Graz 6 III 99 Harrachg. 1.

Lieber freund, Ihren freundschaftlichen brief hätte ich gleich beantworten sollen. Mein bruder aus München war hier, zum ersten male, und so blieb Wertherkorrektur liegen, die reichlich u. schnell zu erledigen, ich während der ferien mich verpflichtet habe. Und dieser Werther hat mich auch seither schon schweigsam gemacht. Er ist eine aufreibende u. unerquickliche arbeit. Aus den massen von lesarten, die für die beurteilung der zahlreichen drucke gesammelt werden mussten, die auszulesen, welche druckenswert sind, war neue plage. Jetzt ist das mscpt. des apparates fertig bis auf die hälfte der druckbeschreibungen; ich fürchte es gibt 7-8 bogen u. wird also noch eine schwere korrektur während des sommers. Wenn ich nur während des ferienrestes wenigstens noch das mscpt. fertig bringe! –
Dass Ihr haus auch von der influenza ergriffen wurde, bedauren wir herzlich. Auch bei uns war reihum alles krank, nur der vater, der kleinste u. die köchin konnten sich ausser bett halten. Meine frau ist immer noch sehr schwach u. kam nur wenig ins freie. Eine schwere erholung!
Die wahl des neuen collegen muss Ihnen freilich sorge machen. Mir wäre angst u. bang in der gleichen lage, zumal ich mit Schönbach noch besser zusammengespielt zu sein glaube als Sie mit Kelle. Schönbach erhofft, dass er vorgeschlagen werde. U. ich hoffe, dass er hier bleibt. Ich glaube, ich habe früher als ich an diese Frage rührte mich misverständlich ausgedrückt: aus Ihrem briefe klingt es, als ob ich davon nichts hören wollte. Ich aber meinte es umgekehrt: ich will Sie nicht zum sprechen darüber herausfordern, wenn Sie nicht sprechen wollen. Ich höre gerne davon und will nur kein unerwünschter berater und horcher sein. Ich dächte doch, dass Seemüller von dem jesuitischen Wackernell, der eine rolle, besonders in prüfungssachen u. bei anstellungen, spielen soll, gerne los kommt und das zusammenarbeiten mit Ihnen höher schätzt als die Prager stadtfatalitäten. Freilich, wenn er nicht geht, wird es schwierig. Steinmeyer dürften Sie nicht bekommen. Roediger und Henning würde ich an Ihrer stelle nicht wollen. Und auch Richard M.M. hat meine gute meinung verloren durch seine unüberlegte vielschreiberei, obwohl ich ihm, als dem einzigen der mir ein freundlich zustimmendes wort zu der mühsamen novellenstudie sagte, dankbar sein müsste. Heinzel soll an stelle Detters, der schon um seiner allseits gerühmten sprech- u. lehrgabe willen eine erlösung aus der Schweiz verdiente, Jellinek vorgeschlagen haben; ob wirklich nur der universität wegen? oder hat er mehr charakter als Kraus? denn so von aussen her würde ja Kraus der erfolgreichere sein. Ich persönlich ziehe allerdings die geistreiche sprunghaftigkeit des ungeordneten Singer dem Krausischen mechanikerbetrieb vor. Ich denke nicht so schlecht von der Wiener schule wie Burdach, aber auch über diesen viel besser als jene. Und wenn Sie mir Schönbach doch abspenstig machen sollten, so würde ich einen schweren kampf kämpfen: ich müsste meine entschiedene hochschätzung Burdachs gegen seine, wie man sagt, unüberwindliche unverträglichkeit abwägen u. überlegen, was sachlich mehr frommt: zwei sich zankende Germanisten, von denen einer hervorragend ist, oder zwei mittelmässige, die zusammen arbeiten.
Ich habe alle diese vertraulichkeiten nur niedergeschrieben, Ihnen zu beweisen, dass ich an Ihrer sorge teil nehme. Gewiss nicht, meine meinung aufzudrängen. Es ist ja auch alles rein subjektiv.
Dass Sie nun noch dazu das decanat führen müssen, ist lästig.

