Prag 11/11 01
Smichow 586

Lieber Freund! Aus Ihrem lieben Brief möcht ich 2 Punkte sogleich beantworten. – Fresenius ist dauernd nach Berlin übergesiedelt (W., Achenbachstrasse 7/8, Gartenhaus parterre). Die schmähliche Art & Weise, mit der Suphan ihn entlassen, kennen Sie. Auch dass man ihm alle Papiere abgenommen [u]. alles was man nicht sogleich verstand, vernichtete (das einzig Brauchbare was im Goethe-Archiv geleistet worden war), werden Sie wissen. Inwieweit Sie über seine Verlobungsgeschichte orientiert sind, weiss ich nicht. Die Braut, eine ältere Dame mit erwachsenen Töchtern, wurde wahnsinnig u. ist im Irrenhaus. Er betreut die Töchter [, w]ohnt aber (aus Anstandsrücksichten, wie es scheint) nicht bei u. mit Ihnen, sondern legt täglich den weiten Weg zu ihrer Wohnung mehrere Male zurück, um alle Mahlzeiten gemeinsam mit ihnen einzunehmen. Schlösser traf ihn im Sommer, wie er grade auf der Suche nach einer Gardedame war, um mit den Töchtern gemeinsam aufs Land gehen zu können. Ich vermuthe, dass er unter diesen Umständen nichts arbeitet. Auf die Zusendung meiner Sternbergrede gab er mir keine Antwort.
Über mein Verhältnis zu Glossy befinden Sie sich doch in einem Grundirrthum. Es verbinden mich mit ihm 22 Jahre der innigsten Kameradschaft und Freundschaft und ich darf wohl sagen, dass er mit der liebste Mensch auf der Welt ist. Alles was vom Österreicher u. vom Wiener in mir ist, sympathisiert mit diesem goldensten Gemüth, das ich kenne. Freilich kenne ich auch seine Schwächen viel besser als jeder andre; aber auch seine grossen Vorzüge, seine reichen Kenntnisse, seine lebendige Anschauung vom Gesamtleben Altwiens & Altösterreichs, wie sie ausser ihm gegenwärtig Niemand besitzt. Haben Sie eine seiner grossen Ausstellungen – seine eigentlichen Leistungen – gesehen: die Türkenausstellg.;? die Theaterausstellg;? die Grillparzer-, die Schubert-Ausstellg? Was von ihm in Druck u. unter seinem Namen erscheint ist nur der allergeringste Bruchtheil seiner weitverzweigten organisatorischen, sammelnden u. anregenden Thätigkeit. Er hat keine Spur von philologischer A[de]r in sich. Er ist Jurist, dann Culturhistoriker, Localforscher, Patriot, Dilletant der besten Sorte. Er hat viel von mir gelernt u. braucht eine Ergänzung in meinem Sinne nothwendig – ja ich fürchte, er bringt allein überhaupt nichts mehr fertig. Wären wir nicht local getrennt, so hätten wir beide oder jeder allein 10 mal mehr geleistet; ich brauche ihn nemlich auch wie er mich; er ist gewissermassen mein Herz, meine S[ee]le; ich sein Gewissen, seine Correctur u. Richtschnur. – Was nun die Grillp.briefe betrifft, so hab ich vor 12-13 Jahren mir langsam alles ungedruckte & gedruckte zu privatem Gebrauch ge- sammelt, hatte zwar das Recht zur Verarbeitg. aber für die Ungedr. nicht das Recht der Veröffentlichg., dass der Gemeinderath schon damals Glossy gegeben hatte. Den Haupttheil des Ungedruckten legte er in seiner Art & Bearbeitung im Jb vor, mit sehr schätzenswerten Anmerkungen & Beigaben (auch mit manchem Fehler.).. Nun traten Cottas im Frühj. mit der Frage an mich heran, ob sich noch Ergänzungs- bände z. Grillp. Ausgabe herstellen liessen. Ich sagte wahrheitsgemäss von Dichtungen sei für ihre Zwecke kaumetwas vorhanden als die e[rs]te „Ahnfrau“; dagegen könnten Briefe & Tageb. ganz wohl mehrere Ergänzungsbände abgeben; anders (chronol.) geordnet als im Jb. u. vielfach ergänzt. Beides hatte Glossy im Jb. herausgegeben. An ihn wandten sich Cottas. Glossy fragte bei mir an, ob ich im helfen wollte u. schrieb erst auf meine Zustimg. an Cotta. Ich hatte mir ursprünglich die Herausgabe allerdings nicht als eine gemeinsame vorgestellt u. meinte [nu]r, ich solle Glossy Ratschläge geben, wie er ja alles seit 2 Decennien mit mir durchbespricht & erwägt. Es stellte sich aber allerdings dann heraus, dass Gl. sich um die zerstreut gedruckten Briefe bisher nicht gekümmert hatte, während ich sie alle abgeschrieben & eingeordnet liegen hatte. Auch ungedruckte fanden sich bei mir mehr als ich in Erinnerung hatte. Allein hätte ich mich aber vorderhand zu einer Herausgabe nicht entschlossen. Ich rechnete immer mit einer künftigen krit. Ausgabe, zu der es wohl wird kommen müssen. Glossy hat also ganz loyal gehandelt, wie ich ihn nie auf einer Unehrlichkeit ertappt habe. Es that mir leid, dass Sie ein so falsches Bild von ihm vor Augen haben u. darum dieser Brief, den Sie mir nicht übel nehmen mögen.
Über Euphorion nächstens, bis alles mehr geklärt ist.
Herzlichst Ihr treu erg.
AS.

