Themenkommentar "Literarische Netzwerke"

Andreas Okopenko war ein wichtiger, heute aber wenig bekannter Netzwerker im österreichischen Literaturbetrieb der frühen 1950er Jahre. Im "Arbeitskreis" der Kulturzeitschrift "Neue Wege" nahm er eine zentrale Rolle ein und war von besonderer Bedeutung als erst 21–jähriger Herausgeber seiner eigenen Literaturzeitschrift, den "publikationen einer wiener gruppe junger autoren", die er rückblickend charakterisierte als "einzige oder letzte Avantgardezeitschrift Nachkriegsösterreichs, die die Illusion hegte, mit ein paar Gedichten und einer Handvoll Mitarbeitern die Welt zu verändern" (Okopenko 1966, 101). Um diese Zeitschrift versammelte er eine Gruppe von wichtigen ProtagonistInnen der progressiven Nachkriegsliteratur in Österreich: H.C. Artmann, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker und viele andere.

Heute kommt niemand von meinen Freunden, notiert Okopenko am 18. Juni 1950 in sein Tagebuch. Dieses Zitat zeigt, dass er zu diesem Zeitpunkt so eng in seinen literarischen Freundeskreis eingebunden war, dass er einen Abend ohne Zusammentreffen mit seinen FreundInnen hervorhebt. Wenige Monate zuvor war er zum "Arbeitskreis" der "Neuen Wege" gestoßen, einer Zeitschrift, die 1945 gegründet worden waren, vom "Theater der Jugend" herausgegeben wurde und der Kulturvermittlung an Jugendliche dienen sollte.

Okopenkos Mitarbeit an den "Neuen Wegen"

Nachdem er 1949 bereits einige Texte in den "Neuen Wegen" veröffentlicht hatte, trifft Okopenko am 16. Jänner 1950 im Rahmen einer von den "Neuen Wegen" organisierten Tagung junger AutorInnen zum ersten Mal mit anderen SchriftstellerInnen zusammen und macht dort für seine weitere Karriere wegweisende Bekanntschaften. Die jungen AutorInnen – als "jung" wird bei der Tagung definiert, wer 1914 oder später geboren wurde – konstituieren sich zu einem "Komitee" oder "Arbeitskreis", dessen Mitglieder auf Basis der besten Veröffentlichungen aus den Heften des Jahres 1949 gewählt werden. Unter ihnen ist auch Okopenko, dessen "Prolog zum Weihnachtsfest" große Zustimmung findet. Auf seinen Vorschlag hin wird der Untertitel der Zeitschrift von "Kulturzeitschrift für junge Menschen" zu "Kulturzeitschrift junger Menschen" geändert.

Die Zusammenkünfte des "Arbeitskreises" finden ab Mitte Februar 1950 wöchentlich dienstagabends im Grillparzersaal an der Batthyanystiege in der Hofburg statt. Zu den gewählten Mitgliedern des "Arbeitskreises" liegen in Okopenkos Vor– und Nachlass und in den Essays unterschiedliche Angaben vor; genannt werden neben Okopenko meist René Altmann, Erika Danneberg, Herbert Eisenreich, Ernst Kein, Karl Nahlik, Friedrich Polakovics, Rudolf Scherz, Gertrud Sokol, Otto Stenzl und Wolfgang Strobach (vgl. Teilvorlass Okopenko, OELA 269/"Neue Wege"). Bald nimmt auch H.C. Artmann regelmäßig an den Treffen des "Arbeitskreises" teil und im März stoßen auf Artmanns Einladung Helene Diem, Elfriede Hauer und Liselotte Matiasek hinzu. Die LyriklektorInnen halten gesonderte Treffen ab – neben Okopenko sind als solche im September 1950 René Altmann, H.C. Artmann, Elfriede Hauer, Ernst Kein und Friedrich Polakovics belegt (vgl. Teilvorlass Okopenko, OELA 269a/Neue Wege) –, die zum Teil auch in den Wohnungen der Arbeitskreismitglieder (beispielsweise bei Elfriede Hauer, aber auch bei Okopenko) stattfinden.

