Graz, 45 Sparbersbachgasse 6. Jan. 86.
Lieber Freund!
Ich bin 14 Tage bei meinem Bruder gewesen und ich bin dort, sowie vorher und nachher [wie]der unwohl gewesen. Das alte Übel ist stärker wiedergekehrt und ich sehe den nächsten unter allen Verhältnissen arbeitsreichen Wochen mit Angst und Bangen entgegen. Vieles hat mich böse und bitter verstimmt. Die eine Woche, die ich im November in Wien zubrachte, hat so viel Ärger, Verdruß, Trauer und Sorgen mit Eltern, Verwandten und Freunden heraufbeschworen, daß ich in der katzenjämmerlichsten Stimmung nach Hause zurückkam. Aber wenn ich ganz aufrichtig [se]in soll: das was mich am meisten zurückgeworfen hat, waren die Auskünfte im Ministerium und die darauf folgenden Prager Vorschlagsgeschichten. Man erklärte mir rundweg, daß die Grazer Vorschläge für die Katze seien und daß man mir hier höchstens eine mäßige Gehaltsaufbesserung versprechen könne. Würde ich in Prag vorgeschlagen, so käme ich wahrscheinlich hin. Mit dieser tristen Nachricht, die durch Minors Mittheilungen über Lambls Stellung in der Prager Facultät noch verstärkt wurde, kehrte ich nach Graz zurück. Da erwartete mich nun freilich ein Brief Kelles mit der Erklärung, daß ich primo loco von der Kommi[ssi]on vorgeschlagen worden sei. Kelle hat aber so viel ich weiß siebenmal innerhalb 3 Monaten seine Meinung geändert. Endlich hat Lambl doch insoweit gesiegt, daß er pari loco mit mir wenn auch nach mir vorgeschlagen wurde. Statt der alphabethischen Reihenfolge, die Lambls Freunde anstrebten, hat Kelle doch die der Wertschätzung durchgesetzt, wenn ich recht berichtet bin. Den elenden Machinationen des Strebers Brandl i[s]t es gelungen, seinen Spießgesellen u[n]d Landsmann Wackernell an zweiter, resp. dritter Stelle durchzuschwindeln. Eine unerhörte Frechheit. Der Mann hat eine Rec. über Belling Schillers Metrik geschrieben und vor Jahren in einer verschollenenen öst. Ztschrft ein paar Gedichte Platens u. Briefe Lichtenbergs abdrucken lassen. Und wir müßen es uns gefallen lassen, einem solchen Menschen gleichgestellt, ja nachgesetzt zu werden. Lieber Freund, der Prager Vorschlag [ist] unter diesen Umständen für mich mehr eine Schande als eine Ehre und ich habe nur den einen Seufzer: Warum bin ich nicht unabhängig! Warum bin ich nicht frei! Diesem bornirten OtfriedKrämer seinen ganzen Antrag vor die Füße zu werfen, wäre mir der höchste Genuß! So werde ich, wenn ich hinkomme, Frieden mit ihm halten müßen und wieder alles in mich hineinfreßen müßen, wie es hier mein Loos ist. Obgleich ich auf der Reise zu meinem Bruder Wien passiren mußte, habe ich [m]ich in die Stadt nicht hineinbemüht. Wieder die alte Bettelei im Ministerium anzufangen, widerstrebt meinem Gefühle. Setzt Lambl s. Ernennung durch, seis! Dieses Grillparzersche Wort wird auch mich trösten und ich werde dann neue Wege einzuschlagen suchen! –
Indem ich Ihren letzten Brief wiederlese, sehe ich, wie weit ich mich von dem Gedankenkreise desselben entfernt habe; ich kann mich jetzt wol auch nicht leicht hineinfinden; bes. über die Frauenbilder fehlt mir momentan jedes Urtheil. Nach dem wenig erfreulichen Bericht des [Ver]legers haben sie nur einen Achtungserfolg erzielt.
Für die beiden Hefte DLD & für die Rücksendung d. Ollapatrida habe ich – soviel ich mich erinnere – vor d. Feiertagen gedankt. Ihre beiden großen Rec. habe ich studiert. Über Eigenbrodt muß ich freilich jetzt anders denken. Bei Reuter scheinen Sie mir nicht immer recht zu haben. Doch habe ich die Stücke nicht gelesen. Wie immer habe ich Ihre Schärfe, Ihren Fleiß u Ihre Genauigkeit im Recensieren bewundert.
Unter die wenigen Freuden, die mir das abgelaufene Jahr gebracht hat, gehört die, [S]ie von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt und einen ! dauerndes persönliches Freundschaftsverhältnis mit Ihnen geschlossen zu haben. Ich kann heute nur sagen: haben Sie mit dem gedrückten u. leidenden Freunde etwas Geduld! Vielleicht kommen doch bessere Zeiten. Möge uns beiden 1886 günstiger sein. Mit herzlichen Grüßen Ihr
Treulich Ergebener
AS.
Kennen Sie Diesen ! Nachdruck?!
Graz, 45 Sparbersbachgasse 6. Jan. 86.
Lieber Freund!
