Prag 21/12 04
Smichow 586

Lieber Freund! Ich will Ihnen zunächst [üb]er meine Wiener Reise Bericht erstatten. Ich kehrte mit einem wahren Katzenjammer zurück über das unzuverlässige und lässige Wiener Wesen. Ob ich früher auch so war? Ob ich mich in der harten Prager Schule gefestigt habe? Sicher ist, dass ich zu dieser Art nicht mehr passe und ich würde wahrscheinlich sehr bald mit allen Leuten zertragen sein, wenn ich dauernd dort wirken müsste. Mit dem Schicksal des lit. Vereins, der wol so gut wie begraben ist, [wi]ll ich Sie nicht behelligen; aber wie es mit dem Euphorion steht, will ich Ihnen kurz auseinandersetzen. Es stellte sich heraus, dass das Geld für 1904 noch nicht ganz aufgebracht ist (es fehlen noch 500 fl.) und dass es für die Zu- kunft fast unmöglich sein wird, die alte Summe (800 fl.) aufzubringen. Glossy stellte vielmehr an Fromme die Anforderung, es billiger zu machen, was dieser rundweg abschlug. Es war eine höchst peinliche Scene, in der ich den beteiligten, aber fast schweigsamen Dritten spielen musste. Ich er[kl]äre mir die Sache so; Glossy hat offenbar dieselben Leute, die bisher für Euphorion zahlten, zum Garantiefonds für die Öst. Rundschau herangezogen und kann sie nicht doppelt schröpfen; Fromme andrerseits ist wütend darüber, dass ihm Druck u. Verlag dieser Rundschau, die bisher vortrefflich zu gedeihen scheint, entgangen ist. Glossy mache ich hauptsächlich zum Vorwurf, dass er mir die W[ah]rheit trotz hundertfacher Bitte darum nicht schon längst mitgeteilt hat. Im Gegenteil hat er bis in die letzte Zeit mich immer noch mit den sichersten Versprechungen hingehalten; an Versprechungen liess er es freilich auch nach der grossen Scene nicht fehlen; aber jetzt falle ich nicht mehr herein. Er wollte die Zs. bei Konegen, dem Verleger der Rundschau, unterbringen. Da wäre sie aber an das Schicksal dieser [Glos]syschen Schöpfung, der ich keine lange Dauer prophezeie, und erst recht an seine Person gekettet. Wechsle ich aber schon einmal den Verlag, dann möcht ich auch aus Österreich heraus. – Was soll nun geschehen? Abbrechen kann ich die Zs. im Augenblick ohne grenzenlose Blamage nicht. Ich habe für ein Jahr Manuskript liegen, darunter sehr gute Sachen, h[abe] ein Schillerheft zusammengetrommelt, das zwar nicht glänzend, aber ganz respektabel ist. Ich muss also den Jahrgang 12 auf alle Fälle auf mein Risiko erscheinen lassen. Dann bräch ich allerdings am liebsten ab. Finde ich aber einen grossen reichsdeutschen Verleger dafür – ich will mich zuerst an Teubner wenden – so will ich das Opfer weiter bringen. Leider haben wir noch immer nicht mehr als 300 Abonnenten.
In Bezug auf die Lottebriefe müssen Sie mich gründlich misverstanden haben; sie wären mir aufs höchste willkommen gewesen und nur trauernd lasse ich das Heft ohne einen Beitrag von Ihnen ausgehen. Wenn ich Ihnen vielleicht nicht entschieden genug zugeredet habe, so ist der Umstand daran schuld, dass Sie sagten, [S]ie wollten die Briefe an die Deutsche Rundschau schicken; ich glaubte also, Sie wollten sie um das Lumpenhonorar des Euphorion nicht her- geben, sondern ein klein wenig damit verdienen, was ich ja sehr b[eg]reiflich finde. Hätt ich ahnen können, dass Sie sie im Pult liegen lassen, hätt’ ich Himmel und Erde dafür in Bewegung gesetzt. Ists nun wirklich zu spät? Könnt ich Ihnen bei der Erklärung nicht behilflich [s]ein? Bis Ende Januar oder auch Mitte Februar kann ich leicht warten, wenn ich alles andre vorher setzen lasse. Ich müsste nur ungefähr wissen, wie viel Man. es gäbe. Wünschen Sie, dass die Briefe Borgis gesetzt werden, so tu ich [es] ausnahmsweise für dieses Heft, um den festlichen Charakter zu dokumentieren.
Ich danke Ihnen vielmals für die freundlichen Worte über die Gedichte meiner Frau. Ich erlebe es jetzt am eignen Leib kann ich sagen, welch gefährliches Göttergeschenk d[ie] Dichtergabe ist. Die gefürchteten Depressionen sind bei ihr, stärker und mit kürzeren Pausen, wiedergekehrt und fast scheint es, als ob meine Reise, mit der sie aber völlig einverstanden war und zu der sie mir, als [ich] Ende Mai mutlos geworden war und sie aufgeben wollte, heftig zuredete, dazu viel beigetragen hätte. Das wär freilich ein trauriger Gewinn, dessen Tragweite der grosse Egoist, der mich mit sich zog, weder erahnt noch ermessen könnte. So bin ich denn im Augenblick gewillt das Jahr das zu Ende geht als ein stark passives, wenn nicht als ein verlorenes einzuschätzen und bin in keiner guten Stimmung.
Möchte es bei Ihnen besser gehen; unter allen Umständen bewahren Sie mir Ihre Teilnahme und Freundschaft; ich fühle mich menschlich und wissenschaftlich gänzlich is[oli]ert.
In aufrichtiger Freundschaft und Liebe Ihr
AS.

