Prag 25/2 12
Smichow 586

L. F. Sie haben recht, es ist zu traurig, so echolos zu arbeiten. Ich hab es leider nur [z]u oft in früherer Zeit erlebt, wo Sie aber immer meine Stütze waren. Ich fühle mich also diesmal mitschuldig; aber nicht in Bezug auf die Teilnahmslosigkeit, sondern nur in Bezug auf das Stillschweigen. Dieses aber erklärt sich aus meiner verzweifelten Situation: 7 Bde Texte gesetzt u. keiner noch ganz fertig. Brandbrief auf Brandbrief aus Wien. Poenale vor Augen, ausserdem: Zinsenentgang für den Drucker; zu Beginn des April soll ich ausserdem ausspannen. Kurz & gut: ein Gedränge sondergleichen. Und so kam ich zu dem Brief nicht.
Ich behandle in diesem Semester im Seminar Technik des Dramas. Daher hab ich jede Ihrer beiden Abhandlungen sofort aufmerksam gelesen, im Seminar besprechen lassen und auch als Muster anempfohlen. Ich halte alle Ihre Beobachtungen für richtig und für sehr fein; nur meine ich, betrifft ein Teil davon mehr das allgemeinpoetische als das spezifisch dramatische u. der Egmont könnte vielleicht doch noch immer ein schlechtgebautes Drama sein und doch eine wunderbar architektonisch gebaute [Di]chtung. Ich habe mir es so zu versinnbildlichen gesucht. Der grosse Kreis wäre das allgemein Skizze zweier konzentrischer Kreise samt Mittelpunkt poetische, was jedes Kunstwerk haben muss, oder das allgemein künstlerische; der kleine Kreis das spezifisch dramatische u. der Punkt das individuell persönliche. Darauf bin ich gekom[m]en, weil ein paar Fanatiker der Technik unter meinen Zuhörern nicht zu bekehren waren. Für mein Gefühl haben Sie bewiesen, dass der Egmont auch ein gut gebautes Drama ist. Was die Beobachtung der Gruppenbildung im Drama betrifft, haben Sie einen Vorläufer an Werner in den Forschungen für Heinzel; nur hat er etwas doktrinär alles am ma. Drama exemplifiziert. Aber sonst hat Werners Beobachtung mit Ihrer grosse Verwandtschaft. – Dass ich zunächst unabhängig von Ihnen – d.h. vor dem Erscheinen Ihres 1. Aufsatzes, aber doch wohl unter der Nachwirkung Ihrer mündlichen Anregung – Freytag & Dickens habe untersuchen lassen, habe ich Ihnen schon in Graz gesagt. Die Arbeit ist leider seit einem Jahr in der Druckerei, seit 6 Monaten ausgesetzt und durch die Tafeln verzögert. Ich hoffe sie aber demnächst hinauszubringen. Ein [bes.] Kirchenlicht ist der fleissige u. ordentliche Vf. der Arbeit, der Sohn unseres Romanisten, nicht. Im Übrigen mein ich, entweder muss man Meisterwerke untersuchen, oder ungeheure Massen wie Dibelius, sonst versagt die Methode leicht, oder besser sie versandet. Sie ist nicht leicht, wie es auf den ersten Augenblick aussehen möchte und nur [der] Meister handhabt sie richtig. Vielleicht aber dürfte man das von jeder Methode sagen. – Dies erlaubte mir zu schreiben ein dem Hauptgeschäft abgestohlener stiller Sonntagnachmittag, an dem ich Sie herzlich begrüsse als Ihr
aufrichtig erg AS.

Prag 25/2 12
Smichow 586

L. F. Sie haben recht, es ist zu traurig, so echolos zu arbeiten. Ich hab es leider nur [z]u oft in früherer Zeit erlebt, wo Sie aber immer meine Stütze waren. Ich fühle mich also diesmal mitschuldig; aber nicht in Bezug auf die Teilnahmslosigkeit, sondern nur in Bezug auf das Stillschweigen. Dieses aber erklärt sich aus meiner verzweifelten Situation: 7 Bde Texte gesetzt u. keiner noch ganz fertig. Brandbrief auf Brandbrief aus Wien. Poenale vor Augen, ausserdem: Zinsenentgang für den Drucker; zu Beginn des April soll ich ausserdem ausspannen. Kurz & gut: ein Gedränge sondergleichen. Und so kam ich zu dem Brief nicht.
Ich behandle in diesem Semester im Seminar Technik des Dramas. Daher hab ich jede Ihrer beiden Abhandlungen sofort aufmerksam gelesen, im Seminar besprechen lassen und auch als Muster anempfohlen. Ich halte alle Ihre Beobachtungen für richtig und für sehr fein; nur meine ich, betrifft ein Teil davon mehr das allgemeinpoetische als das spezifisch dramatische u. der Egmont könnte vielleicht doch noch immer ein schlechtgebautes Drama sein und doch eine wunderbar architektonisch gebaute [Di]chtung. Ich habe mir es so zu versinnbildlichen gesucht. Der grosse Kreis wäre das allgemein Skizze zweier konzentrischer Kreise samt Mittelpunkt poetische, was jedes Kunstwerk haben muss, oder das allgemein künstlerische; der kleine Kreis das spezifisch dramatische u. der Punkt das individuell persönliche. Darauf bin ich gekom[m]en, weil ein paar Fanatiker der Technik unter meinen Zuhörern nicht zu bekehren waren. Für mein Gefühl haben Sie bewiesen, dass der Egmont auch ein gut gebautes Drama ist. Was die Beobachtung der Gruppenbildung im Drama betrifft, haben Sie einen Vorläufer an Werner in den Forschungen für Heinzel; nur hat er etwas doktrinär alles am ma. Drama exemplifiziert. Aber sonst hat Werners Beobachtung mit Ihrer grosse Verwandtschaft. – Dass ich zunächst unabhängig von Ihnen – d.h. vor dem Erscheinen Ihres 1. Aufsatzes, aber doch wohl unter der Nachwirkung Ihrer mündlichen Anregung – Freytag & Dickens habe untersuchen lassen, habe ich Ihnen schon in Graz gesagt. Die Arbeit ist leider seit einem Jahr in der Druckerei, seit 6 Monaten ausgesetzt und durch die Tafeln verzögert. Ich hoffe sie aber demnächst hinauszubringen. Ein [bes.] Kirchenlicht ist der fleissige u. ordentliche Vf. der Arbeit, der Sohn unseres Romanisten, nicht. Im Übrigen mein ich, entweder muss man Meisterwerke untersuchen, oder ungeheure Massen wie Dibelius, sonst versagt die Methode leicht, oder besser sie versandet. Sie ist nicht leicht, wie es auf den ersten Augenblick aussehen möchte und nur [der] Meister handhabt sie richtig. Vielleicht aber dürfte man das von jeder Methode sagen. – Dies erlaubte mir zu schreiben ein dem Hauptgeschäft abgestohlener stiller Sonntagnachmittag, an dem ich Sie herzlich begrüsse als Ihr
aufrichtig erg AS.

Briefdaten

Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 423/1-587
Umfang: 4 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9323 [Druckausgabe Nr. 266]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9323/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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