Graz 27 X 94

Lieber freund Mir liegt nichts ferner als vom Euphorion eine einzige richtung zu verlangen: je mehr, desto besser. U. gar gegen die philosophische bin ich nicht feind: ich habe es immer für einen schaden gehalten, dass 2 jahrzehnte lang die gesch. der phil. für den litterarhistoriker nicht zu existieren schien. Verfällt man jetzt ins extrem, so wird sich das korrigieren. Für extrem halte ich Elster wegen der berufung auf Wundt; ich habe den allergrößten respekt vor Wundt und wünschte, dass wir viele solcher physiologen hätten, dann käme die philos. auf eine festere basis; aber für jeden nicht physiologisch gebildeten bleibt Wundt in vielem unverständlich. U. zweitens: was als experiment am lebenden körper gemacht wurde, kann nicht historisch ebenso gemacht werden.
Ich habe auch nichts gegen K. Fischers geburtstagfeier, obwol ich seinen errungenschaften häufiger ablehnend als zustimmend gegenüberstehe; auch ich habe von ihm gelernt oder wenigstens mich negativ anregen lassen. Das ists an sich nicht, was mich zaghaft macht. Da hätte ich mich auch auf Witkowski berufen müssen u. hätte Ihnen auch meinerseits nicht den ausfall gegen die philosophie zumuten dürfen (den übrigens Spitzer so wie er steht gebilligt hat). Wir brauchen philologie u. philosophie, jede an ihrem ort.
Aber etwas anderes macht mich und andere scheu: der ton in dem Minor spricht. Was nützt es denn der litteraturgeschichte – und für sie ist doch der Euphorion auf dem titel und innerlich bestimmt – wenn Minor seine ansichten über studentenverwendung, über anforderungen an privatdocenten, über geschichtsschreibung der philosophie aufdrängt. Hätte er über Kuno Fischer gesprochen! hätte er ihn als den grösten litterarhistoriker hingestellt! meinetwegen! Aber was soll diese allgemeine auseinandersetzung über philosophische bücher? Wie kann er Dilthey zwischen Haym u. Fischer setzen? Dilthey gravitiert in eine ganz andere richtung als jene beiden. Wie kann er in einem loblied auf Fischer M. Bernays nachtragen? Auch ist die philos. auf dem wege, von der knappen reproduction der systeme abzuweichen u. wirklich historisch zu verfahren wie Ihr Jodl in seiner Ethik, wie Stein in seiner Ästhetik. Die ganze auslassung Minors ist eben wie andere enunciationen von ihm persönlich, die sache ist dabei secundär. Seine Kleistiana sind anders; auch seine schnitzelejaculation ist nicht eigentlich vom übel; dagegen sag u. hör ich kein wort. Aber die herablassende anmassung, mit der Minor theoretisiert, vertragen andere so wenig wie ich. Und das exempel mit K. Fischer wiegt um deswillen schwer, weil ein derartiger erlass in ganz anderem grade die mitverantwortlichkeit des herausgebers trägt als jede sachliche untersuchung, seine veröffentlichung also die zustimmung des herausgebers documentiert.
Nehmen Sie mir diese ausführungen nicht übel. Ich leugne nicht, dass ich seit langem Minor schwer vertrage. Ich leugne nicht, dass ich jüngstens durch zuschriften u. gespräche in meiner auffassung seiner person bestärkt bin. Über meine 6 bde VJS. zusammen habe ich nicht so viel gehört, wie über Ihre 3 hefte Euphorion. Ihre zs. wird von ehemaligen u. jetzigen meiner zuhörer gehalten. Ohne dass ich frage, tragen sie mir ihre meinung zu. U. ohne dass sie wissen können, wie ich über Minor denke, stossen sie alle sich gerade an dessen beiträgen. Da lern ich vielleicht die sache auch übler ansehen als sie liegt.
Ich denke, Sie kennen mich genug, um zu wissen u. zu glauben, dass ich die sache überall ehre, auch da wo mir etwa die person, die sie vertritt, unsympathisch ist. Ich habe nur das traurige gefühl, dass wenn die vorherrschaft der personalität Minors im Euphorion fortdauert, für die sache kein platz bleibt. Ich hatte u. habe die zuversicht, dass Sie mich verstehen und mir darum nicht zürnen. Ich hielt u. halte es für freundespflicht, dass ich Sie auf den üblen eindruck der Minorartikel aufmerksam mache. Sie denken immer, es stecke nur Erich Schmidt hinter mir; Sie würden sich täuschen, wenn Sie meinten, dass ich für ihn vorspanndienste tue, wo ich den wagen nicht auch selbst zu ziehen das bedürfnis habe. Und ich hoffe Ihnen seit jahren mit ja und nein bewiesen zu haben, wie ernstlich mir an Ihrer freundschaft gelegen ist, wie ernstlich ich wünsche, dass Ihnen alles gelingt. Und Sie werden dafür auch in zukunft immer die beweise erhalten, so oft Sie wollen. Bleiben Sie mir gut! Uns beiden steht doch die sache über unserer person.

