Prag 27/12 02
Smichow 586
Lieber Freund! Ich hatte mir den lang [au]fgeschobenen Brief an Sie für einen der Feiertage als Belohnung für gethane Arbeit aufgespart. Aber ich hatte mich verrechnet: erst gestern Abends wurde ich mit meiner Einleitg. zum Goethebuch ganz fertig, um 4 Wochen zu spät; aber es war bei der heurigen Schüleranzahl im Seminar und den andern Geschäften nicht möglich. Aber das erste was ich thue, da ich mich [e]twas freier fühle, ist der Brief an Sie. Sie haben mir Weihnachten doppelt gesegnet. Ihre Karte über den Sternberg hat mich beglückt; Ihr Brief über die Aufsätze ausser Rand und Band gebracht. Sie sind mit Schönbach mein höchster Richter. Ich weiss Sie sagen die Wahrheit, was so wenige thun. Sie loben nicht blind, nicht wahllos, nicht unbedingt; auch im Lob charakterisieren Sie fein, machen Sie Unterschiede; auch da [bl]eiben Sie – wenn Sie wollen – bis zu gewissem Grad objectiv. Und darum kann man auf Ihr Lob etwas geben. Dass meine Arbeiten solid sind, dass ich es nicht leicht nehme: das kann ich mir selbst sagen. Aber in allem Übrigen mistraue ich mir und stecke voller Zweifel. Was die Vorträge anbetrifft, so sind einzelne drunter, wie Sch[e]ffel oder Seume, die ich heute selbst nicht mehr verstehe, rasche wenn auch nicht flüchtige Arbeiten an denen zu ändern oder zu bessern unmöglich wäre. 3-4 Jahre früher oder später: es wäre was ganz anders draus geworden. Die Grillparzerarbeiten dagegen langgehegte Früchte eines – wie soll ich sagen – vom Blitz getroffenen, untergegangenen Baumes. Also ich steh den Sachen nicht kritiklos gegenüber; ich weiss, sie sind ungleich wie der Zeit der Entstehung nach, so in Inhalt und Form. Nur die Liebe und Hingabe an die Sache durchzieht sie alle. Ob das ein wissenschaftlicher Vortheil ist? Kaum; eher ein künstlerischer oder stilistischer. Ihre Untersuchungen enthalten Dauerndes; Ihre Kritiken sind musterhaft; zusammengedruckt werden sie einmal ein unentbehrliches Buch geben. Sie graben immer bis auf die Tiefe. Ich halte Ihre Art für die höhere, die ergiebigere. Keinesfalls haben Sie Jemanden zu beneiden; am wenigsten mich.
Ich habe Ihnen vieles zu schreiben. Aber fast seh ich heute, unter dem Eindruck Ihres Briefs, alles im rosigeren Lichte, selbst das was mich das Jahr über sehr gequält hat. Sie wiss[en], wie lang ich mich mit dem Gedanken trage, einige meiner Geschäfte loszukriegen. Die Jbb. hab ich Gott sei Dank vom Hals. Dem Goedeke kündige ich meine Mitarbeiterschaft sobald der § Grillparzer fertig ist. Die DLD, von denen ich mich allerdings sehr schwer trenne, schon deshalb weil Sie [sie] mir seiner Zeit ans Herz gelegt haben, sind das nächste Opfer. Wieder habe ich vor 2 Jahren, zum so und so vielten Mal, ein Program gemacht und wieder lässt es sich wegen mangelnder Theilnahme nicht durchführen. Seitdem sie theurer geworden s[in]d, kauft sie erst recht Niemand. Die unmittelbare Veranlassung zu meiner Kündigung gab die 2. Aufl. von Geigers Heft. Der Verleger verlangte es sehr schnell; Geiger lieferte es noch schneller. Ich that was ich konnte; ich verglich die Übersetzg. nach meinem Ex., ich verbesserte alle Fehler in der Einleitung, soweit sie mir auffielen. Geiger hatte aus Tscharner einen Tschaer gemacht (nicht etwa ein Druckfehler) u. dgl. mehr. Sie haben keine Ahnung, wie er in diesen 20 Jahren seit der 1. Aufl. heruntergekommen ist. Die Manuscripte ein Fetzenhaufen u.s.w. Von dem franz. Text las ich zwar eine Corr., aber ich verglich ihn nicht mit einer Vorlage. Nun kommt ein Herr Consentius und liefert