Prag 8/12 13
Smichow 586
Lieber Freund!
Ich habe Zeynecks Rede nicht gelesen. Er sprach auf den beiden früheren Kommersen auf denen ich war (Germania – national; Lesehalle – freiheitlich) so schlecht und unlogisch, dass es mich verdross, ein weiteres Gestammel anzuhören oder zu lesen. Aber im Allgemeinen steht die Sache bei uns so: [s]eit den Bummelunruhen im Jahr 1908 (während meines Prorektorats), bei denen die klerikalen Studenten sich ebenso mutig, tapfer und national benommen hatten, wie alle andern, sieht man sie in Professorenkreisen als völlig gleichberechtigt an; der Rektor und die Dekane (wenn es nicht gerade Juden sind) gehen auf den Kommers ganz regelmässig und alle Rektoren der letzten Jahre haben dort auch gesprochen (ich noch nicht). So viel ich weiss, ist Zeyneck liberal, ausgesprochen klerikal kaum; er wird wohl in seiner kindlichen Harmlosigkeit etwas über den Strang geschlagen haben.
In der freiheitlichen Studentenschaft hat seine Rede offenbar böses Blut gem[ac]ht. Am letzten Sonntag (30. Nov.) rempelten sie die Klerikalen in dem (öffentlichen) Promenade-Konzerte, das in dem grossen Saal unseres Studentenheims allsonntäglich stattfindet, an und für gestern war ein Skandal angekündigt, für den Fall als die Klerikalen wieder in Farben dahin kämen. Es ist dem Rektor ge[lu]ngen einen Ausgleich zu erzielen. Auch hat man deshalb wohl schon Samstag den 6. die Vorlesungen im Allgemeinen geschlossen, damit die Studenten nach Hause können (eine Sache, die pädagogisch unserer Universität so sehr schadet).
Dass sich die Verhandlungen mit Ihnen zerschlagen haben, tut mir sehr leid. Persönlich [fü]r Sie ist es vielleicht ein Vorteil; denn was für einen Augiasstall hätten Sie zu reinigen gehabt. Wenn aber jetzt, wie ich höre, mit Brecht verhandelt werden soll, so ist das für alle jüngeren Österreicher doch eine schreiende Ungerechtigkeit.
Herzlich grüssend Ihr treulich erg. AS.
Prag 8/12 13
Smichow 586
Lieber Freund!
Ich habe Zeynecks Rede nicht gelesen. Er sprach auf den beiden früheren Kommersen auf denen ich war (Germania – national; Lesehalle – freiheitlich) so schlecht und unlogisch, dass es mich verdross, ein weiteres Gestammel anzuhören oder zu lesen. Aber im Allgemeinen steht die Sache bei uns so: [s]eit den Bummelunruhen im Jahr 1908 (während meines Prorektorats), bei denen die klerikalen Studenten sich ebenso mutig, tapfer und national benommen hatten, wie alle andern, sieht man sie in Professorenkreisen als völlig gleichberechtigt an; der Rektor und die Dekane (wenn es nicht gerade Juden sind) gehen auf den Kommers ganz regelmässig und alle Rektoren der letzten Jahre haben dort auch gesprochen (ich noch nicht). So viel ich weiss, ist Zeyneck liberal, ausgesprochen klerikal kaum; er wird wohl in seiner kindlichen Harmlosigkeit etwas über den Strang geschlagen haben.
In der freiheitlichen Studentenschaft hat seine Rede offenbar böses Blut gem[ac]ht. Am letzten Sonntag (30. Nov.) rempelten sie die Klerikalen in dem (öffentlichen) Promenade-Konzerte, das in dem grossen Saal unseres Studentenheims allsonntäglich stattfindet, an und für gestern war ein Skandal angekündigt, für den Fall als die Klerikalen wieder in Farben dahin kämen. Es ist dem Rektor ge[lu]ngen einen Ausgleich zu erzielen. Auch hat man deshalb wohl schon Samstag den 6. die Vorlesungen im Allgemeinen geschlossen, damit die Studenten nach Hause können (eine Sache, die pädagogisch unserer Universität so sehr schadet).
Dass sich die Verhandlungen mit Ihnen zerschlagen haben, tut mir sehr leid. Persönlich [fü]r Sie ist es vielleicht ein Vorteil; denn was für einen Augiasstall hätten Sie zu reinigen gehabt. Wenn aber jetzt, wie ich höre, mit Brecht verhandelt werden soll, so ist das für alle jüngeren Österreicher doch eine schreiende Ungerechtigkeit.
Herzlich grüssend Ihr treulich erg. AS.
Dass sich die Verhandlungen mit Ihnen zerschlagen haben, tut mir sehr leid. Persönlich [fü]r Sie ist es vielleicht ein Vorteil; denn was für einen Augiasstall hätten Sie zu reinigen gehabt. Wenn aber jetzt, wie ich höre, mit Brecht verhandelt werden soll, so ist das für alle jüngeren Österreicher doch eine schreiende Ungerechtigkeit.
Sauer bedauerte, dass Seufferts Verhandlungen für die Nachbesetzung der Stelle in Wien zu keiner Einigung geführt hatten. Die Verhandlungen mit dem deutschen Germanisten Walther Brecht waren hingegen erfolgreich und Brecht trat 1914 seine Stelle in Wien an.
Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 423/1-603
Umfang: 3 Seite(n)
Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-9354 [Druckausgabe Nr. 275]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9354/methods/sdef:TEI/get
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