Von dem verlegerwechsel der DLD wusste ich nichts; mög er der sammlung gut bekommen. Da die Brauneschen neudrucke fast nur mehr reformationslitteratur bringen, tun Sie gut, ins 17. zurückzugreifen.
Ich hoffe doch, dass Fromme den Euphorion hält. Die zahl des Weim. jahrbs. u. der VJS darf Sie nicht schrecken. Hätte ich nicht beim 5.bd. die redaction gekündigt, u. noch mehr: hätte Böhlau nicht seinen verlag völlig aktiv verkaufen wollen, so wäre die VJS. gewiss fortgesetzt worden. Ich schreibe vielleicht etwas über die Wertherüberlieferung, rein philologisch, aber allgemein: ich möchte an dieser modernen überlieferung exemplificieren, wie vorsichtig mittelalterl. Überlieferung eingeschätzt werden soll. Ich glaube, das ist nichts für den Euphor., zumal Sie so viel u. schöneres haben. Ich werde es vielleicht Schröder anbieten, falls ichs überhaupt schreibe. Denn eigentlich bin ich alles überdrüssig was mit Werther zusammenhangt, u. möchte ans recensieren für Sie, den Anz. u. die DLZ.
Kühnemanns ernennung hielte auch ich für einen fehlgriff. Ich verstehe Schröder nicht: er soll G vorgeschlagen haben!!
Das neue heft Euphorion enthält sehr viel gutes. Rubensohn ist sehr lehrreich, obwol ich mich mit seiner verfitzten (so sagt Schröder glaub ich in dem fall) darlegungsweise noch immer nicht befreunde. Batka macht einem Scheel historisch bequemer, viel neues kommt meine ich nicht heraus; aber fürs colleg dankenswert. Auch die rec. sind reichhaltig, bes. Drescher u. Hampe. Auch Leitzmann ist ergiebig, wenn auch in der auffassung eng. Über Busse hätte ich gerne gleich das ganze gelesen, es fehlen aber gerade S.151-154. Zu Falke hatt ich noch nicht zeit. Sie können mit dem hefte zufrieden sein. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir es so zeitig zugehen liessen und bitte mich auch ferner zu bedenken.
Mit den herzlichsten grüssen u. wünschen für Sie u. Ihre frau treu
Ihr
sehr ergebener
BSeuffert

Gehen Sie wieder nach St. Gilgen?
Ist man denn an einem orte des Wolfgang-Sees hart am oder besser im walde? St. Wolfgang wäre mir zu sonnig, ich brauche waldesschatten. Und der frau u. der kinder wegen ebene wege darin. Dafür war Goisern sehr gut, aber die verpflegung liess zu wünschen übrig.

Graz 6 III 99 Harrachg. 1.

Lieber freund, Ihren freundschaftlichen brief hätte ich gleich beantworten sollen. Mein bruder aus München war hier, zum ersten male, und so blieb Wertherkorrektur liegen, die reichlich u. schnell zu erledigen, ich während der ferien mich verpflichtet habe. Und dieser Werther hat mich auch seither schon schweigsam gemacht. Er ist eine aufreibende u. unerquickliche arbeit. Aus den massen von lesarten, die für die beurteilung der zahlreichen drucke gesammelt werden mussten, die auszulesen, welche druckenswert sind, war neue plage. Jetzt ist das mscpt. des apparates fertig bis auf die hälfte der druckbeschreibungen; ich fürchte es gibt 7-8 bogen u. wird also noch eine schwere korrektur während des sommers. Wenn ich nur während des ferienrestes wenigstens noch das mscpt. fertig bringe! –
Dass Ihr haus auch von der influenza ergriffen wurde, bedauren wir herzlich. Auch bei uns war reihum alles krank, nur der vater, der kleinste u. die köchin konnten sich ausser bett halten. Meine frau ist immer noch sehr schwach u. kam nur wenig ins freie. Eine schwere erholung!
Die wahl des neuen collegen muss Ihnen freilich sorge machen. Mir wäre angst u. bang in der gleichen lage, zumal ich mit Schönbach noch besser zusammengespielt zu sein glaube als Sie mit Kelle. Schönbach erhofft, dass er vorgeschlagen werde. U. ich hoffe, dass er hier bleibt. Ich glaube, ich habe früher als ich an diese Frage rührte mich misverständlich ausgedrückt: aus Ihrem briefe klingt es, als ob ich davon nichts hören wollte. Ich aber meinte es umgekehrt: ich will Sie nicht zum sprechen darüber herausfordern, wenn Sie nicht sprechen wollen. Ich höre gerne davon und will nur kein unerwünschter berater und horcher sein. Ich dächte doch, dass Seemüller von dem jesuitischen Wackernell, der eine rolle, besonders in prüfungssachen u. bei anstellungen, spielen soll, gerne los kommt und das zusammenarbeiten mit Ihnen höher schätzt als die Prager stadtfatalitäten. Freilich, wenn er nicht geht, wird es schwierig. Steinmeyer dürften Sie nicht bekommen. Roediger und Henning würde ich an Ihrer stelle nicht wollen. Und auch Richard M.M. hat meine gute meinung verloren durch seine unüberlegte vielschreiberei, obwohl ich ihm, als dem einzigen der mir ein freundlich zustimmendes wort zu der mühsamen novellenstudie sagte, dankbar sein müsste. Heinzel soll an stelle Detters, der schon um seiner allseits gerühmten sprech- u. lehrgabe willen eine erlösung aus der Schweiz verdiente, Jellinek vorgeschlagen haben; ob wirklich nur der universität wegen? oder hat er mehr charakter als Kraus? denn so von aussen her würde ja Kraus der erfolgreichere sein. Ich persönlich ziehe allerdings die geistreiche sprunghaftigkeit des ungeordneten Singer dem Krausischen mechanikerbetrieb vor. Ich denke nicht so schlecht von der Wiener schule wie Burdach, aber auch über diesen viel besser als jene. Und wenn Sie mir Schönbach doch abspenstig machen sollten, so würde ich einen schweren kampf kämpfen: ich müsste meine entschiedene hochschätzung Burdachs gegen seine, wie man sagt, unüberwindliche unverträglichkeit abwägen u. überlegen, was sachlich mehr frommt: zwei sich zankende Germanisten, von denen einer hervorragend ist, oder zwei mittelmässige, die zusammen arbeiten.
Ich habe alle diese vertraulichkeiten nur niedergeschrieben, Ihnen zu beweisen, dass ich an Ihrer sorge teil nehme. Gewiss nicht, meine meinung aufzudrängen. Es ist ja auch alles rein subjektiv.
Dass Sie nun noch dazu das decanat führen müssen, ist lästig.