mir eine Rec. für den Euph., worin er nachweist, dass schon in der 1. Aufl. ein paar Fehler stehen geblieben waren und dass die 2. Aufl. ein verschlechteter Abdruck der ersten ist. In ein paar Pun[kt]en hat er Recht. Einiges andre ist übertrieben. Den suffissanten Ton verbat ich mir u. er änderte u. milderte. Das Ganze ist aber immer noch unangenehm genug. Noch dazu gieng er zum Verleger u. theilte ihm brühwarm seine Entdeckungen mit u. der Verleger, obgleich ich ihm selbst über Geiger geklagt [ha]tte, liess sich hinreissen mir Vorwürfe zu machen. Das war mir zuviel. Ich schlug noch ein Heilmittel vor, nemlich die 2. Auflage (u. zugleich Consentius Recension zurückzuziehen u. durch diesen, der einige hübsche archivalische Funde gemacht hat, eine 3. herstellen zu lassen u. erklärte mich bereit, die [Hä]lfte der Kosten zu tragen. Geiger aber wollte nicht. Nun muss die Recension seinen Lauf nehmen. Mein Contract geht mit Ende 1903 zu Ende. Dann scheide ich aus. Der Verleger will dann unter alleiniger Verantwortung der Einzelheraus- geber ohne Redacteur die Sammlung in langsameren Tempo weiterführen, wenigstens die Fortsetzungen zu Lichtenberg etc. liefern. Wir haben uns friedlich auseinandergesetzt. –
Gleichen Ärger bereitete mir der Euphorion. Nach langen Verhandlungen, die einmal sogar schon abgebrochen waren, hatte sich Fromme bereit erklärt, die Zs. fortzuführen solange ihm die 1000 fl. + 400 M (um die Meyer Ex. kauft) gezahlt würden; Glossy versprach 800 fl. aufzubr[ing]en. Durch Dumbas Tod, Lobmeyrs Absage und Glossys Bummelei verzögerte sich die Subscription. Obgleich ich Fromme für die 800 fl. gebürgt hatte und obgleich ich ihm, um ihn für den Euphorion günstiger zustimmen, meine Vorträge sehr billig überlassen hatte (die er mir nebenbei gesagt typo[g]raphisch verpfuschte), so stellte er doch im Frühjahr plötzlich den Satz ein; kurz vor Fertigstellung des ersten Heftes. Er benahm sich so unanständig als möglich. Erst als ich ihm telegraphisch eine Caution antrug, kroch er zu Kreuz. Die Subscriptionsaffaire ist heute noch nicht beendet. Glossy schrieb zwar vor einigen Tagen wieder: 700 fl. seien eingezahlt. Bevor ich sie aber nicht gesehen habe, glaube ichs nicht. So ist mir Fromme das Redactionshonorar, das Honorar für die Bibliographie (die ich aber meinem Hilfsarbeiter bezahlt habe) meine Postauslagen und das Honorar für die Aufsätze schuldig. Ich habe nun erklärt: über den 10. Bd. hinaus führe ich die Zs. nicht weiter, wenn die Subvent[ion] nicht für eine längere Reihe von Jahren sichergestellt ist. Sogleich aufhören wollte und konnte ich nicht. Ich habe die ganze Lade voll Man. Ich muss also unter Umständen im nächsten Jahr auch 800 fl. opfern. Länger hält mein Beutel das nicht aus. Ein Generalregister noc[h u]nd ex. Ich werde glücklich sein, von der Qual erlöst zu sein. – Nur die Bibl. d. Schriftsteller aus Böhmen muss ich behalten. Ganz im Stillen habe ich 13 Bände redigiert, dz. ohne Honorar. Erst die letzten Bde, die ich selbst gemacht habe, tragen mir etwas. Dieses Opfer zu verstehen, dazu gehörte ein Einblick in die hiesigen politischen Verhältnisse. Die „Gesellschaft“ hat Wunder gewirkt. Wir haben die Parität in der Kunstgalerie durchgesetzt, einen deutschen Professor an der Kunstakademie erreicht u. vieles Andre. Die Sternberg-Ausgabe ist eine politische That. So lang ich halbwegs kann, will ich das fortsetzen, zunächst Stifter I u. II, die fast fertig sind; Briefw. Goethe – Grüner; Goethe – Zauper. Mathesius Bd. IV ist im Druck. Hier halt ich zunächst aus.