Sehr neugierig bin ich auf die anzeigen des 4. heftes über Kühnemanns Herderausgaben; gerade dieser bogen fehlte in Ihren gütigen sendungen. Kühnemann ersuchte mich um aufnahme einer entgegnung auf meine recension in der DLZ. in „meiner“ zs. Euphorion. Ich habe ihm geschrieben, dass ich nicht der redacteur bin. Ich erkläre im vorhinein, dass ich nicht gekränkt bin, wenn Sie ihn mich bei sich abkanzeln lassen. Freilich wäre die DLZ dafür der richtigere ort nach meiner unmassgeblichen meinung. Und meine rec. enthät einen passus, der mir jede duplik bequem macht.

Für die VJS. erhielt ich jüngst wieder einen beitrag über Goethes Wahlverwandtschaften. Wäre der grosse artikel nicht so hervorragend elend gewesen, so hätte ich den verf. an Sie gewiesen.
Hat sich Puls aus Altona nicht bei Ihnen gemeldet? er hatte für die VJS. gute vorarbeiten über Kopisch eingesandt, deren umarbeitung nach meinen bitten er versprach, sie kam aber nicht mehr rechtzeitig. Da wäre etwas aus dem 19 jh., nach dem Ihre leser bei mir seufzen.

Ihre frage wegen des registers kommt gleichzeitig mit Ihrem brief. Dünkt es Sie nicht genug, die gedichte summarisch zu verzeichnen? Wer will das einzelne nachschlagen?
An (Anna Amalia von Sachsen-Weimar = Olympia) 540. 695–714.
An Karl August von S. W. 714. 715.
An Karl Friedrich von S. W. 715.
An Luise von S. W. 715.
An Caroline von S. W.-Mecklenburg 715. 716.
An Maria Paulowna 716. 717.
Charaden 713. 714.
Euripides, Helena übersetzung 714.
Horaz Briefe Übersetzung 715.
Dschinnistan 711.
Göttergespräche 711 usf.
Mir kommt solche übersicht bequemer für den benützer des registers vor als specialisierung nach titel oder anfängen. Wem nützt es zu lesen
Anecdote aus dem Olymp.
Merlins weissagend Stimme aus seiner Gruft im walde Brosseliand usf.? Ich sage ja doch auch nicht über jedes etwas; der artikel ist nicht bibliographisch. Wollen Sie aber doch mehr, so werd ich gerne eine übersicht entwerfen.

Leben Sie wol für heute. Ich muss zu Goethe 18 zurück. Dass ich Ihnen mit der bitte um den zusatz zum Hausball keine kränkung antun wollte, müssen Sie wissen. Ich habe die Weimarer, die vorgaben, mir alles geschickt zu haben, darnach gefragt u. gebeten mir das stück zu senden, da ich der meinung bin, dass das sammeln aufgabe der centrale, nicht des redactors ist. Darauf erhielt ich wirklich einen befehl, wie ich neulich schrieb, mich direct an Sie zu wenden. Schicken Sie mir doch, bitt ich, nicht zu, was andere versäumen oder verschulden.

In alter treue
Ihr aufrichtig ergebener
BSeuffert.

Warum ist Schroer von der redaction der Wiener Goethevereinschronik entfernt worden oder abgegangen? Wer ist sein nachfolger v. Payer?