In den sechs Monaten, die auf die Autorentagung folgen, trifft Okopenko den neun Jahre älteren H.C. Artmann etwa vierzigmal, d.h. im Schnitt fast zweimal pro Woche. Er sagt, er fühlt sich so isoliert in seinem Zimmer, vor der Autorentagung hatte er überhaupt keinen Kontakt mit gleichinteressierten Menschen. Artmann nimmt 1950 eine Schlüsselfunktion als Gesprächspartner für Okopenko ein und öffnet ihm das Tor zu internationaler Literatur (vgl. auch Okopenko 2000: Progressivliteratur, 20), macht ihn mit der spanischen Kurzform der "Greguerías" vertraut, die Okopenko im Folgenden mehrfach praktiziert, und leiht ihm u.a. Bände mit Gedichten T.S. Eliots und flämischer Dichtung. Es ist jetzt eine bewegte Zeit für mich, ein Aufbruch, konstatiert der zu diesem Zeitpunkt 21–jährige Okopenko.

Bei den gemeinsamen Treffen werden aber nicht nur Einsendungen für die "Neuen Wege", sondern auch Texte der Arbeitskreismitglieder diskutiert; so findet sich in den Tagebüchern Okopenkos beispielsweise ein Manuskript mit seinem Gedicht "Maja Nueva", welches mit Kommentaren von Schriftstellerkollegen versehen ist. Auch ein Abstimmungszettel, auf welchem nachvollziehbar ist, welches Arbeitskreismitglied für oder gegen ein bestimmtes Gedicht stimmte, ist in die Tagebücher eingelegt.

Daneben werden auch Texte internationaler Schriftsteller diskutiert, von Walt Whitman über Federico García Lorca bis zu Jean–Paul Sartre. Eine wichtige Rolle nimmt in den Diskussionen – und in besonderem Ausmaß auch für Okopenko selbst – T.S. Eliots frühes Werk ein (siehe Abschnitt "Eliot–Rezeption"). Besprochen wird weiters, welche AutorInnen man auf den Weltliteraturseiten der "Neuen Wege" vorstellen solle. Okopenko bringt im Tagebuch seinen Ärger über Erika Dannebergs Vorschlag zum Ausdruck, man solle statt Eluard lieber Goethe präsentieren, um an dessen Texten formschönes Schreiben zu erlernen. Auch ihr Vorschlag, sich von erfahrenen Schriftstellern leiten zu lassen, anstatt eine fruchtbare Wechselwirkung durch freien Gedankenaustausch junger Kräfte zu erstreben macht ihn "fuchswild".

In den folgenden eineinhalb Jahren finden zahlreiche Lesungen statt, die in den Tagebüchern dokumentiert sind: im Musikverein, im Konzerthaus, am Konservatorium, im "Institut für Wissenschaft und Kunst", in Schulen usw. Anlässlich der ersten Dichterlesung der Neuen Wege am 25. Februar 1950 im Schreyvogelsaal der Hofburg echauffiert sich Okopenko in den Tagebüchern über das Publikum, da nicht die "literarisch interessierte Jugend" gekommen sei, sondern "Bildungselefanten, oft recht kostbar geziert".

Surrealismus

Schon bei der ersten Autorentagung am 16. Jänner 1950 fordert René Altmann für die "Neuen Wege" die Gleichberechtigung der surrealistischen Kunst und bezeichnet diese als führende Kunstrichtung, worauf mit "Ho ...! Ho ...!"–Rufen geantwortet wird; der Antrag, auch surrealistische Gedichte in den "Neuen Wegen" zu publizieren, wird jedoch angenommen.

Bezeichnenderweise wird H.C. Artmann, als er im Februar 1950 zum "Arbeitskreis" stößt, von Okopenko als der zweite Surrealist – neben René Altmann – in die Tagebücher eingeführt. Nachdem er die beiden Namen verwechselt zu haben scheint (er verschreibt sich zunächst und bessert "Altmann" zu "Artmann" aus), kommentiert er: Artmann ist zu unterscheiden von Altmann, interessanterweise sind beide Surrealisten.