Nun bin ich begierig, was Sie zu meiner Einleitg. sagen werden; sie wird Ihnen zu österreichisch sein wie der Sternberg zu deutschböhmisch. Über meine Vorgänger bin ich fast überall weit hinau[sge]kommen, gar über Werner, der lauter tolles Zeug behauptet hat. Das Material ist ungemein spröd, die Darstellung, soweit es eine solche ist, war sehr schwer, im Raum u. in der Zeit beengt: wer will da was leisten. Aber Anregung glaube ich wird der Band mancherlei geben. Der [To]n liegt bei mir überall auf Österreich, bei Ihnen auf Goethe. Über diesen Accentunterschied wollen wir in diesem Falle nicht streiten. Ich sende Ihnen die Bogen, sobald ich kann; aber Ihre ev. Wünsche oder Verbesserungen werd ich kaum mehr abwarten können. Ihr Aufsatz fügt sich sehr gut in das Ganze ein. Wir berühren uns fast gar nicht. Teplitz als Ort spielt bei mir keine Rolle; die Clarys erwähne ich kaum; den Fürst Ligne charakterisiere ich blos u. von einer andern Seite als Sie. Ich danke Ihnen nochmals herzlich für die Überlassung.
Nun noch etwas zum Plaudern. Der Streit Minor – Suphan war höchst drollig. Jeden Tag kam von Suphan eine andre Erklärung, eine übertriebener u. hochmütiger als die andre. Nun kommt wieder von Minor täglich ein Aufsatz über den Entwuchs/Entwurf aus der Zeit, aus der NFPresse, aus der Vossischen. Suphans Einleitung ist eine Lüge. Keinem Lebenden ist er verpflichtet; also bin ich todt; [de]nn meine Einleitung zu den Säculargedichten hat er geplündert. Die Collation der Papiere für die Säculargedichte hat nicht er vorgenommen, sondern Schüddekopf (allerdings mit seiner Erlaubnis). In meine Vorrede zu Schriften XVII hat er auf jeder Seite 3mal seinen Namen hinein g[e]malt und ich musste die Verunreinigung dulden, wenn ich nicht auch mit ihm Streit kriegen wollte. Wir stehen ohnehin schon schlecht genug und ich muss 1903 noch 2mal nach Weimar wegen des 2. Bandes, im Frühjahr und im Herbst. Dann sieht mich Weimar solange dieser trockne Schleicher regiert – niemals wieder.
– Dass Detter schwer krank war (Rippenfellentzündung), wissen Sie vielleicht. Er steckt in einer sehr schlechten Haut u. ich fürchte, er wird nicht alt. Er ist bis nach Neujahr beurlaubt. Ob er dann kommt oder nicht, für die Studenten ist das Halbjahr verloren; denn er sollte hist. Grammatik lesen. – Sehr dankbar wär ich Ihnen, denn ! Sie mir schrie- ben, was Gurlitt eigentlich fehlt. Frau v. Zwiedineck, der ich das „Buch“ schickte – für Bauer u. Gurlitt reichten die Exemplare leider nicht – schrieb mir in Andeutungen. Ich werde es gewiss nicht weitersagen, stehe [ü]brigens in keiner Verbindung mit ihm, wie ja alle Verbindungen mit Graz eingeschlafen sind. Aber er ist mir ebenso lieb und wert wie früher.
Noch will ich bemerken; dass der verstorbene Bonner Prof. Ihr Bruder gewesen sei, sagte mir Gross aufs Bestimmteste. Es war mir eine grosse Beruhigung zu hören, dass es nicht richtig war.