Prag 11/11 01
Smichow 586

Lieber Freund! Aus Ihrem lieben Brief möcht ich 2 Punkte sogleich beantworten. – Fresenius ist dauernd nach Berlin übergesiedelt (W., Achenbachstrasse 7/8, Gartenhaus parterre). Die schmähliche Art & Weise, mit der Suphan ihn entlassen, kennen Sie. Auch dass man ihm alle Papiere abgenommen [u]. alles was man nicht sogleich verstand, vernichtete (das einzig Brauchbare was im Goethe-Archiv geleistet worden war), werden Sie wissen. Inwieweit Sie über seine Verlobungsgeschichte orientiert sind, weiss ich nicht. Die Braut, eine ältere Dame mit erwachsenen Töchtern, wurde wahnsinnig u. ist im Irrenhaus. Er betreut die Töchter [, w]ohnt aber (aus Anstandsrücksichten, wie es scheint) nicht bei u. mit Ihnen, sondern legt täglich den weiten Weg zu ihrer Wohnung mehrere Male zurück, um alle Mahlzeiten gemeinsam mit ihnen einzunehmen. Schlösser traf ihn im Sommer, wie er grade auf der Suche nach einer Gardedame war, um mit den Töchtern gemeinsam aufs Land gehen zu können. Ich vermuthe, dass er unter diesen Umständen nichts arbeitet. Auf die Zusendung meiner Sternbergrede gab er mir keine Antwort.
Über mein Verhältnis zu Glossy befinden Sie sich doch in einem Grundirrthum. Es verbinden mich mit ihm 22 Jahre der innigsten Kameradschaft und Freundschaft und ich darf wohl sagen, dass er mit der liebste Mensch auf der Welt ist. Alles was vom Österreicher u. vom Wiener in mir ist, sympathisiert mit diesem goldensten Gemüth, das ich kenne. Freilich kenne ich auch seine Schwächen viel besser als jeder andre; aber auch seine grossen Vorzüge, seine reichen Kenntnisse, seine lebendige Anschauung vom Gesamtleben Altwiens & Altösterreichs, wie sie ausser ihm gegenwärtig Niemand besitzt. Haben Sie eine seiner grossen Ausstellungen – seine eigentlichen Leistungen – gesehen: die Türkenausstellg.;? die Theaterausstellg;? die Grillparzer-, die Schubert-Ausstellg? Was von ihm in Druck u. unter seinem Namen erscheint ist nur der allergeringste Bruchtheil seiner weitverzweigten organisatorischen, sammelnden u. anregenden Thätigkeit. Er hat keine Spur von philologischer A[de]r in sich. Er ist Jurist, dann Culturhistoriker, Localforscher, Patriot, Dilletant der besten Sorte. Er hat viel von mir gelernt u. braucht eine Ergänzung in meinem Sinne nothwendig – ja ich fürchte, er bringt allein überhaupt nichts mehr fertig. Wären wir nicht local getrennt, so hätten wir beide oder jeder allein 10 mal mehr geleistet; ich brauche ihn nemlich auch wie er mich; er ist gewissermassen mein Herz, meine S[ee]le; ich sein Gewissen, seine Correctur u. Richtschnur. – Was nun die Grillp.briefe betrifft, so hab ich vor 12-13 Jahren mir langsam alles ungedruckte & gedruckte zu privatem Gebrauch ge- sammelt, hatte zwar das Recht zur Verarbeitg. aber für die Ungedr. nicht das Recht der Veröffentlichg., dass der Gemeinderath schon damals Glossy gegeben hatte. Den Haupttheil des Ungedruckten legte er in seiner Art & Bearbeitung im Jb vor, mit sehr schätzenswerten Anmerkungen & Beigaben (auch mit manchem Fehler.).. Nun traten Cottas im Frühj. mit der Frage an mich heran, ob sich noch Ergänzungs- bände z. Grillp. Ausgabe herstellen liessen. Ich sagte wahrheitsgemäss von Dichtungen sei für ihre Zwecke kaumetwas vorhanden als die e[rs]te „Ahnfrau“; dagegen könnten Briefe & Tageb. ganz wohl mehrere Ergänzungsbände abgeben; anders (chronol.) geordnet als im Jb. u. vielfach ergänzt. Beides hatte Glossy im Jb. herausgegeben. An ihn wandten sich Cottas. Glossy fragte bei mir an, ob ich im helfen wollte u. schrieb erst auf meine Zustimg. an Cotta. Ich hatte mir ursprünglich die Herausgabe allerdings nicht als eine gemeinsame vorgestellt u. meinte [nu]r, ich solle Glossy Ratschläge geben, wie er ja alles seit 2 Decennien mit mir durchbespricht & erwägt. Es stellte sich aber allerdings dann heraus, dass Gl. sich um die zerstreut gedruckten Briefe bisher nicht gekümmert hatte, während ich sie alle abgeschrieben & eingeordnet liegen hatte. Auch ungedruckte fanden sich bei mir mehr als ich in Erinnerung hatte. Allein hätte ich mich aber vorderhand zu einer Herausgabe nicht entschlossen. Ich rechnete immer mit einer künftigen krit. Ausgabe, zu der es wohl wird kommen müssen. Glossy hat also ganz loyal gehandelt, wie ich ihn nie auf einer Unehrlichkeit ertappt habe. Es that mir leid, dass Sie ein so falsches Bild von ihm vor Augen haben u. darum dieser Brief, den Sie mir nicht übel nehmen mögen.
Über Euphorion nächstens, bis alles mehr geklärt ist.
Herzlichst Ihr treu erg.
AS.

Briefdaten

Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 423/1-418
Umfang: 8 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9013 [Druckausgabe Nr. 201]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9013/methods/sdef:TEI/get

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