Ich bin 14 Tage bei meinem Bruder gewesen und ich bin dort, sowie vorher und nachher [wie]der unwohl gewesen. Das alte Übel ist stärker wiedergekehrt und ich sehe den nächsten unter allen Verhältnissen arbeitsreichen Wochen mit Angst und Bangen entgegen. Vieles hat mich böse und bitter verstimmt. Die eine Woche, die ich im November in Wien zubrachte, hat so viel Ärger, Verdruß, Trauer und Sorgen mit Eltern, Verwandten und Freunden heraufbeschworen, daß ich in der katzenjämmerlichsten Stimmung nach Hause zurückkam. Aber wenn ich ganz aufrichtig [se]in soll: das was mich am meisten zurückgeworfen hat, waren die Auskünfte im Ministerium und die darauf folgenden Prager Vorschlagsgeschichten. Man erklärte mir rundweg, daß die Grazer Vorschläge für die Katze seien und daß man mir hier höchstens eine mäßige Gehaltsaufbesserung versprechen könne. Würde ich in Prag vorgeschlagen, so käme ich wahrscheinlich hin. Mit dieser tristen Nachricht, die durch Minors Mittheilungen über Lambls Stellung in der Prager Facultät noch verstärkt wurde, kehrte ich nach Graz zurück. Da erwartete mich nun freilich ein Brief Kelles mit der Erklärung, daß ich primo loco von der Kommi[ssi]on vorgeschlagen worden sei. Kelle hat aber so viel ich weiß siebenmal innerhalb 3 Monaten seine Meinung geändert. Endlich hat Lambl doch insoweit gesiegt, daß er pari loco mit mir wenn auch nach mir vorgeschlagen wurde. Statt der alphabethischen Reihenfolge, die Lambls Freunde anstrebten, hat Kelle doch die der Wertschätzung durchgesetzt, wenn ich recht berichtet bin. Den elenden Machinationen des Strebers Brandl i[s]t es gelungen, seinen Spießgesellen u[n]d Landsmann Wackernell an zweiter, resp. dritter Stelle durchzuschwindeln. Eine unerhörte Frechheit. Der Mann hat eine Rec. über Belling Schillers Metrik geschrieben und vor Jahren in einer verschollenenen öst. Ztschrft ein paar Gedichte Platens u. Briefe Lichtenbergs abdrucken lassen. Und wir müßen es uns gefallen lassen, einem solchen Menschen gleichgestellt, ja nachgesetzt zu werden. Lieber Freund, der Prager Vorschlag [ist] unter diesen Umständen für mich mehr eine Schande als eine Ehre und ich habe nur den einen Seufzer: Warum bin ich nicht unabhängig! Warum bin ich nicht frei! Diesem bornirten OtfriedKrämer seinen ganzen Antrag vor die Füße zu werfen, wäre mir der höchste Genuß! So werde ich, wenn ich hinkomme, Frieden mit ihm halten müßen und wieder alles in mich hineinfreßen müßen, wie es hier mein Loos ist. Obgleich ich auf der Reise zu meinem Bruder Wien passiren mußte, habe ich [m]ich in die Stadt nicht hineinbemüht. Wieder die alte Bettelei im Ministerium anzufangen, widerstrebt meinem Gefühle. Setzt Lambl s. Ernennung durch, seis! Dieses Grillparzersche Wort wird auch mich trösten und ich werde dann neue Wege einzuschlagen suchen! –
Indem ich Ihren letzten Brief wiederlese, sehe ich, wie weit ich mich von dem Gedankenkreise desselben entfernt habe; ich kann mich jetzt wol auch nicht leicht hineinfinden; bes. über die Frauenbilder fehlt mir momentan jedes Urtheil. Nach dem wenig erfreulichen Bericht des [Ver]legers haben sie nur einen Achtungserfolg erzielt.
Für die beiden Hefte DLD & für die Rücksendung d. Ollapatrida habe ich – soviel ich mich erinnere – vor d. Feiertagen gedankt. Ihre beiden großen Rec. habe ich studiert. Über Eigenbrodt muß ich freilich jetzt anders denken. Bei Reuter scheinen Sie mir nicht immer recht zu haben. Doch habe ich die Stücke nicht gelesen. Wie immer habe ich Ihre Schärfe, Ihren Fleiß u Ihre Genauigkeit im Recensieren bewundert.
Unter die wenigen Freuden, die mir das abgelaufene Jahr gebracht hat, gehört die, [S]ie von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt und einen ! dauerndes persönliches Freundschaftsverhältnis mit Ihnen geschlossen zu haben. Ich kann heute nur sagen: haben Sie mit dem gedrückten u. leidenden Freunde etwas Geduld! Vielleicht kommen doch bessere Zeiten. Möge uns beiden 1886 günstiger sein. Mit herzlichen Grüßen Ihr
Treulich Ergebener
AS.
Kennen Sie Diesen ! Nachdruck?!
Unter die wenigen Freuden, die mir das abgelaufene Jahr gebracht hat, gehört die, [S]ie von Angesicht zu Angesicht kennen gelernt und einen ! dauerndes persönliches Freundschaftsverhältnis mit Ihnen geschlossen zu haben. Ich kann heute nur sagen: haben Sie mit dem gedrückten u. leidenden Freunde etwas Geduld! Vielleicht kommen doch bessere Zeiten. Möge uns beiden 1886 günstiger sein.
Rückblickend auf das vergangene Jahr freute sich August Sauer darüber, dass er und Seuffert sich persönlich kennengelernt hatten.
Schreibort: Graz
Empfangsort: Würzburg
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 422/1-77
Umfang: 4 Seite(n)
Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-8341 [Druckausgabe Nr. 55]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8341/methods/sdef:TEI/get
LizenzhinweisDie Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.
LinksDas Bildmaterial dieser Webseite sind Reproduktionen aus den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek und des Staatsarchivs Würzburg. Für jede weitere Verwendung wenden Sie sich bitte an die jeweilige Institution.