Möge Ihnen ein recht angenehmes, glückliches Jahr bevorstehen. Das wünscht Ihnen mit vielen herzlichen Grüssen
Ihr aufrichtiger Freund
AS.
Nachtrag!
Es fällt mir ein, dass Sie vielleicht meine Worte über den Sternberg-Briefwechsel misverstehen könnten. Darum will ich erklärend hinzufügen wie ich es meine. Die Deutschen haben in Böhmen für gewisse Dinge das Gedächtnis u. das Interesse verloren. Die Čechen nehmen die Pflege der Vergangenheit ganz für sich in Anspruch. Sie bezeichnen die Periode der Litter. von 1750 ab als čechische Litt. in deutscher Sprache. Auch Sternberg fassen sie so auf und Bratranek war mehr Čeche als Deutscher und hat dem Rechnung getragen. Darum ist es wichtig, dass St. für unsere Bibliothek reclamiert wurde. Auch werden sich die Čechen darüber ärgern, dass sie sich diese Dinge haben entgehen lassen, dass die čech. Akademie diese Ausgabe nicht gemacht hat. Auch die čechische Wissenschaft erscheint in merkwürdigem Licht. Ernst Kraus an der čech. Universität schrieb ein ganzes Buch: Goethe u. Böhmen. Einen Einfluß Goethes auf die čechische Litteratur bemerkte er nicht: da kam M[ur]ko u. schrieb ein ganzes Buch darüber. Die Personen, die er hätte beleben müssen, fungieren nur mit Namen und Zahlen. Vom jungen Sternberg, wie ich ihn charakterisiert habe, steht kein Wort drinnen. Hätte er nicht [d]en Nachlass der auf dem (čechischen) Museum liegt, verwenden müssen! Und dieses Museum, für beide Nationen begründet, vom Land reich dotiert, haben die liberalen Deutschen der 60er Jahre wie alles andre den Čechen thörichter Weise ausgeliefert. Die Originale der Goetheschen Briefe sind čechisch eingereiht, mit čechischen Aufschriften versehen. Es gilt zu documentieren, dass die Deut- schen dasselbe Recht im Museum haben wie die Čechen. Und so wichtig erschien den Čechen selbst die Thatsache, dass ein hiesiger deutscher Gelehrter d[ort] arbeitet, dass sie es im Jahresbericht des Museums eigens hervorhoben. Und die Sternbergrede wurde gehalten vor dem Statthalter, ja was mehr ist vor dem Landmarschall, dem Vizekönig v. Böhmen und machte grosses Aufsehen. Die Čechen verachten und schmähen die deutsche Gelehrsamkeit, bes. unsre Universität; einige Nichtlinge wie Bachmann geben ihnen dazu Veranlassung. Der Sternberg kann ihnen zeigen, was und wie es ihre Herrn hätten machen müssen; thatsächlich haben sie sich, wenigstens brieflich, sehr günstig darüber geäussert.
