Lieber freund Ich bitte um nachricht über Ihr befinden u. hoffe, dass sie recht gut lautet. Mein dasein geht unter sorgen u. erschütterungen hin. Unsere gute mutter, die Sie auf der Tressen auch gesehen haben, ist seit dem kriege immer schwächer geworden und starb in der vorletzten augustwoche, nachdem sie im zimmer gefallen u. ein bein gebrochen hatte. Wir vermissen diesen optimistischen mittelpunkt sehr; es nützt nichts, dass das hohe alter von fast 86 jahren uns auf den verlust bereit sein liess. Mein älterer sohn ist nun seit ende juli in Ungarn; ein paar wochen war er mit schwerer aderhautentzündung zuhause u. jetzt ein paar tage nach grossmutters tod. Bisher war er als abrichterleutnant geborgen; jetzt aber steht er vielleicht irgendwo im feuer, denn er wurde trotz der hohen kurzsichtigkeit, die ihn überhaupt dienstfrei machen sollte nach den vorschriften, für felddiensttauglich erklärt und wir sind seit 2 wochen ohne nachricht. Der jüngere brach als einj. freiw. im vorigen oktober zusammen, wurde als untauglich aus dem heer entlassen, rückte im juni wieder bei der landwehr ein u. da er natürlich wieder nicht dienstfähig war, ist er seit kurzem beurlaubt. Sein organisches nervenleiden ist dabei erheblich schlechter geworden u. es wird jahre bedürfen, ihn auch nur für leichte zivile arbeit fähig zu machen, wenn überhaupt. Inzwischen wird man ihn aber sicher bald wieder aufs neue einberufen. Meine frau u. ich leiden schwer unter der not, die zu dem allgemeinen jammer dazu kommt. Die Hoffnung auf einen gesegneten frieden muss ich immer wieder auf eine dunkle zukunft vertrösten. Und meine gefallenen schüler gibt er mir nicht wieder.
Mit der arbeit geht es nicht. Mühsam ringe ich mir dies u. jenes kleine ab. Die Wielandausgabe stockt. U. wenn ich auf alte, noch unter Erich Schm. begonnene bände zurückgreife, hab ich keine freude. Das sind nicht die mitarbeiter, die ich brauche; ohne wutanfall schlag ich kaum eine seite auf. Ein redaktor kann nicht verhalten werden, jedes wort mit der vorlage zu vergleichen. Schweren herzens schliesse ich nun, während der herausgeber irgendwo im felde steht, einen band ab; es muss doch ein äusseres ende gesetzt werden.
Jetzt erst kam ich dazu Nadlers Wissenschaftslehre zu lesen. Ich bin sehr neugierig, zu hören wie Sie sich dazu stellen. Ist es altersschwäche, dass ich mich nicht gefördert dadurch fühle? Und diese spanischen stiefel der logik passen nicht für mich; ich verstehe den wert der einschnürung nicht, habe ihn schon als student nicht geschätzt. Erheiternd wirkt für jeden, der die österr. verhältnisse kennt, die bewertung des philos. rigorosums, zu eingang.
Wie steht es mit Ihrem Grillparzer? schreitet er trotz alledem voran?
Mit den besten wünschen in alter treue
Ihr
BSfft.

Lieber freund Ich bitte um nachricht über Ihr befinden u. hoffe, dass sie recht gut lautet. Mein dasein geht unter sorgen u. erschütterungen hin. Unsere gute mutter, die Sie auf der Tressen auch gesehen haben, ist seit dem kriege immer schwächer geworden und starb in der vorletzten augustwoche, nachdem sie im zimmer gefallen u. ein bein gebrochen hatte. Wir vermissen diesen optimistischen mittelpunkt sehr; es nützt nichts, dass das hohe alter von fast 86 jahren uns auf den verlust bereit sein liess. Mein älterer sohn ist nun seit ende juli in Ungarn; ein paar wochen war er mit schwerer aderhautentzündung zuhause u. jetzt ein paar tage nach grossmutters tod. Bisher war er als abrichterleutnant geborgen; jetzt aber steht er vielleicht irgendwo im feuer, denn er wurde trotz der hohen kurzsichtigkeit, die ihn überhaupt dienstfrei machen sollte nach den vorschriften, für felddiensttauglich erklärt und wir sind seit 2 wochen ohne nachricht. Der jüngere brach als einj. freiw. im vorigen oktober zusammen, wurde als untauglich aus dem heer entlassen, rückte im juni wieder bei der landwehr ein u. da er natürlich wieder nicht dienstfähig war, ist er seit kurzem beurlaubt. Sein organisches nervenleiden ist dabei erheblich schlechter geworden u. es wird jahre bedürfen, ihn auch nur für leichte zivile arbeit fähig zu machen, wenn überhaupt. Inzwischen wird man ihn aber sicher bald wieder aufs neue einberufen. Meine frau u. ich leiden schwer unter der not, die zu dem allgemeinen jammer dazu kommt. Die Hoffnung auf einen gesegneten frieden muss ich immer wieder auf eine dunkle zukunft vertrösten. Und meine gefallenen schüler gibt er mir nicht wieder.
Mit der arbeit geht es nicht. Mühsam ringe ich mir dies u. jenes kleine ab. Die Wielandausgabe stockt. U. wenn ich auf alte, noch unter Erich Schm. begonnene bände zurückgreife, hab ich keine freude. Das sind nicht die mitarbeiter, die ich brauche; ohne wutanfall schlag ich kaum eine seite auf. Ein redaktor kann nicht verhalten werden, jedes wort mit der vorlage zu vergleichen. Schweren herzens schliesse ich nun, während der herausgeber irgendwo im felde steht, einen band ab; es muss doch ein äusseres ende gesetzt werden.
Jetzt erst kam ich dazu Nadlers Wissenschaftslehre zu lesen. Ich bin sehr neugierig, zu hören wie Sie sich dazu stellen. Ist es altersschwäche, dass ich mich nicht gefördert dadurch fühle? Und diese spanischen stiefel der logik passen nicht für mich; ich verstehe den wert der einschnürung nicht, habe ihn schon als student nicht geschätzt. Erheiternd wirkt für jeden, der die österr. verhältnisse kennt, die bewertung des philos. rigorosums, zu eingang.
Wie steht es mit Ihrem Grillparzer? schreitet er trotz alledem voran?
Mit den besten wünschen in alter treue
Ihr
BSfft.

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 3 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9363 [Druckausgabe Nr. 277]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9363/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

LinksInformation

Das Bildmaterial dieser Webseite sind Reproduktionen aus den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek und des Staatsarchivs Würzburg. Für jede weitere Verwendung wenden Sie sich bitte an die jeweilige Institution.