Okopenkos Aussagen zum Surrealismus in den Tagebüchern geben Aufschluss über seine diesbezügliche Haltung, die abwechselnd von Faszination und Distanzierungsbestrebungen gekennzeichnet ist. Er versucht sich selbst an Zeichnungen und Gedichten, die er als "surrealistisch" bezeichnet, und hält die Reaktion Artmanns darauf im März 1950 im Tagebuch fest:

Er las, erstarrte, besann sich, las weiter, und als er zu Ende war, konnte er einen Augenblick nicht sprechen, dann nannte er mich einen führenden Surrealisten; er war richtig ergriffen, dass ein anderer, vor allem ich, mich seinem Kampf um das Surreale anschloss. Er zählt mich von heute an zu denen wie Eluard und Mayröcker und spricht davon, dass man aus meinen solchen Gedichten unleugbar das Mitteleuropäische herausliest, und darauf kommt es an, wenn wir einen selbständigen Surrealismus wollen. Die Nachahmung des Surrealismus ist gar nichts, denn seine Kraft kommt nicht aus einer Form, die noch nachgeahmt werden kann, sondern aus der Schöpfungskraft des Unterbewussten. (Tagebuchstelle)

Sehr bald aber scheinen Okopenko gewisse Zweifel gekommen zu sein, denn nur vier Tage später notiert er: Ich bekam Skrupel über den Surrealismus und will der surrealistischen Mode nicht nachgeben.

Kritik an als "surrealistisch" bezeichneten Texten kommt nicht nur von außen (siehe Abschnitt "Erste Widerstände von außen"), sondern auch aus den eigenen Reihen. Der Schriftsteller Herbert Eisenreich veröffentlicht im Aprilheft 1950 der "Neuen Wege" den Text "Surrealismus und so", in welchem er sich über eine fehlende Definition beschwert:

Fragt man einen unserer literarischen Surrealisten [was Surrealismus sei, LT], so erfährt man: Primat des Unbewußten ... Traum ... Fort mit dem Reim ... Intuition ... Psychoanalyse ... modern ... und überhaupt ... also, nichts! (Eisenreich 1950, 503)

Es ist davon auszugehen, dass "Surrealismus" zu diesem Zeitpunkt meistens als Sammelbegriff für alles radikal Moderne gebraucht wurde, wie Max Blaeulich in seinem Nachwort zu Artmanns Keller–Band schreibt (vgl. Blaeulich 1994, 88). Dabei darf gerade Eisenreichs Kritik nicht für Banausentum, sondern vielmehr für ein konservatives Bekenntnis zum "Zeitlos–Unmodernen" (Strigl 2008) gehalten werden. Für die folgende Nummer der "Neuen Wege" schreibt Okopenko eine Entgegnung, die "Apologie ohne Surrealismus", in welcher er den Gegnern des Surrealismus – zuvorderst Eisenreich – unrealistische Erwartungen an Surrealisten vorhält:

Man wirft ihnen Aussprüche von Dali und Aragon und Eluard vor, erwartet stündlich, sie von Laternenmasten herab in die Menge schießen zu sehen und dergleichen. [...] Surrealismus ist ein Sammelname für jegliche mehr oder weniger literarische Verrücktheit, Surrealismus ist eine Sünde, Surrealismus ist eine Art Desperados–Heldentum (Schiller hätte heute keine 'Räuber', sondern 'Surrealisten' geschrieben!). (Okopenko 1950, 529)

Obwohl er auch weiterhin Versuche mit "Wortsalaten" – assoziatives Schreiben, bei welchem Logik und das Abzielen auf sinnvolle Äußerungen suspendiert werden sollen – durchführt, distanziert er sich zunehmend vom Surrealismus. Im Juli desselben Jahres schreibt er: Ich habe, glaube ich, den 'Surrealismus' der Artmannschen Prägung überwunden. Ich beschliesse, etwas auszuruhen. Doch auch die folgende Zeit ist von einem Hin– und Hergerissensein geprägt. Er versucht, die "Surrealistischen Publikationen" von Edgar Jené und Max Hölzer aufzutreiben und widmet sich mehrfach ihrer Lektüre, notiert wenig später aber wieder: Ich bin überzeugt davon, daß meine surrealistische Periode aus ist.

Eliot–Rezeption

Ein Schriftsteller, dessen Gedichte Okopenko ohne Vorbehalte bewundert, ist T.S. Eliot, auf den er in der vom alliierten Informationsdienst herausgegebenen "Neuen Auslese" 1949 aufmerksam wird. Schon 1950 ist T.S. Eliot der in den Tagebüchern mit Abstand am häufigsten genannte Schriftsteller, wenn man von den Arbeitskreismitgliedern absieht. Okopenko beschreibt, wie der Titel des Gedichts "Frühlingslied für Infinita Vera", das er im Februar 1950 verfasst, in Anlehnung an T.S. Eliots "The Love Song of J. Alfred Prufrock" entstanden sei, und er geht davon aus, ähnliche Anliegen wie T.S. Eliot zu haben. Insofern äußert er auch seine Freude darüber, dass H.C. Artmann einen Eliotschen Einfluss in seinen Gedichten erkennt und ihn – gemeinsam mit Friedrich Polakovics und Ernst Kein – den Berufenen nennt, Eliot zu übersetzen.