Prag 27/12 02
Smichow 586
Lieber Freund! Ich hatte mir den lang [au]fgeschobenen Brief an Sie für einen der Feiertage als Belohnung für gethane Arbeit aufgespart. Aber ich hatte mich verrechnet: erst gestern Abends wurde ich mit meiner Einleitg. zum Goethebuch ganz fertig, um 4 Wochen zu spät; aber es war bei der heurigen Schüleranzahl im Seminar und den andern Geschäften nicht möglich. Aber das erste was ich thue, da ich mich [e]twas freier fühle, ist der Brief an Sie. Sie haben mir Weihnachten doppelt gesegnet. Ihre Karte über den Sternberg hat mich beglückt; Ihr Brief über die Aufsätze ausser Rand und Band gebracht. Sie sind mit Schönbach mein höchster Richter. Ich weiss Sie sagen die Wahrheit, was so wenige thun. Sie loben nicht blind, nicht wahllos, nicht unbedingt; auch im Lob charakterisieren Sie fein, machen Sie Unterschiede; auch da [bl]eiben Sie – wenn Sie wollen – bis zu gewissem Grad objectiv. Und darum kann man auf Ihr Lob etwas geben. Dass meine Arbeiten solid sind, dass ich es nicht leicht nehme: das kann ich mir selbst sagen. Aber in allem Übrigen mistraue ich mir und stecke voller Zweifel. Was die Vorträge anbetrifft, so sind einzelne drunter, wie Sch[e]ffel oder Seume, die ich heute selbst nicht mehr verstehe, rasche wenn auch nicht flüchtige Arbeiten an denen zu ändern oder zu bessern unmöglich wäre. 3-4 Jahre früher oder später: es wäre was ganz anders draus geworden. Die Grillparzerarbeiten dagegen langgehegte Früchte eines – wie soll ich sagen – vom Blitz getroffenen, untergegangenen Baumes. Also ich steh den Sachen nicht kritiklos gegenüber; ich weiss, sie sind ungleich wie der Zeit der Entstehung nach, so in Inhalt und Form. Nur die Liebe und Hingabe an die Sache durchzieht sie alle. Ob das ein wissenschaftlicher Vortheil ist? Kaum; eher ein künstlerischer oder stilistischer. Ihre Untersuchungen enthalten Dauerndes; Ihre Kritiken sind musterhaft; zusammengedruckt werden sie einmal ein unentbehrliches Buch geben. Sie graben immer bis auf die Tiefe. Ich halte Ihre Art für die höhere, die ergiebigere. Keinesfalls haben Sie Jemanden zu beneiden; am wenigsten mich.
Ich habe Ihnen vieles zu schreiben. Aber fast seh ich heute, unter dem Eindruck Ihres Briefs, alles im rosigeren Lichte, selbst das was mich das Jahr über sehr gequält hat. Sie wiss[en], wie lang ich mich mit dem Gedanken trage, einige meiner Geschäfte loszukriegen. Die Jbb. hab ich Gott sei Dank vom Hals. Dem Goedeke kündige ich meine Mitarbeiterschaft sobald der § Grillparzer fertig ist. Die DLD, von denen ich mich allerdings sehr schwer trenne, schon deshalb weil Sie [sie] mir seiner Zeit ans Herz gelegt haben, sind das nächste Opfer. Wieder habe ich vor 2 Jahren, zum so und so vielten Mal, ein Program gemacht und wieder lässt es sich wegen mangelnder Theilnahme nicht durchführen. Seitdem sie theurer geworden s[in]d, kauft sie erst recht Niemand. Die unmittelbare Veranlassung zu meiner Kündigung gab die 2. Aufl. von Geigers Heft. Der Verleger verlangte es sehr schnell; Geiger lieferte es noch schneller. Ich that was ich konnte; ich verglich die Übersetzg. nach meinem Ex., ich verbesserte alle Fehler in der Einleitung, soweit sie mir auffielen. Geiger hatte aus Tscharner einen Tschaer gemacht (nicht etwa ein Druckfehler) u. dgl. mehr. Sie haben keine Ahnung, wie er in diesen 20 Jahren seit der 1. Aufl. heruntergekommen ist. Die Manuscripte ein Fetzenhaufen u.s.w. Von dem franz. Text las ich zwar eine Corr., aber ich verglich ihn nicht mit einer Vorlage. Nun kommt ein Herr Consentius und liefert mir eine Rec. für den Euph., worin er nachweist, dass schon in der 1. Aufl. ein paar Fehler stehen geblieben waren und dass die 2. Aufl. ein verschlechteter Abdruck der ersten ist. In ein paar Pun[kt]en hat er Recht. Einiges andre ist übertrieben. Den suffissanten Ton verbat ich mir u. er änderte u. milderte. Das Ganze ist aber immer noch unangenehm genug. Noch dazu gieng er zum Verleger u. theilte ihm brühwarm seine Entdeckungen mit u. der Verleger, obgleich ich ihm selbst über Geiger geklagt [ha]tte, liess