Von dem verlegerwechsel der DLD wusste ich nichts; mög er der sammlung gut bekommen. Da die Brauneschen neudrucke fast nur mehr reformationslitteratur bringen, tun Sie gut, ins 17. zurückzugreifen.
Ich hoffe doch, dass Fromme den Euphorion hält. Die zahl des Weim. jahrbs. u. der VJS darf Sie nicht schrecken. Hätte ich nicht beim 5.bd. die redaction gekündigt, u. noch mehr: hätte Böhlau nicht seinen verlag völlig aktiv verkaufen wollen, so wäre die VJS. gewiss fortgesetzt worden. Ich schreibe vielleicht etwas über die Wertherüberlieferung, rein philologisch, aber allgemein: ich möchte an dieser modernen überlieferung exemplificieren, wie vorsichtig mittelalterl. Überlieferung eingeschätzt werden soll. Ich glaube, das ist nichts für den Euphor., zumal Sie so viel u. schöneres haben. Ich werde es vielleicht Schröder anbieten, falls ichs überhaupt schreibe. Denn eigentlich bin ich alles überdrüssig was mit Werther zusammenhangt, u. möchte ans recensieren für Sie, den Anz. u. die DLZ.
Kühnemanns ernennung hielte auch ich für einen fehlgriff. Ich verstehe Schröder nicht: er soll G vorgeschlagen haben!!
Das neue heft Euphorion enthält sehr viel gutes. Rubensohn ist sehr lehrreich, obwol ich mich mit seiner verfitzten (so sagt Schröder glaub ich in dem fall) darlegungsweise noch immer nicht befreunde. Batka macht einem Scheel historisch bequemer, viel neues kommt meine ich nicht heraus; aber fürs colleg dankenswert. Auch die rec. sind reichhaltig, bes. Drescher u. Hampe. Auch Leitzmann ist ergiebig, wenn auch in der auffassung eng. Über Busse hätte ich gerne gleich das ganze gelesen, es fehlen aber gerade S.151-154. Zu Falke hatt ich noch nicht zeit. Sie können mit dem hefte zufrieden sein. Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir es so zeitig zugehen liessen und bitte mich auch ferner zu bedenken.
Mit den herzlichsten grüssen u. wünschen für Sie u. Ihre frau treu
Ihr
sehr ergebener
BSeuffert

Gehen Sie wieder nach St. Gilgen?
Ist man denn an einem orte des Wolfgang-Sees hart am oder besser im walde? St. Wolfgang wäre mir zu sonnig, ich brauche waldesschatten. Und der frau u. der kinder wegen ebene wege darin. Dafür war Goisern sehr gut, aber die verpflegung liess zu wünschen übrig.

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 4 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-8912 [Druckausgabe Nr. 175]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8912/methods/sdef:TEI/get

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Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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