Graz 27 X 94

Lieber freund Mir liegt nichts ferner als vom Euphorion eine einzige richtung zu verlangen: je mehr, desto besser. U. gar gegen die philosophische bin ich nicht feind: ich habe es immer für einen schaden gehalten, dass 2 jahrzehnte lang die gesch. der phil. für den litterarhistoriker nicht zu existieren schien. Verfällt man jetzt ins extrem, so wird sich das korrigieren. Für extrem halte ich Elster wegen der berufung auf Wundt; ich habe den allergrößten respekt vor Wundt und wünschte, dass wir viele solcher physiologen hätten, dann käme die philos. auf eine festere basis; aber für jeden nicht physiologisch gebildeten bleibt Wundt in vielem unverständlich. U. zweitens: was als experiment am lebenden körper gemacht wurde, kann nicht historisch ebenso gemacht werden.
Ich habe auch nichts gegen K. Fischers geburtstagfeier, obwol ich seinen errungenschaften häufiger ablehnend als zustimmend gegenüberstehe; auch ich habe von ihm gelernt oder wenigstens mich negativ anregen lassen. Das ists an sich nicht, was mich zaghaft macht. Da hätte ich mich auch auf Witkowski berufen müssen u. hätte Ihnen auch meinerseits nicht den ausfall gegen die philosophie zumuten dürfen (den übrigens Spitzer so wie er steht gebilligt hat). Wir brauchen philologie u. philosophie, jede an ihrem ort.
Aber etwas anderes macht mich und andere scheu: der ton in dem Minor spricht. Was nützt es denn der litteraturgeschichte – und für sie ist doch der Euphorion auf dem titel und innerlich bestimmt – wenn Minor seine ansichten über studentenverwendung, über anforderungen an privatdocenten, über geschichtsschreibung der philosophie aufdrängt. Hätte er über Kuno Fischer gesprochen! hätte er ihn als den grösten litterarhistoriker hingestellt! meinetwegen! Aber was soll diese allgemeine auseinandersetzung über philosophische bücher? Wie kann er Dilthey zwischen Haym u. Fischer setzen? Dilthey gravitiert in eine ganz andere richtung als jene beiden. Wie kann er in einem loblied auf Fischer M. Bernays nachtragen? Auch ist die philos. auf dem wege, von der knappen reproduction der systeme abzuweichen u. wirklich historisch zu verfahren wie Ihr Jodl in seiner Ethik, wie Stein in seiner Ästhetik. Die ganze auslassung Minors ist eben wie andere enunciationen von ihm persönlich, die sache ist dabei secundär. Seine Kleistiana sind anders; auch seine schnitzelejaculation ist nicht eigentlich vom übel; dagegen sag u. hör ich kein wort. Aber die herablassende anmassung, mit der Minor theoretisiert, vertragen andere so wenig wie ich. Und das exempel mit K. Fischer wiegt um deswillen schwer, weil ein derartiger erlass in ganz anderem grade die mitverantwortlichkeit des herausgebers trägt als jede sachliche untersuchung, seine veröffentlichung also die zustimmung des herausgebers documentiert.
Nehmen Sie mir diese ausführungen nicht übel. Ich leugne nicht, dass ich seit langem Minor schwer vertrage. Ich leugne nicht, dass ich jüngstens durch zuschriften u. gespräche in meiner auffassung seiner person bestärkt bin. Über meine 6 bde VJS. zusammen habe ich nicht so viel gehört, wie über Ihre 3 hefte Euphorion. Ihre zs. wird von ehemaligen u. jetzigen meiner zuhörer gehalten. Ohne dass ich frage, tragen sie mir ihre meinung zu. U. ohne dass sie wissen können, wie ich über Minor denke, stossen sie alle sich gerade an dessen beiträgen. Da lern ich vielleicht die sache auch übler ansehen als sie liegt.
Ich denke, Sie kennen mich genug, um zu wissen u. zu glauben, dass ich die sache überall ehre, auch da wo mir etwa die person, die sie vertritt, unsympathisch ist. Ich habe nur das traurige gefühl, dass wenn die vorherrschaft der personalität Minors im Euphorion fortdauert, für die sache kein platz bleibt. Ich hatte u. habe die zuversicht, dass Sie mich verstehen und mir darum nicht zürnen. Ich hielt u. halte es für freundespflicht, dass ich Sie auf den üblen eindruck der Minorartikel aufmerksam mache. Sie denken immer, es stecke nur Erich Schmidt hinter mir; Sie würden sich täuschen, wenn Sie meinten, dass ich für ihn vorspanndienste tue, wo ich den wagen nicht auch selbst zu ziehen das bedürfnis habe. Und ich hoffe Ihnen seit jahren mit ja und nein bewiesen zu haben, wie ernstlich mir an Ihrer freundschaft gelegen ist, wie ernstlich ich wünsche, dass Ihnen alles gelingt. Und Sie werden dafür auch in zukunft immer die beweise erhalten, so oft Sie wollen. Bleiben Sie mir gut! Uns beiden steht doch die sache über unserer person.