sich hinreissen mir Vorwürfe zu machen. Das war mir zuviel. Ich schlug noch ein Heilmittel vor, nemlich die 2. Auflage (u. zugleich Consentius Recension zurückzuziehen u. durch diesen, der einige hübsche archivalische Funde gemacht hat, eine 3. herstellen zu lassen u. erklärte mich bereit, die [Hä]lfte der Kosten zu tragen. Geiger aber wollte nicht. Nun muss die Recension seinen Lauf nehmen. Mein Contract geht mit Ende 1903 zu Ende. Dann scheide ich aus. Der Verleger will dann unter alleiniger Verantwortung der Einzelheraus- geber ohne Redacteur die Sammlung in langsameren Tempo weiterführen, wenigstens die Fortsetzungen zu Lichtenberg etc. liefern. Wir haben uns friedlich auseinandergesetzt. –
Gleichen Ärger bereitete mir der Euphorion. Nach langen Verhandlungen, die einmal sogar schon abgebrochen waren, hatte sich Fromme bereit erklärt, die Zs. fortzuführen solange ihm die 1000 fl. + 400 M (um die Meyer Ex. kauft) gezahlt würden; Glossy versprach 800 fl. aufzubr[ing]en. Durch Dumbas Tod, Lobmeyrs Absage und Glossys Bummelei verzögerte sich die Subscription. Obgleich ich Fromme für die 800 fl. gebürgt hatte und obgleich ich ihm, um ihn für den Euphorion günstiger zustimmen, meine Vorträge sehr billig überlassen hatte (die er mir nebenbei gesagt typo[g]raphisch verpfuschte), so stellte er doch im Frühjahr plötzlich den Satz ein; kurz vor Fertigstellung des ersten Heftes. Er benahm sich so unanständig als möglich. Erst als ich ihm telegraphisch eine Caution antrug, kroch er zu Kreuz. Die Subscriptionsaffaire ist heute noch nicht beendet. Glossy schrieb zwar vor einigen Tagen wieder: 700 fl. seien eingezahlt. Bevor ich sie aber nicht gesehen habe, glaube ichs nicht. So ist mir Fromme das Redactionshonorar, das Honorar für die Bibliographie (die ich aber meinem Hilfsarbeiter bezahlt habe) meine Postauslagen und das Honorar für die Aufsätze schuldig. Ich habe nun erklärt: über den 10. Bd. hinaus führe ich die Zs. nicht weiter, wenn die Subvent[ion] nicht für eine längere Reihe von Jahren sichergestellt ist. Sogleich aufhören wollte und konnte ich nicht. Ich habe die ganze Lade voll Man. Ich muss also unter Umständen im nächsten Jahr auch 800 fl. opfern. Länger hält mein Beutel das nicht aus. Ein Generalregister noc[h u]nd ex. Ich werde glücklich sein, von der Qual erlöst zu sein. – Nur die Bibl. d. Schriftsteller aus Böhmen muss ich behalten. Ganz im Stillen habe ich 13 Bände redigiert, dz. ohne Honorar. Erst die letzten Bde, die ich selbst gemacht habe, tragen mir etwas. Dieses Opfer zu verstehen, dazu gehörte ein Einblick in die hiesigen politischen Verhältnisse. Die „Gesellschaft“ hat Wunder gewirkt. Wir haben die Parität in der Kunstgalerie durchgesetzt, einen deutschen Professor an der Kunstakademie erreicht u. vieles Andre. Die Sternberg-Ausgabe ist eine politische That. So lang ich halbwegs kann, will ich das fortsetzen, zunächst Stifter I u. II, die fast fertig sind; Briefw. Goethe – Grüner; Goethe – Zauper. Mathesius Bd. IV ist im Druck. Hier halt ich zunächst aus.
Nun bin ich begierig, was Sie zu meiner Einleitg. sagen werden; sie wird Ihnen zu österreichisch sein wie der Sternberg zu deutschböhmisch. Über meine Vorgänger bin ich fast überall weit hinau[sge]kommen, gar über Werner, der lauter tolles Zeug behauptet hat. Das Material ist ungemein spröd, die Darstellung, soweit es eine solche ist, war sehr schwer, im Raum u. in der Zeit beengt: wer will da was leisten. Aber Anregung glaube ich wird der Band mancherlei geben. Der [To]n liegt bei mir überall auf Österreich, bei Ihnen auf Goethe. Über diesen Accentunterschied wollen wir in diesem Falle nicht streiten. Ich sende Ihnen die Bogen, sobald ich kann; aber Ihre ev. Wünsche oder Verbesserungen werd ich kaum mehr abwarten können. Ihr Aufsatz fügt sich sehr gut in das Ganze ein. Wir berühren uns fast gar nicht. Teplitz als Ort spielt bei mir keine Rolle; die Clarys erwähne ich kaum; den Fürst Ligne charakterisiere ich blos u. von einer andern Seite als Sie. Ich danke Ihnen nochmals herzlich für die Überlassung.