Eliot wird im Frühjahr 1950 zum festen Bezugspunkt für Okopenko. Im August 1950 hält er fest: Eliot ist mir so etwas wie ein Onkel und hat sogar die Idee, mit Eliot Kontakt aufzunehmen, führt dies dann aber doch nicht aus.

Immer wieder beginnt er Übersetzungsversuche von Gedichten Eliots und plant schließlich, im Frühjahr 1952 von einer Schreibkrise gehemmt, sich ihnen ganz zu widmen: Ich stellte mich, da ich zu eigenem Schreiben aus menschlichen Gründen jetzt unbefähigt bin, ganz in den Dienst der Eliot–Übersetzung. Übersetzungen Okopenkos von Eliots "The Love Song of J. Alfred Prufrock" und den "Preludes" erscheinen auch in Heft 6 (Juni 1952) und Heft 7 (September 1952) der "publikationen", letztere gemeinsam mit einer Übersetzung von Ernst Jandl, mit dem er sich immer wieder über Eliot austauscht: Jandl, Spaziergang Wientalstraße, durch das Dörferl gegangen, dort gesessen bei Apfelsaft und unsere Eliot–Uebersetzungen /Waste Land/ verglichen und revidiert.

Gescheiterte Projekte

Trotz der Konflikte, die zwischen Herbert Eisenreich und den "surrealistisch" schreibenden jungen AutorInnen in den "Neuen Wegen" bestehen, plant dieser, den Almanach "Wege. Eine Gemeinschaftsarbeit junger Autoren" herauszugeben, und auch Okopenko arbeitet, trotz der Meinungsverschiedenheiten, ab dem Sommer 1950 mehrere Monate lang an seinen Einreichungen; das Projekt kommt jedoch nicht zustande.

Auch H.C. Artmann plant eine Anthologie mit Beiträgen junger AutorInnen, und im Rahmen der Gruppierung rund um diesen Band – "Der Keller" – kommt es zu ersten "Zerfallsymptomen" (Okopenko 2000, 27) im "Arbeitskreis" der "Neuen Wege". Die Gemeinschaft "Der Keller" wird am 6. Mai 1950 gegründet und gibt sich sogar eigene Statuten (vgl. Artmann 1991, 82 f.). Okopenko hält von einem Gespräch mit H.C. Artmann fest:

Über den 'Keller' (die Sezession von den 'Neuen Wegen') gesprochen, über moderne Richtungen, meinen Metallstil; Schnaps getrunken, mit Artmann Paddy in den Kindergarten begleitet, dann zu den 'Neuen Wegen'. Das Oktoberheft erscheint verspätet. Almanach usw., Problematikerkreis trennte sich von uns, wir übersiedelten in den Redaktionsvorraum. (Tagebuchstelle)

Für die geplante Anthologie des "Kellers" will Okopenko ebenfalls Texte beisteuern; sein Gedicht "Der Einige–Gassen–Gang" soll aufgenommen werden sowie ein Vorwort. Er ärgert sich in den Tagebüchern jedoch über die Kosten des Bandes; mehrere Schriftsteller ziehen ihre Texte zurück, andere werden ausgeschieden und schließlich scheitert das Projekt im Herbst 1950 angeblich an der Fraktursetzung der Texte (vgl. Okopenko 2000, 29). In den "Neuen Wegen" wird nun von einer Spaltung des Arbeitskreises in "Keller" und "Nicht–Keller"–Seite gesprochen – Okopenko situiert sich auf letzterer. Im Frühjahr 1951 zerfällt auch diese Gemeinschaft endgültig.

Erster Widerstand von außen

Was die Kritik an den Texten der jungen, experimentierfreudigen AutorInnen anbelangt, so bleibt es nicht bei Vorwürfen von SchriftstellerkollegInnen wie Herbert Eisenreich; Widerstand kommt – vor allem – von außen. Am 14. Mai 1950 tritt das sogenannte "Gesetz gegen Schmutz und Schund zum Schutz der Jugend" in Kraft (siehe Themenkommentar "Zeithistorische Diskurse"). Neben zahlreichen anderen LeserbriefschreiberInnen beschwert sich die Nationalratsabgeordnete Nadine Paunovic (ÖVP) über Okopenkos "Gedicht in Prosa".

