Prag 13/10 05
Smichow 586
Lieber Freund! Auf Ihren lieben Brief, für den ich Ihnen bestens [da]nke, antworte ich sofort. Die politischen Bedenken haben wir fallen gelassen, weil sich W. trotz seiner tschechischen Heirat wiederholt entschieden als Deutscher bekannt hat. Kraus aber hat mit den hiesigen Verhältnissen noch viel zu wenig Fühlung, als dass sich [h]inter seinem Widerstand politische Motive verstecken könnten. Bei ihm hört eben die Lit. Gesch. mit dem 12. Jahrh. auf; er verachtet mich wahrscheinlich noch mehr als die Grazer Schule; er wollte mir offenbar imponieren; da ich ihn dazu zwang, das Buch als ausgezeichnet anzuerkennen, so bin ich immerhin eines gewiss[e]n Sieges über ihn froh. Sich beim Colloquium davon zu überzeugen, dass W. soviel Kenntnisse aus deutscher Grammatik hat, um neuere Lit. Gesch. nach Krausens Ideal lehren zu können, halte ich nicht für ungesetzlich. Hat W. z.B. Interpretationscollegien angekündigt (was ich im Augenblick nicht weiss), so könnte man ihm beim Coll. einen Text vorlegen und hätte Gelegenheit genug, ihn zu prüfen. Heinzel legte dem Arnold wegen seiner Polenlit. einen poln. Text vor, den er freilich nicht einmal lesen konnte. Es hat mir nicht den Eindruck gemacht, als ob Kraus [W]. fallen lassen will; er will sein Gewissen salvieren und uns imponieren. Aber die Hand kann ich für ihn und seine Absicht nicht ins Feuer legen.
Im Allgemeinen sind Sie und ich einig. Nur die weitere Taktik schlagen Sie anders vor als ich. Ob bei uns schon ein Fall vorgekommen ist, dass eine Habil. ganz eingeschlummert [is]t, weiss ich nicht. Plant W. das, dann möcht ich auch der Mühe enthoben sein, das Referat zu schreiben, bei dessen Herstellung es doch immer noch Häkeleien mit Kraus geben könnte. Denkt W. nicht mehr daran, das Coll. zu machen, so wär es mir lieber, er zöge das Gesuch zurück. Wenn Sie glauben, dass die Vorlage meines ersten Briefes W. zur Entscheidung drängen könnte, so hab ich nichts dagegen einzuwende[n]; meines Urteiles über Kraus brauche ich mich nicht zu schämen; ich werde wohl etwas ähnliches zu W. selbst schon gesagt haben. Sie lassen sich ja den Brief wieder zurückgeben. Ich hätte nur die ganze Angelegenheit gern aus der Welt geschafft. Ich denke über W. so gut wie Sie und über Kraus gewiss nicht besser als Sie.
Für Ihre rasche Antwort herzlich dankend Ihr
aufrichtig erg.
AS.
Prag 13/10 05
Smichow 586
Lieber Freund! Auf Ihren lieben Brief, für den ich Ihnen bestens [da]nke, antworte ich sofort. Die politischen Bedenken haben wir fallen gelassen, weil sich W. trotz seiner tschechischen Heirat wiederholt entschieden als Deutscher bekannt hat. Kraus aber hat mit den hiesigen Verhältnissen noch viel zu wenig Fühlung, als dass sich [h]inter seinem Widerstand politische Motive verstecken könnten. Bei ihm hört eben die Lit. Gesch. mit dem 12. Jahrh. auf; er verachtet mich wahrscheinlich noch mehr als die Grazer Schule; er wollte mir offenbar imponieren; da ich ihn dazu zwang, das Buch als ausgezeichnet anzuerkennen, so bin ich immerhin eines gewiss[e]n Sieges über ihn froh. Sich beim Colloquium davon zu überzeugen, dass W. soviel Kenntnisse aus deutscher Grammatik hat, um neuere Lit. Gesch. nach Krausens Ideal lehren zu können, halte ich nicht für ungesetzlich. Hat W. z.B. Interpretationscollegien angekündigt (was ich im Augenblick nicht weiss), so könnte man ihm beim Coll. einen Text vorlegen und hätte Gelegenheit genug, ihn zu prüfen. Heinzel legte dem Arnold wegen seiner Polenlit. einen poln. Text vor, den er freilich nicht einmal lesen konnte. Es hat mir nicht den Eindruck gemacht, als ob Kraus [W]. fallen lassen will; er will sein Gewissen salvieren und uns imponieren. Aber die Hand kann ich für ihn und seine Absicht nicht ins Feuer legen.
Im Allgemeinen sind Sie und ich einig. Nur die weitere Taktik schlagen Sie anders vor als ich. Ob bei uns schon ein Fall vorgekommen ist, dass eine Habil. ganz eingeschlummert [is]t, weiss ich nicht. Plant W. das, dann möcht ich auch der Mühe enthoben sein, das Referat zu schreiben, bei dessen Herstellung es doch immer noch Häkeleien mit Kraus geben könnte. Denkt W. nicht mehr daran, das Coll. zu machen, so wär es mir lieber, er zöge das Gesuch zurück. Wenn Sie glauben, dass die Vorlage meines ersten Briefes W. zur Entscheidung drängen könnte, so hab ich nichts dagegen einzuwende[n]; meines Urteiles über Kraus brauche ich mich nicht zu schämen; ich werde wohl etwas ähnliches zu W. selbst schon gesagt haben. Sie lassen sich ja den Brief wieder zurückgeben. Ich hätte nur die ganze Angelegenheit gern aus der Welt geschafft. Ich denke über W. so gut wie Sie und über Kraus gewiss nicht besser als Sie.
Für Ihre rasche Antwort herzlich dankend Ihr
aufrichtig erg.
AS.
Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 423/1-499
Umfang: 4 Seite(n)
Rohtranskription, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-9163. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9163/methods/sdef:TEI/get
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