Graz 26.12.02.

Lieber freund, Ich habe mir die Christtagsfreude gemacht, Ihre reden u. aufsätze in einem zuge zu lesen. Unwillkürlich vergleichen wir andere mit uns selbst. U. da fühl ich mich sehr gedrückt in meinem kritischen kleinwesen, das zersetzt und wenn’s gut geht zergliedert, und mit schwerfälligen worten u. unbeholfenen sätzen zusammenpresst, um nur die zerrissenen teile wieder zu vereinen. Sie aber gehen mit freierm blicke über das ganze durchs leben und durchs wirken, füllen das ganz geschaute bild, das ganz empfundene wesen mit den kennzeichnenden einzelheiten, und Ihre liebe fürs ganze wie Ihre fähigkeit, zu sagen was Sie erfüllt, fliesst in glatter sprache ungesucht aus Ihrem munde. Stimmungsvoll leiten Hölderlin und Seume ein; für diesen freilich bring ich weniger wiederhall in mir laut, aber jener hat mich neuerlich gefesselt. An Sternberg bindet mich nichts als Goethe. Schrey- vogel ist ein wichtiges stück. Und nun die Grillparzerserie, in der mir der unübertrefflich feine, ich möchte sagen weihevolle zweite aufsatz: die Fröhlich wieder am liebsten ist; darnach die eindringliche studie über den treuen diener. Raimund wird vortrefflich lebendig, Otto Ludwig dünkt mich ausgezeichnet erfasst, Scheffel nehme ich weniger ernst und könnte mit ihm nur im engeren tollen; Anzengruber las ich besonders neugierig und mit lebhafter zustimmung; das ????? ist mir zu sehr übersicht geblieben. Und zuletzt entlassen Sie uns mit einem wort der liebevollen verehrung, das jeden wärmen muss.
Ich danke Ihnen. Ich rede nicht von dem, was wir lernen an sachen, es ist hülle u. fülle im grossen u. im einzelnen. Aber ich beneide Sie um die glückliche hingabe, die andere wieder zur hingabe zwingt. Selbst wo ich bewundere und liebe, wie bei manchem Wielandischem und vielem Goetheschem, auch bei Björnson, zerstör ich meine darstellung durch die übermenschliche objektivität, wie es Gurlitt einmal nannte. Ich hab eben zu wenig subjekt; der zweifel beherrscht mich; ich glaube nicht an meinen eindruck, bis ich ihn mir greifbar mache. Und dadurch wird er andern doch nicht greifbar, sie hören nur meine selbsteinwürfe. Sie ziehen in Ihren bann und halten fest. Und so bauen Sie auf, auferbauen Sie, wo ich einreisse. Sie können freude an sich haben.
Mög Ihnen das nahe jahr die arbeitskraft und die freudige hingabe bewahren, Ihnen u. uns. Mit guten wünschen für Sie und die Ihre
Ihr ergebener
BSfft.

Graz 26.12.02.

Lieber freund, Ich habe mir die Christtagsfreude gemacht, Ihre reden u. aufsätze in einem zuge zu lesen. Unwillkürlich vergleichen wir andere mit uns selbst. U. da fühl ich mich sehr gedrückt in meinem kritischen kleinwesen, das zersetzt und wenn’s gut geht zergliedert, und mit schwerfälligen worten u. unbeholfenen sätzen zusammenpresst, um nur die zerrissenen teile wieder zu vereinen. Sie aber gehen mit freierm blicke über das ganze durchs leben und durchs wirken, füllen das ganz geschaute bild, das ganz empfundene wesen mit den kennzeichnenden einzelheiten, und Ihre liebe fürs ganze wie Ihre fähigkeit, zu sagen was Sie erfüllt, fliesst in glatter sprache ungesucht aus Ihrem munde. Stimmungsvoll leiten Hölderlin und Seume ein; für diesen freilich bring ich weniger wiederhall in mir laut, aber jener hat mich neuerlich gefesselt. An Sternberg bindet mich nichts als Goethe. Schrey- vogel ist ein wichtiges stück. Und nun die Grillparzerserie, in der mir der unübertrefflich feine, ich möchte sagen weihevolle zweite aufsatz: die Fröhlich wieder am liebsten ist; darnach die eindringliche studie über den treuen diener. Raimund wird vortrefflich lebendig, Otto Ludwig dünkt mich ausgezeichnet erfasst, Scheffel nehme ich weniger ernst und könnte mit ihm nur im engeren tollen; Anzengruber las ich besonders neugierig und mit lebhafter zustimmung; das ????? ist mir zu sehr übersicht geblieben. Und zuletzt entlassen Sie uns mit einem wort der liebevollen verehrung, das jeden wärmen muss.
Ich danke Ihnen. Ich rede nicht von dem, was wir lernen an sachen, es ist hülle u. fülle im grossen u. im einzelnen. Aber ich beneide Sie um die glückliche hingabe, die andere wieder zur hingabe zwingt. Selbst wo ich bewundere und liebe, wie bei manchem Wielandischem und vielem Goetheschem, auch bei Björnson, zerstör ich meine darstellung durch die übermenschliche objektivität, wie es Gurlitt einmal nannte. Ich hab eben zu wenig subjekt; der zweifel beherrscht mich; ich glaube nicht an meinen eindruck, bis ich ihn mir greifbar mache. Und dadurch wird er andern doch nicht greifbar, sie hören nur meine selbsteinwürfe. Sie ziehen in Ihren bann und halten fest. Und so bauen Sie auf, auferbauen Sie, wo ich einreisse. Sie können freude an sich haben.
Mög Ihnen das nahe jahr die arbeitskraft und die freudige hingabe bewahren, Ihnen u. uns. Mit guten wünschen für Sie und die Ihre
Ihr ergebener
BSfft.

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 3 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9055 [Druckausgabe Nr. 206]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9055/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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