Eine derartige Kritik treibt die jungen AutorInnen zu Widerstand an: Wir gelten, hört man, als 'Schmutz und Schund'. Massnahmen überdacht und geblödelt. Revoltiert. Zu diesem Zeitpunkt ist auch erstmals in den Tagebüchern explizit von "unserer Avantgarde" die Rede und daneben auch, im Gespräch mit H.C. Artmann, von unsere[r] 'Wiener Schule'.

Insbesondere das Adjektiv "surrealistisch" ist zum Reizwort geworden, wie auch ein Brief Okopenkos im November 1950 an eine junge Einsenderin von Gedichten an die "Neuen Wege" zeigt:

Gerade jetzt ist die Krise groß: Wer immer etwas in stärkerer als der althergebrachten Form sagt, gerade in der Lyrik, kommt unter die Räder. Hofräte entscheiden über uns, größere Reife das heißt Gleichgültigkeit wird uns geraten, endlich beschweren sich die Lehrkräfte bis zu den Direktorinnen hinauf. Die Empörung über meine 'Prosa hinterm Wahnsinn' wird von solchen Lebewesen nunmehr schriftlich bis vors Ministerium gebracht, meinen Freunden Fritsch und Altmann geht es um kein Haar besser, Polakovics mit seinen polemischen Arbeiten erweckt Anstoß usw. usw. usw. [...] nunmehr kommt wahrscheinlich ein Verbot für die nichthergebrachte Ausdrucksweise überhaupt, die in bösartiger Verkennung als 'surrealistisch' und daher lynchreif ausgerufen wird. Einzelne von uns wiederum flüchten in die Spielerei mit dem Unverständlichen, nur um die Bürger, zwar mit gewissem Recht aber unter Aufgabe des Ernstzunehmenden, vor den Kopf zu stoßen. Zwischen diesen Mühlsteinen müssen wir langsam unserer Arbeit nachgehen. Es sollten sich, die dasselbe Ziel wie wir haben – und das läßt sich an keiner Programmatik, nur gefühlsmäßig erfassen – bei uns sammeln. (Tagebuchstelle)

Die Kritik von außen eint die jungen AutorInnen noch einmal (vgl. Okopenko 2000, 15 u. 27). Okopenko hält im September 1950 in den Tagebüchern noch hoffnungsfroh fest, dass sich die Mitglieder des "Arbeitskreises" alle einer gemeinsamen Linie [nähern], auf der auch ich stehe, wobei er bezeichnenderweise "auf der auch ich stehe" durchstreicht und mit "die in meiner Nähe verläuft" ersetzt. Auch am Jahresende notiert er optimistisch über 1950: Mein literarisch bisher fruchtbarstes und erstes effektiv wertvolles Jahr. Mein schönstes Jahr. Ich habe Gemeinschaft gefunden, mich und Widerhall. Die Leute vom Arbeitskreis sind mir unendlich wert. Mein schicksalshaftes Zusammentreffen mit dem Surrealen. Dessen Spitzen wurden aber auch wieder überwunden. Dies Jahr unterschreibe ich.

Die "publikationen einer wiener gruppe junger autoren"

Nachdem das "Keller"–Projekt im Herbst 1950 scheitert, kommt Okopenko im Dezember desselben Jahres die Idee, eine Zeitschrift zu gründen, welche die Lücke füllen soll. Im Jänner 1951 – nur ein Jahr nach dem Eintritt in den "Arbeitskreis" der "Neuen Wege" – wird die neue Zeitschrift ins Leben gerufen. Okopenko, der nun parallel an beiden Zeitschriften, den "Neuen Wegen" und seiner eignen Zeitschrift arbeitet, ist ihr Herausgeber, und nennt sie "publikationen einer wiener gruppe junger autoren". Der Anspruch ist groß: Die Zeitschrift soll in der Nachfolge von Otto Basils einflussreichem "Plan" stehen.

