Prag II Stefansg. 3.
9.1.88.
Lieber Freund! Ich bin Ihnen für Ihre vertraulichen Mittheilungen sehr dankbar und bedauere nur, daß Sie mit Sch. sich nicht besser vertragen. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt.
Bevor ich auf die Sache eingehe, gestatten Sie mir zwei Dinge vorauszuschicken. Erstens. Soweit ich mich entsinne, habe ich in Graz nur ein einziges Mal beim Rigorosum geprüft; der Candidat war ein Freund Schönbachs, ein Geistlicher aus Seitenstetten, ein älterer Herr und tüchtiger Schulmann, der allerdings in den allerneuesten Forschungen nicht bewandert war, aber sich in der Nationallit. vorzüglich auskannte. Möglicherweise habe ich ganz im Anfang jemanden geprüft, der mir fremd war. Darüber weiß ich nichts mehr. Von Hauffen habe ich noch die Diss. begutachtet; s. mündliche Prüfung fiel in das Interregnum. Ich erinnere mich noch, daß in den Reden bei der Abschiedskneipe scherzhaft hervorgehoben wurde: vielleicht hänge meine allgemeine große Beliebtheit davon ab, daß ich keinen geworfen habe, weil ich keinen geprüft hatte. Sie sehen also: von einer Tradition aus meiner Zeit kann gar nicht die Rede sein. Ich habe nichts eingeführt, aber auch nichts abschaffen können. Davon daß ein engeres Gebiet bezeichnet werde oder wurde, ist mir nichts bekannt.
Zweitens. Es ist aber niemand von Graz her mein Schüler im engeren Sin[n]e, wie denn durch meine raschen Übersetzungen überhaupt kein Germanist zusammenhängend 3 oder 4 Jahre um mich gewesen u. bei mir gelernt hat, es wäre denn ein oder der andere Lemberger. Die zählen aber gar nicht mit. Am wenigsten nun kann ich Herrn Fellner meinen Schüler im landläufigen Sinne des Wortes nennen. Er war vielleicht längere Zeit bei mir inscribirt. Ich erinnere mich aber nur, daß er im letzten Semester wirklich gehört [ha]t. Einmal war er im Seminar u. da kamen wir über Schillers Maltheser fast auseinander, wie unser Verhältnis überhaupt anfangs mehr ein gegensätzliches war. Erst als ich den glücklichen Griff mit dem Diss.-Thema that, faßte er Vertrauen zu mir, unsere Bzhg. erstarkten erst bei meinem Weggange u. wurden erst seitdem er im vorigen Winter 14 Tage bei mir war – buchstäblich Tag & Nacht bei der Arbeit – innigere. Ich habe ihn recht liebgewonnen als Arbeiter wie als Menschen, er hängt dankbar an mir u. wenn aus dem überreichen Materiale s. Immermann halbwegs etwas geworden ist, so darf ich mir das allerdings zum Verdienste anrechnen. – Aber Sie sehen aus dieser Darlegung meiner Bzhgen zu ihm: an den Lücken in seinem Wissen, an seinem ganzen Entwicklungsgange bin ich vollständig unschuldig.
Was Sie mir nun schreiben, das habe ich ihm mündlich & schriftlich oft und oft gesagt; [e]r hat auch, so weit es neben einer anstrengenden Detailarbeit, neben dem Drucke eines 30 Bogen starken, z. Thl petit gedruckten Buches angieng, in früheren Epochen gearbeitet. Über das Ausmaß s. Wissens bin ich gleichfalls nicht orientirt u. müßte bei der Prüfung ganz so vorgehen wie Sie. Vor Ihnen scheint er aber nun freilich eine Höllenangst zu haben, das schließe ich aus einzelnen Äußerungen von ihm selbst & sowie aus Schönbachs Frage zu Ostern, warum er denn nicht das Rigorosum in Prag ablege. Wenn Schönbach ihn jetzt härter anließe als er sonst geth[an] hätte, thäte es mir um Fellners gegenwärtigen Ernst & Fleiß leid. Was an mir liegt, will ich nicht fehlen lassen: ihm noch einmal energisch zur Arbeit rathen, ihm ins Gewissen reden. Ich kann dies ohne daß es ihm auffällt getrost thun, danke Ihnen auch für alle Mittheilungen herzlichst. – Daß es mit Conta nicht vorwärts geht, ist schade. Manchmal bedürfte er mehr eines Seelenarztes u Freundes denn eines Lehrers. Obgleich er mir zu schreiben versprach, hat er es doch nicht gethan. Seit meiner Abreise weiß ich nichts mehr von ihm.
Wie macht sich der junge Zeidler?
Wegen Hölderlin schreibe ich in einigen Tagen. So weit meine Erinnrung reicht, sind die Gedichte unbekannt. – Ich nehme in den Seminarübungen des Sommers Heine nach Ihren Neudrucken. Herzlichst Ihr treu ergebener
AS.
Prag II Stefansg. 3.
9.1.88.
