Prag 29/4 1923
Smichow 586
Lieber Freund!
Frl. Thalmann kann ganz unbesorgt s[ei]n, wie ich ihr auch persönlich schrieb; ich werde das Buch nicht Pirker überweisen. Ich denke an Enzinger, dem Motivgeschichte am nächsten liegt. Freilich das überaus fleissige Buch beruht nach meiner Meinung auf einer falschen Voraussetzung, für den jungen Tieck und E. Th. A. Hoffmann mag es richtig sein; aber der übrige Roman der Romantiker hat andere Quellen. Jedenfalls ist der Aperçu überspannt. Freilich sind mir solche Bücher noch immer lieber als die der geistreichen jüngsten Generation. Am ärgsten treibt es Czycharz !, der deswegen auch mit dem Schererpreis gekrönt wurde; an Verworrenheit ist nicht mehr zu übertreffen. In der philos. Gesellschaft in Wien sagte er als Probe seiner neuen Methode: man spreche beim Werther immer vom Einfluss der Sentimentalitätsperiode, des Rousseau [u]s.w.; aber das Ganze seien doch nur Kosmische Agentien, in Goethe materialisiert. Zu Srbik, den wir vor kurzem hier zu begrüssen die Freude hatten, sagte er: er wisse ja nicht wie lange er lebe; alle Dichter könne er doch nicht lesen; also fange er gar nicht damit an. Und solche Leute kriechen schon jetzt um einen herum und lugen nach unsern Lehrkanzeln aus!
Einem von ihnen, einem Strichianer, ist leider auch der Euphorion aufgesessen. Ein gewisser Hübscher, mir von den Münchnern gut empfohlen, schickte mir seine fleissige brauchbare Disserta- tion über die Chiffern in Neukirchs Sammlung, die ich abdruckte. Bald darauf kam ein zweites Man. über das Barock des 17 Jhs. Obwohl ich [mi]t vielem nicht einverstanden war, nahm ichs an. Unmittelbar nach dem Erscheinen von Fritz Strich unendlicher Vollendung oder vollendeter Unendlichkeit forderte er sein Man. zur Umarbeitung zurück und schrieb es – o Schrecken – auf der Rückseite ins Unendliche um. Ich hätte wohl den Mut aufbringen müssen, diese Verstrichlung und Verschlechterung zurückzuweisen; nun hab ich mir das eigene Nest versenett, gerade zu derselben Zeit als der neue Seuchenherd in Halle begründet wurde. In Zukunft will ich vorsichtiger sein. – Leider liess mir Fromme das sonst sehr gute Heft 5 Monate liegen, weil er beim Marksturz einige Verluste gehabt hatte und so bin ich wieder ins Hintertreffen gekommen; aber nun werden Sie die Korrekturen des Jubiläumsheftes bald bekommen. Kös[ter]konnte es nicht erwarten und zwang mich seinen Aufsatz früher zu bringen. So ist mir meine Absicht nur halb gelungen. Trotzdem ist das Heft sehr wertvoll und enthält ausser Ihrem u. Elsters Aufsatz sehr interessante Briefe von Jakob Grimm, Müllenhoff etc.
In Wien gabs namenlosen Ärger; die Grillparzerausgabe soll an Schroll verkau[ft] werden, was für den Vertrieb ganz gut wäre, auch für das Tempo; nur wollen sie die Ausgabe drosseln. Der Umweg gieng über eine von Schroll geplante Volksausgabe, wobei sich Dr. Rollett, den ich für anständig hielt, sehr schlecht benommen hat. Überhaupt ist jetzt die ganze Welt käuflich!! Wir können mit Meister Anton ausrufen: Ich kenne die Welt nicht mehr.
Herzliche Grüsse von Ihrem getreuen A. S.
Ein amerik. Buch über Wielands Verhältnis zu den Frauen läge bei mir, wollen Sie nicht 5 Zeilen darüber schreiben oder auch mehr. Einen interessanten Aufsatz von Steinberger konnte ich leider Raummangels nicht annehmen.
Prag 29/4 1923
Smichow 586
Lieber Freund!
