September am besten unter der Adresse: Wien I, Neues Rathaus, Stadtbibliothek (weil ich nicht weiss, an welchem Tag ich aus meiner hiesigen Junggesellenwohnung zu meiner Frau ins Hotel ziehen muss); später am besten nach Prag, weil ich noch nicht weiss, wohin wir gehen.
– Die Prager Besetzungsfrage löst sich nun wol von selbst. Wir haben 1) Zwierzina 2) Jellinek u. Lessiak 3) Schatz vorgeschlagen. Zwierzina kommt nun wol nach Graz, Jellinek wird wol Seemüllers Nachfolger, da S. um seine Pensionierung umge[no]mmen ist; Lessiak wird nach Prag kommen u. Schatz nach Innsbruck. Vielleicht bedauert es Kraus jetzt nach Bonn gegangen zu sein; eine Rückberufg. ist aber wol kaum möglich, da er in Bonn 20.000 M. bekommt!! Für mich bedeutet Kraus’ Weggang – jetzt darf ich es ja eingestehen – geradezu eine Erlösung; sein ganzes Dichten & Trachten, bes. in der letzten Zeit, gieng n[ur] dahin mich zu ärgern u. zu kränken; mühsam hab ich einen äusseren Verkehr aufrecht erhalten. Jeder andre, selbst Jellinek, wird für mich besser sein. Lessiak ist ein ruhiger anständiger Mensch, mit dem ich gut auszukommen hoffe.
Die letzten 6 Wochen waren ein reines Fegefeuer; die Hitze war unerträglich. Trotzdem bin ich froh, das grosse Opfer gebracht zu haben, weil ich zusammen mit meinem vortrefflichen Leipzige[r M]itarbeiter die sehr schwierige Ordnung der Papiere bedeutend gefördert und ausserdem einen Band corrigiert habe. Ich hoffe bis zum Frühjahr 8-9 Bde abstossen zu können u. dadurch mit meinem Kontrakt àjour zu kommen. Man quält mich nemlich im Rathaus bis aufs Blut. Was für mich ein Glück zu sein schien, ist mir zur Tortur geworden.
Sollte ich einen oder mehrere Ihrer letzten Briefe nicht beantwortet haben, so bitte ich um Entschuldigung; meine ganze Korrespondenz ist in Verwirrung geraten. Euphorionbogen folgen demnächst. Bleiben Sie mir jetzt der einzige Grazer Freund! Herzlichst
Ihr AS.

Briefdaten

Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 423/1-578
Umfang: 4 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9307 [Druckausgabe Nr. 264]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9307/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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