Nun noch etwas zum Plaudern. Der Streit Minor – Suphan war höchst drollig. Jeden Tag kam von Suphan eine andre Erklärung, eine übertriebener u. hochmütiger als die andre. Nun kommt wieder von Minor täglich ein Aufsatz über den Entwuchs/Entwurf aus der Zeit, aus der NFPresse, aus der Vossischen. Suphans Einleitung ist eine Lüge. Keinem Lebenden ist er verpflichtet; also bin ich todt; [de]nn meine Einleitung zu den Säculargedichten hat er geplündert. Die Collation der Papiere für die Säculargedichte hat nicht er vorgenommen, sondern Schüddekopf (allerdings mit seiner Erlaubnis). In meine Vorrede zu Schriften XVII hat er auf jeder Seite 3mal seinen Namen hinein g[e]malt und ich musste die Verunreinigung dulden, wenn ich nicht auch mit ihm Streit kriegen wollte. Wir stehen ohnehin schon schlecht genug und ich muss 1903 noch 2mal nach Weimar wegen des 2. Bandes, im Frühjahr und im Herbst. Dann sieht mich Weimar solange dieser trockne Schleicher regiert – niemals wieder.
– Dass Detter schwer krank war (Rippenfellentzündung), wissen Sie vielleicht. Er steckt in einer sehr schlechten Haut u. ich fürchte, er wird nicht alt. Er ist bis nach Neujahr beurlaubt. Ob er dann kommt oder nicht, für die Studenten ist das Halbjahr verloren; denn er sollte hist. Grammatik lesen. – Sehr dankbar wär ich Ihnen, denn ! Sie mir schrie- ben, was Gurlitt eigentlich fehlt. Frau v. Zwiedineck, der ich das „Buch“ schickte – für Bauer u. Gurlitt reichten die Exemplare leider nicht – schrieb mir in Andeutungen. Ich werde es gewiss nicht weitersagen, stehe [ü]brigens in keiner Verbindung mit ihm, wie ja alle Verbindungen mit Graz eingeschlafen sind. Aber er ist mir ebenso lieb und wert wie früher.
Noch will ich bemerken; dass der verstorbene Bonner Prof. Ihr Bruder gewesen sei, sagte mir Gross aufs Bestimmteste. Es war mir eine grosse Beruhigung zu hören, dass es nicht richtig war.
Möge Ihnen ein recht angenehmes, glückliches Jahr bevorstehen. Das wünscht Ihnen mit vielen herzlichen Grüssen
Ihr aufrichtiger Freund
AS.
Nachtrag!