Lieber Freund! Ich bin Ihnen für Ihre vertraulichen Mittheilungen sehr dankbar und bedauere nur, daß Sie mit Sch. sich nicht besser vertragen. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt.
Bevor ich auf die Sache eingehe, gestatten Sie mir zwei Dinge vorauszuschicken. Erstens. Soweit ich mich entsinne, habe ich in Graz nur ein einziges Mal beim Rigorosum geprüft; der Candidat war ein Freund Schönbachs, ein Geistlicher aus Seitenstetten, ein älterer Herr und tüchtiger Schulmann, der allerdings in den allerneuesten Forschungen nicht bewandert war, aber sich in der Nationallit. vorzüglich auskannte. Möglicherweise habe ich ganz im Anfang jemanden geprüft, der mir fremd war. Darüber weiß ich nichts mehr. Von Hauffen habe ich noch die Diss. begutachtet; s. mündliche Prüfung fiel in das Interregnum. Ich erinnere mich noch, daß in den Reden bei der Abschiedskneipe scherzhaft hervorgehoben wurde: vielleicht hänge meine allgemeine große Beliebtheit davon ab, daß ich keinen geworfen habe, weil ich keinen geprüft hatte. Sie sehen also: von einer Tradition aus meiner Zeit kann gar nicht die Rede sein. Ich habe nichts eingeführt, aber auch nichts abschaffen können. Davon daß ein engeres Gebiet bezeichnet werde oder wurde, ist mir nichts bekannt.
Zweitens. Es ist aber niemand von Graz her mein Schüler im engeren Sin[n]e, wie denn durch meine raschen Übersetzungen überhaupt kein Germanist zusammenhängend 3 oder 4 Jahre um mich gewesen u. bei mir gelernt hat, es wäre denn ein oder der andere Lemberger. Die zählen aber gar nicht mit. Am wenigsten nun kann ich Herrn Fellner meinen Schüler im landläufigen Sinne des Wortes nennen. Er war vielleicht längere Zeit bei mir inscribirt. Ich erinnere mich aber nur, daß er im letzten Semester wirklich gehört [ha]t. Einmal war er im Seminar u. da kamen wir über Schillers Maltheser fast auseinander, wie unser Verhältnis überhaupt anfangs mehr ein gegensätzliches war. Erst als ich den glücklichen Griff mit dem Diss.-Thema that, faßte er Vertrauen zu mir, unsere Bzhg. erstarkten erst bei meinem Weggange u. wurden erst seitdem er im vorigen Winter 14 Tage bei mir war – buchstäblich Tag & Nacht bei der Arbeit – innigere. Ich habe ihn recht liebgewonnen als Arbeiter wie als Menschen, er hängt dankbar an mir u. wenn aus dem überreichen Materiale s. Immermann halbwegs etwas geworden ist, so darf ich mir das allerdings zum Verdienste anrechnen. – Aber Sie sehen aus dieser Darlegung meiner Bzhgen zu ihm: an den Lücken in seinem Wissen, an seinem ganzen Entwicklungsgange bin ich vollständig unschuldig.
Was Sie mir nun schreiben, das habe ich ihm mündlich & schriftlich oft und oft gesagt; [e]r hat auch, so weit es neben einer anstrengenden Detailarbeit, neben dem Drucke eines 30 Bogen starken, z. Thl petit gedruckten Buches angieng, in früheren Epochen gearbeitet. Über das Ausmaß s. Wissens bin ich gleichfalls nicht orientirt u. müßte bei der Prüfung ganz so vorgehen wie Sie. Vor Ihnen scheint er aber nun freilich eine Höllenangst zu haben, das schließe ich aus einzelnen Äußerungen von ihm selbst & sowie aus Schönbachs Frage zu Ostern, warum er denn nicht das Rigorosum in Prag ablege. Wenn Schönbach ihn jetzt härter anließe als er sonst geth[an] hätte, thäte es mir um Fellners gegenwärtigen Ernst & Fleiß leid. Was an mir liegt, will ich nicht fehlen lassen: ihm noch einmal energisch zur Arbeit rathen, ihm ins Gewissen reden. Ich kann dies ohne daß es ihm auffällt getrost thun, danke Ihnen auch für alle Mittheilungen herzlichst. – Daß es mit Conta nicht vorwärts geht, ist schade. Manchmal bedürfte er mehr eines Seelenarztes u Freundes denn eines Lehrers. Obgleich er mir zu schreiben versprach, hat er es doch nicht gethan. Seit meiner Abreise weiß ich nichts mehr von ihm.
Wie macht sich der junge Zeidler?
Wegen Hölderlin schreibe ich in einigen Tagen. So weit meine Erinnrung reicht, sind die Gedichte unbekannt. – Ich nehme in den Seminarübungen des Sommers Heine nach Ihren Neudrucken. Herzlichst Ihr treu ergebener
AS.
Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 422/1-110
Umfang: 4 Seite(n)
Rohtranskription, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-8403. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8403/methods/sdef:TEI/get
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