Frl. Thalmann kann ganz unbesorgt s[ei]n, wie ich ihr auch persönlich schrieb; ich werde das Buch nicht Pirker überweisen. Ich denke an Enzinger, dem Motivgeschichte am nächsten liegt. Freilich das überaus fleissige Buch beruht nach meiner Meinung auf einer falschen Voraussetzung, für den jungen Tieck und E. Th. A. Hoffmann mag es richtig sein; aber der übrige Roman der Romantiker hat andere Quellen. Jedenfalls ist der Aperçu überspannt. Freilich sind mir solche Bücher noch immer lieber als die der geistreichen jüngsten Generation. Am ärgsten treibt es Czycharz !, der deswegen auch mit dem Schererpreis gekrönt wurde; an Verworrenheit ist nicht mehr zu übertreffen. In der philos. Gesellschaft in Wien sagte er als Probe seiner neuen Methode: man spreche beim Werther immer vom Einfluss der Sentimentalitätsperiode, des Rousseau [u]s.w.; aber das Ganze seien doch nur Kosmische Agentien, in Goethe materialisiert. Zu Srbik, den wir vor kurzem hier zu begrüssen die Freude hatten, sagte er: er wisse ja nicht wie lange er lebe; alle Dichter könne er doch nicht lesen; also fange er gar nicht damit an. Und solche Leute kriechen schon jetzt um einen herum und lugen nach unsern Lehrkanzeln aus!
Einem von ihnen, einem Strichianer, ist leider auch der Euphorion aufgesessen. Ein gewisser Hübscher, mir von den Münchnern gut empfohlen, schickte mir seine fleissige brauchbare Disserta- tion über die Chiffern in Neukirchs Sammlung, die ich abdruckte. Bald darauf kam ein zweites Man. über das Barock des 17 Jhs. Obwohl ich [mi]t vielem nicht einverstanden war, nahm ichs an. Unmittelbar nach dem Erscheinen von Fritz Strich unendlicher Vollendung oder vollendeter Unendlichkeit forderte er sein Man. zur Umarbeitung zurück und schrieb es – o Schrecken – auf der Rückseite ins Unendliche um. Ich hätte wohl den Mut aufbringen müssen, diese Verstrichlung und Verschlechterung zurückzuweisen; nun hab ich mir das eigene Nest versenett, gerade zu derselben Zeit als der neue Seuchenherd in Halle begründet wurde. In Zukunft will ich vorsichtiger sein. – Leider liess mir Fromme das sonst sehr gute Heft 5 Monate liegen, weil er beim Marksturz einige Verluste gehabt hatte und so bin ich wieder ins Hintertreffen gekommen; aber nun werden Sie die Korrekturen des Jubiläumsheftes bald bekommen. Kös[ter]konnte es nicht erwarten und zwang mich seinen Aufsatz früher zu bringen. So ist mir meine Absicht nur halb gelungen. Trotzdem ist das Heft sehr wertvoll und enthält ausser Ihrem u. Elsters Aufsatz sehr interessante Briefe von Jakob Grimm, Müllenhoff etc.
In Wien gabs namenlosen Ärger; die Grillparzerausgabe soll an Schroll verkau[ft] werden, was für den Vertrieb ganz gut wäre, auch für das Tempo; nur wollen sie die Ausgabe drosseln. Der Umweg gieng über eine von Schroll geplante Volksausgabe, wobei sich Dr. Rollett, den ich für anständig hielt, sehr schlecht benommen hat. Überhaupt ist jetzt die ganze Welt käuflich!! Wir können mit Meister Anton ausrufen: Ich kenne die Welt nicht mehr.
Herzliche Grüsse von Ihrem getreuen A. S.
Ein amerik. Buch über Wielands Verhältnis zu den Frauen läge bei mir, wollen Sie nicht 5 Zeilen darüber schreiben oder auch mehr. Einen interessanten Aufsatz von Steinberger konnte ich leider Raummangels nicht annehmen.
Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 423/1-624
Umfang: Postkarte
Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-9399 [Druckausgabe Nr. 287]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9399/methods/sdef:TEI/get
LizenzhinweisDie Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.
LinksDas Bildmaterial dieser Webseite sind Reproduktionen aus den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek und des Staatsarchivs Würzburg. Für jede weitere Verwendung wenden Sie sich bitte an die jeweilige Institution.