Nach der Fertigstellung des ersten Hefts im Februar 1951, an welchem er mit Friedrich Polakovics und Ernst Kein arbeitet, schreibt er in den Tagebüchern über sein Bedauern angesichts des Abklingens der Aufbruchsstimmung aus der Anfangszeit des "Arbeitskreises": Aber wo ist die Begeisterung der 'Linken' aus den 'Keller'–Zeiten geblieben? Ich bin neugierig, ob sie nun begeistert – oder ganz bös sein werden. Dennoch möchte ich versuchen, aus ihnen wieder Revolutionäre zu machen. In den Tagebüchern können aber nicht nur derartige Reflexionen nachvollzogen werden, sondern auch genaue Planungsarbeiten.

Die "publikationen" scheinen zunächst ein Erfolg zu sein. Die beiden prominentesten Förderer junger SchriftstellerInnen im österreichischen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit, Hans Weigel und Hermann Hakel, äußern sich sehr wohlwollend. Weigel lädt Okopenko in seinen Kreis im Café Raimund ein, und knappe zwei Wochen später nimmt Okopenko auch an einem Treffen des Hakel–Kreises teil, fühlt sich aber weder dem einen noch dem anderen zugehörig. Stattdessen denkt er über eine Zusammenarbeit zwischen den "publikationen" und dem Art Club nach. Eine Lesung aus den "publikationen" im Art Club findet am 31. Jänner 1952 vor vollem Saal statt, die dort aufgelegte InteressentInnenliste wird "lebhaft ausgefüllt", und bald sind sie ausverkauft.

Konflikte und der Austritt aus den "Neuen Wegen"

Der Druck von außen nimmt währenddessen in den "Neuen Wegen" nicht ab; eine Publikation von Okopenkos Gedicht "Früher Nachmittag im April" wird im März 1951 abgelehnt, da man in der letzten Strophe 'die Mädchen so von dreizehn an ...' als Strichmädchen auffasste. Schon im Juni 1951 werden bei einem Klubabend im Verband demokratischer Schriftsteller ein Schreibverbot für René Altmann und H.C. Artmann sowie eine Rüge für Gerhard Fritsch gefordert. Auch über Okopenkos "Martini–Gedanken im Vorherbst", die im Septemberheft 1951 der "Neuen Wege" abgedruckt worden waren, langt eine Beschwerde ein; er muss beim Chefredakteur, Hofrat Hans Zwanzger, vorsprechen, sich rechtfertigen und um die Satzzeichensetzung mit ihm kämpfen.

Am 17. November 1951 wird der Austritt aus dem "Arbeitskreis" der "Neuen Wege" nach einem Gespräch Okopenkos mit Ernst Kein und H.C. Artmann offiziell vollzogen; in einem Brief erläutert er: wir sind aus den 'N. W.' ausgetreten, weil die in letzter Zeit sich dem Unterrichtsministerium haben unterordnen müssen und nichts sogenanntes Verrücktes mehr bringen dürfen. Sein neuer Plan ist, mit Ernst Kein und H.C. Artmann den "literarischen Art Club" zu gründen. Immer wieder besucht er den "Strohkoffer" – die Räumlichkeiten des Art Clubs unter der Kärntnerbar – und liest sogar aus seinen Gedichten bei einer Vernissage von Maria Lassnig. Doch auch von den jungen progressiven MalerInnen und BildhauerInnen nimmt er zunehmend Abstand, da sie ihm zu radikal sind. Am 20. Dezember 1951 notiert er im Tagebuch:

Abends in den Art Club. Angenehmes Lokal im Souterrain der Kärntnerbar. Artmann dort angetroffen, mit Trrr [Arnulf Rainer, LT] diskutiert. Wir dürften für die Extremisten des ArtClubs eine Art Wald- und Wiesenlyriker darstellen. Sehr bereitwillig, aber reserviert dem ArtClub gegenübergestanden. Mir können die Stösse von aussen nichts mehr anhaben. (Tagebuchstelle)

