Prag 27/9 15
Smichow 586
Lieber Freund!
Der Hingang Ihrer lieben Mutter betrübt mich tief und meine Frau schliesst sich mir im Ausdruck der innigsten Teilnahme herzlichst an. Ich weiss es ja von meinem eigenen Vater her, den ich bis zum 83. Jahre um mich haben durfte, dass sich eine solche Lücke niemals schliesst und [da]ss das Letzte immer zu früh kommt. Und nun müssen Sie auch um Ihre Söhne sorgen und zittern. Ich habe Ihrer oft gedacht und wenn mir nicht jede Zeile so schwer fiele, hätte ich schon längst wieder bei Ihnen angefragt. Wenn Ihnen die teuren Kinder nur wenigstens erhalten bleiben. Ich bin von dem vielen Kummer und Elend rings herum sch[on] ganz stumpf und ersehne den Tag, an dem wenigstens die Kanonen und Gewehre schweigen werden, wenn auch dann noch viel zu überstehen sein wird.
Ich habe 2 Monate in dem schönen Gross-Gmain bei Salzburg verbracht; aber leider alle Augenblick im Bette; heute bin ich nach 14 Tagen wieder z. 1. Mal aufgestanden; freilich inzwischen ????? Reise gemacht, weil es schon kalt und ungemütlich geworden war. Man will jetzt wieder einmal eine neue Kur an mir versuchen; aber ich fürchte für die Arbeit des Winters sehr. Fast alle Mitarbeiter der Ausgabe sind einberufen und die meisten haben die Bände unfertig hinterlassen. Wenn ich nur e[in] paar Wochen zusammenhängend arbeitsfähig bliebe, so könnte ich mehrere Bände, die knapp vor dem Abschluss stehen, fertig machen. Aber ich bin von einem Tag zum andern nicht Herr meiner Zeit und meiner Gesundheit. –
Der theoretische Rausch, der über alle jüngeren Fachgenossen gekommen ist, wird sich wieder verflüchtigen. Ich betrachte das als Vollendeter wie aus den Wolken herab. Zu Nadler habe ich trotz mancher Widersprüche im Einzelnen doch das grösste Vertrauen. Der dritte Band seiner Lit. Gesch., soweit er im Man. vorliegt, ist eine grossartige Leistung, vor der ich mein Haupt beuge. Ich selbst kann die neue Richtung nicht mehr mitmachen und wäre froh genug, wenn ich die alten (und veralteten) [Er]nten noch in die Scheune brächte.
In alter Liebe und Treue
Ihr
stets angeeigneter
ASauer.
Prag 27/9 15
Smichow 586
Lieber Freund!
Der Hingang Ihrer lieben Mutter betrübt mich tief und meine Frau schliesst sich mir im Ausdruck der innigsten Teilnahme herzlichst an. Ich weiss es ja von meinem eigenen Vater her, den ich bis zum 83. Jahre um mich haben durfte, dass sich eine solche Lücke niemals schliesst und [da]ss das Letzte immer zu früh kommt. Und nun müssen Sie auch um Ihre Söhne sorgen und zittern. Ich habe Ihrer oft gedacht und wenn mir nicht jede Zeile so schwer fiele, hätte ich schon längst wieder bei Ihnen angefragt. Wenn Ihnen die teuren Kinder nur wenigstens erhalten bleiben. Ich bin von dem vielen Kummer und Elend rings herum sch[on] ganz stumpf und ersehne den Tag, an dem wenigstens die Kanonen und Gewehre schweigen werden, wenn auch dann noch viel zu überstehen sein wird.
Ich habe 2 Monate in dem schönen Gross-Gmain bei Salzburg verbracht; aber leider alle Augenblick im Bette; heute bin ich nach 14 Tagen wieder z. 1. Mal aufgestanden; freilich inzwischen ????? Reise gemacht, weil es schon kalt und ungemütlich geworden war. Man will jetzt wieder einmal eine neue Kur an mir versuchen; aber ich fürchte für die Arbeit des Winters sehr. Fast alle Mitarbeiter der Ausgabe sind einberufen und die meisten haben die Bände unfertig hinterlassen. Wenn ich nur e[in] paar Wochen zusammenhängend arbeitsfähig bliebe, so könnte ich mehrere Bände, die knapp vor dem Abschluss stehen, fertig machen. Aber ich bin von einem Tag zum andern nicht Herr meiner Zeit und meiner Gesundheit. –
Der theoretische Rausch, der über alle jüngeren Fachgenossen gekommen ist, wird sich wieder verflüchtigen. Ich betrachte das als Vollendeter wie aus den Wolken herab. Zu Nadler habe ich trotz mancher Widersprüche im Einzelnen doch das grösste Vertrauen. Der dritte Band seiner Lit. Gesch., soweit er im Man. vorliegt, ist eine grossartige Leistung, vor der ich mein Haupt beuge. Ich selbst kann die neue Richtung nicht mehr mitmachen und wäre froh genug, wenn ich die alten (und veralteten) [Er]nten noch in die Scheune brächte.
In alter Liebe und Treue
Ihr
stets angeeigneter
ASauer.
Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 423/1-609
Umfang: 4 Seite(n)
Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-9364 [Druckausgabe Nr. 278]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9364/methods/sdef:TEI/get
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