Sehr neugierig bin ich auf die anzeigen des 4. heftes über Kühnemanns Herderausgaben; gerade dieser bogen fehlte in Ihren gütigen sendungen. Kühnemann ersuchte mich um aufnahme einer entgegnung auf meine recension in der DLZ. in „meiner“ zs. Euphorion. Ich habe ihm geschrieben, dass ich nicht der redacteur bin. Ich erkläre im vorhinein, dass ich nicht gekränkt bin, wenn Sie ihn mich bei sich abkanzeln lassen. Freilich wäre die DLZ dafür der richtigere ort nach meiner unmassgeblichen meinung. Und meine rec. enthät einen passus, der mir jede duplik bequem macht.

Für die VJS. erhielt ich jüngst wieder einen beitrag über Goethes Wahlverwandtschaften. Wäre der grosse artikel nicht so hervorragend elend gewesen, so hätte ich den verf. an Sie gewiesen.
Hat sich Puls aus Altona nicht bei Ihnen gemeldet? er hatte für die VJS. gute vorarbeiten über Kopisch eingesandt, deren umarbeitung nach meinen bitten er versprach, sie kam aber nicht mehr rechtzeitig. Da wäre etwas aus dem 19 jh., nach dem Ihre leser bei mir seufzen.

Ihre frage wegen des registers kommt gleichzeitig mit Ihrem brief. Dünkt es Sie nicht genug, die gedichte summarisch zu verzeichnen? Wer will das einzelne nachschlagen?
An (Anna Amalia von Sachsen-Weimar = Olympia) 540. 695–714.
An Karl August von S. W. 714. 715.
An Karl Friedrich von S. W. 715.
An Luise von S. W. 715.
An Caroline von S. W.-Mecklenburg 715. 716.
An Maria Paulowna 716. 717.
Charaden 713. 714.
Euripides, Helena übersetzung 714.
Horaz Briefe Übersetzung 715.
Dschinnistan 711.
Göttergespräche 711 usf.
Mir kommt solche übersicht bequemer für den benützer des registers vor als specialisierung nach titel oder anfängen. Wem nützt es zu lesen
Anecdote aus dem Olymp.
Merlins weissagend Stimme aus seiner Gruft im walde Brosseliand usf.? Ich sage ja doch auch nicht über jedes etwas; der artikel ist nicht bibliographisch. Wollen Sie aber doch mehr, so werd ich gerne eine übersicht entwerfen.

Leben Sie wol für heute. Ich muss zu Goethe 18 zurück. Dass ich Ihnen mit der bitte um den zusatz zum Hausball keine kränkung antun wollte, müssen Sie wissen. Ich habe die Weimarer, die vorgaben, mir alles geschickt zu haben, darnach gefragt u. gebeten mir das stück zu senden, da ich der meinung bin, dass das sammeln aufgabe der centrale, nicht des redactors ist. Darauf erhielt ich wirklich einen befehl, wie ich neulich schrieb, mich direct an Sie zu wenden. Schicken Sie mir doch, bitt ich, nicht zu, was andere versäumen oder verschulden.

In alter treue
Ihr aufrichtig ergebener
BSeuffert.

Warum ist Schroer von der redaction der Wiener Goethevereinschronik entfernt worden oder abgegangen? Wer ist sein nachfolger v. Payer?

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 8 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-8724 [Druckausgabe Nr. 148]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8724/methods/sdef:TEI/get

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