Immer wieder dokumentiert er nun Gespräche, die er mit Schriftstellerkollegen führt: mit Ernst Kein, mit Gerhard Fritsch und mit Ernst Jandl, den er im Juli 1952 kennenlernt. Die neue Freundschaft zu Jandl gibt ihm zwar Auftrieb; wenig später kündigen ihm jedoch erst Hanns Weißenborn und auch H.C. Artmann, der sich zunehmend im Umfeld der radikaleren Avantgarde (wie der späteren "Wiener Gruppe", von der sich Okopenko distanziert) zu bewegen beginnt, die Freundschaft. Am 1. Jänner 1953 ist in Okopenkos Tagebuch zu lesen: Abends kam Artmann, um mich wegen angeblich kommunistischer Tätigkeit zur Rede zu stellen und mir sein Vertrauen und das Vertrauen 'seiner Gruppe' (Altmann, Schmied, verschiedener Art Club–Leute) zu entziehen. [...] All dieser Sturm erhebt sich meines Verbrechens wegen, daß ich die Napalmbombe verabscheue und die Markierung von Koreanerinnen durch erhitzte Bügeleisen. Artmann blieb bis 21 Uhr. Er erzählte von großen Plänen, uns 'im ganzen deutschen Sprachgebiet durchzusetzen' [...]. Diese kriegerische Form ohne Inhalt ...

Einen Tag später erhält Okopenko einen Brief von Hans Weigel, in welchem sich dieser ebenfalls besorgt zeigt über Okopenkos Zuwendung zum Kommunismus. Sowohl Artmanns als auch Weigels Reaktionen beziehen sich auf die Veröffentlichung von Okopenkos Gedicht "Korea" im "Tagebuch", einer von der KPÖ finanzierten Zeitschrift.

Seit dem Austritt aus dem "Arbeitskreis" der "Neuen Wege" im November 1951 gibt es keinen direkten Streit mit dem Unterrichtsministerium mehr; die SchriftstellerInnen aus dem Umfeld der "publikationen" erkennen, dass sie ihre Revolution in sehr kleinem Raum ausgetragen hatten (vgl. Okopenko 2000, 31). Da die SchülerInnen als Publikum weggefallen sind, werden die "publikationen" fast ausschließlich in literarischen Kreisen rezipiert, und die AutorInnen fühlen sich in zunehmender Isolation und Wirkungslosigkeit gefangen (vgl. ebd., 27). Im Frühjahr 1952 schreibt Okopenko: Die Ruhe ist unglaublich, mit der man in der bürgerlichen Welt als feindselige Einkapselung sitzt. Anfang 1953 gibt er die "publikationen" endgültig auf. Das achte und letzte von Okopenko herausgegebene Heft erscheint im Jänner 1953; 1957 nimmt H.C. Artmann das Projekt noch einmal auf und gibt zwei weitere Hefte heraus.

Im Sommer 1953 unternimmt Friedrich Polakovics vermehrt Anstrengungen, den zunehmend isolierten Okopenko in den Hakel–Kreis zu integrieren, unter dessen Einfluss die "Neuen Wege" nun stehen (vgl. Okopenko 2000, 33). Okopenko, obwohl er zuvor mit dem Gedanken gespielt hatte, in die "Neuen Wege" zurückzukehren, wehrt sich entschieden dagegen. Die "Neuen Wege" seien zu erbaulich geworden und hätten kapituliert (vgl. Okopenko 1953, 15).

Okopenko notiert ernüchtert im Dezember desselben Jahres:

Vor allem: keine Hoffnung auf einen Durchbruch mehr. Verösterreichert! Die Basis, auf der ich stehe, ist so klein. Daneben die Abgründe des modernen Formalismus und des Traditionalismus. (Tagebuchstelle)

Auf die enge literarische Zusammenarbeit mit anderen SchriftstellerInnen in den "Neuen Wegen" und in den "publikationen" folgt eine Schreibkrise (siehe "Biografie Andreas Okopenko"). Im September 1955 schreibt er rückblickend über den Beginn der 1950er Jahre ins Tagebuch: ich kam in die 'Neuen Wege' als ganz naiver Mensch und wurde dort in einem Literaturrausch sondergleichen zugrundegerichtet. (Nachlass Okopenko, LIT 399/W171, 25.09.1955).

Verfasst von: Laura Tezarek

Zitiervorschlag
Tezarek, Laura: Themenkommentar „Literarische Netzwerke“. In: Okopenko, Andreas: Tagebücher 1949–1954. Digitale Edition, hrsg. von Roland Innerhofer, Bernhard Fetz, Christian Zolles, Laura Tezarek, Arno Herberth, Desiree Hebenstreit, Holger Englerth, Österreichische Nationalbibliothek und Universität Wien. Wien: Version 2.0, 21.11.2019. URL: https://edition.onb.ac.at/okopenko/o:oko.com-literarische-netzwerke/methods/sdef:TEI/get?mode=comment

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