Es fällt mir ein, dass Sie vielleicht meine Worte über den Sternberg-Briefwechsel misverstehen könnten. Darum will ich erklärend hinzufügen wie ich es meine. Die Deutschen haben in Böhmen für gewisse Dinge das Gedächtnis u. das Interesse verloren. Die Čechen nehmen die Pflege der Vergangenheit ganz für sich in Anspruch. Sie bezeichnen die Periode der Litter. von 1750 ab als čechische Litt. in deutscher Sprache. Auch Sternberg fassen sie so auf und Bratranek war mehr Čeche als Deutscher und hat dem Rechnung getragen. Darum ist es wichtig, dass St. für unsere Bibliothek reclamiert wurde. Auch werden sich die Čechen darüber ärgern, dass sie sich diese Dinge haben entgehen lassen, dass die čech. Akademie diese Ausgabe nicht gemacht hat. Auch die čechische Wissenschaft erscheint in merkwürdigem Licht. Ernst Kraus an der čech. Universität schrieb ein ganzes Buch: Goethe u. Böhmen. Einen Einfluß Goethes auf die čechische Litteratur bemerkte er nicht: da kam M[ur]ko u. schrieb ein ganzes Buch darüber. Die Personen, die er hätte beleben müssen, fungieren nur mit Namen und Zahlen. Vom jungen Sternberg, wie ich ihn charakterisiert habe, steht kein Wort drinnen. Hätte er nicht [d]en Nachlass der auf dem (čechischen) Museum liegt, verwenden müssen! Und dieses Museum, für beide Nationen begründet, vom Land reich dotiert, haben die liberalen Deutschen der 60er Jahre wie alles andre den Čechen thörichter Weise ausgeliefert. Die Originale der Goetheschen Briefe sind čechisch eingereiht, mit čechischen Aufschriften versehen. Es gilt zu documentieren, dass die Deut- schen dasselbe Recht im Museum haben wie die Čechen. Und so wichtig erschien den Čechen selbst die Thatsache, dass ein hiesiger deutscher Gelehrter d[ort] arbeitet, dass sie es im Jahresbericht des Museums eigens hervorhoben. Und die Sternbergrede wurde gehalten vor dem Statthalter, ja was mehr ist vor dem Landmarschall, dem Vizekönig v. Böhmen und machte grosses Aufsehen. Die Čechen verachten und schmähen die deutsche Gelehrsamkeit, bes. unsre Universität; einige Nichtlinge wie Bachmann geben ihnen dazu Veranlassung. Der Sternberg kann ihnen zeigen, was und wie es ihre Herrn hätten machen müssen; thatsächlich haben sie sich, wenigstens brieflich, sehr günstig darüber geäussert.
In meine Vorrede zu Schriften XVII hat er [Suphan] auf jeder Seite 3mal seinen Namen hinein g[ed]ruckt und ich musste die Verunreinigung dulden, wenn ich nicht auch mit ihm Streit kriegen wollte. Wir stehen ohnehin schon schlecht genug und ich muss 1903 noch 2mal nach Weimar wegen des 2. Bandes, im Frühjahr und im Herbst. Dann sieht mich Weimar solange dieser trockne Schleicher regiert – niemals wieder.
Nur die Bibl. d. Schriftsteller aus Böhmen muss ich behalten. Ganz im Stillen habe ich 13 Bände redigiert, dz. ohne Honorar. Erst die letzten Bde, die ich selbst gemacht habe, tragen mir etwas. Dieses Opfer zu verstehen, dazu gehörte ein Einblick in die hiesigen politischen Verhältnisse. Die „Gesellschaft“ hat Wunder gewirkt. Wir haben die Parität in der Kunstgalerie durchgesetzt, einen deutschen Professor an der Kunstakademie erreicht u. vieles Andre. Die Sternberg-Ausgabe ist eine politische That.
August Sauer forschte in Weimar zu den Verbindungen, die Johann Wolfgang von Goethe zu Österreich hatte. Zwischem Sauer und Bernhard Suphan, dem Leiter des Goethe-Archivs in Weimar, bestand ein schwieriges Verhältnis. In der Einleitung des ersten Bandes von Goethe und Österreich lobte Sauer jedoch die institutionelle Zusammenarbeit.
Aus Sauers zweibändigem Werk Goethe und Österreich wurde die Edition des Briefwechsels zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Kaspar Graf von Sternbergwegen ihres Umfangs ausgegliedert. Die dreibändige Ausgabe der Ausgewählten Werke des Grafen Kaspar von Sternberg (1901-1909) erschien in der Reihe der Bibliothek deutscher Schriftsteller aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Die 39-bändige Reihe wurde von der Prager Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen herausgegeben, in der Sauer seit 1891 Mitglied war. Sauer klagte über die dortigen Arbeitsbedingungen, sah die Publikation der Buchreihe aber als wichtige kulturpolitische Aufgabe.
Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 423/1-447
Umfang: 20 Seite(n)
Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-9056 [Druckausgabe Nr. 207]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9056/methods/sdef:TEI/get
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