Prag 21/12 04
Smichow 586

Lieber Freund! Ich will Ihnen zunächst [üb]er meine Wiener Reise Bericht erstatten. Ich kehrte mit einem wahren Katzenjammer zurück über das unzuverlässige und lässige Wiener Wesen. Ob ich früher auch so war? Ob ich mich in der harten Prager Schule gefestigt habe? Sicher ist, dass ich zu dieser Art nicht mehr passe und ich würde wahrscheinlich sehr bald mit allen Leuten zertragen sein, wenn ich dauernd dort wirken müsste. Mit dem Schicksal des lit. Vereins, der wol so gut wie begraben ist, [wi]ll ich Sie nicht behelligen; aber wie es mit dem Euphorion steht, will ich Ihnen kurz auseinandersetzen. Es stellte sich heraus, dass das Geld für 1904 noch nicht ganz aufgebracht ist (es fehlen noch 500 fl.) und dass es für die Zu- kunft fast unmöglich sein wird, die alte Summe (800 fl.) aufzubringen. Glossy stellte vielmehr an Fromme die Anforderung, es billiger zu machen, was dieser rundweg abschlug. Es war eine höchst peinliche Scene, in der ich den beteiligten, aber fast schweigsamen Dritten spielen musste. Ich er[kl]äre mir die Sache so; Glossy hat offenbar dieselben Leute, die bisher für Euphorion zahlten, zum Garantiefonds für die Öst. Rundschau herangezogen und kann sie nicht doppelt schröpfen; Fromme andrerseits ist wütend darüber, dass ihm Druck u. Verlag dieser Rundschau, die bisher vortrefflich zu gedeihen scheint, entgangen ist. Glossy mache ich hauptsächlich zum Vorwurf, dass er mir die W[ah]rheit trotz hundertfacher Bitte darum nicht schon längst mitgeteilt hat. Im Gegenteil hat er bis in die letzte Zeit mich immer noch mit den sichersten Versprechungen hingehalten; an Versprechungen liess er es freilich auch nach der grossen Scene nicht fehlen; aber jetzt falle ich nicht mehr herein. Er wollte die Zs. bei Konegen, dem Verleger der Rundschau, unterbringen. Da wäre sie aber an das Schicksal dieser [Glos]syschen Schöpfung, der ich keine lange Dauer prophezeie, und erst recht an seine Person gekettet. Wechsle ich aber schon einmal den Verlag, dann möcht ich auch aus Österreich heraus. – Was soll nun geschehen? Abbrechen kann ich die Zs. im Augenblick ohne grenzenlose Blamage nicht. Ich habe für ein Jahr Manuskript liegen, darunter sehr gute Sachen, h[abe] ein Schillerheft zusammengetrommelt, das zwar nicht glänzend, aber ganz respektabel ist. Ich muss also den Jahrgang 12 auf alle Fälle auf mein Risiko erscheinen lassen. Dann bräch ich allerdings am liebsten ab. Finde ich aber einen grossen reichsdeutschen Verleger dafür – ich will mich zuerst an Teubner wenden – so will ich das Opfer weiter bringen. Leider haben wir noch immer nicht mehr als 300 Abonnenten.
In Bezug auf die Lottebriefe müssen Sie mich gründlich misverstanden haben; sie wären mir aufs höchste willkommen gewesen und nur trauernd lasse ich das Heft ohne einen Beitrag von Ihnen ausgehen. Wenn ich Ihnen vielleicht nicht entschieden genug zugeredet habe, so ist der Umstand daran schuld, dass Sie sagten, [S]ie wollten die Briefe an die Deutsche Rundschau schicken; ich glaubte also, Sie wollten sie um das Lumpenhonorar des Euphorion nicht her- geben, sondern ein klein wenig damit verdienen, was ich ja sehr b[eg]reiflich finde. Hätt ich ahnen können, dass Sie sie im Pult liegen lassen, hätt’ ich Himmel und Erde dafür in Bewegung gesetzt. Ists nun wirklich zu spät? Könnt ich Ihnen bei der Erklärung nicht behilflich [s]ein? Bis Ende Januar oder auch Mitte Februar kann ich leicht warten, wenn ich alles andre vorher setzen lasse. Ich müsste nur ungefähr wissen, wie viel Man. es gäbe. Wünschen Sie, dass die Briefe Borgis gesetzt werden, so tu ich [es] ausnahmsweise für dieses Heft, um den festlichen Charakter zu dokumentieren.
Ich danke Ihnen vielmals für die freundlichen Worte über die Gedichte meiner Frau. Ich erlebe es jetzt am eignen Leib kann ich sagen, welch gefährliches Göttergeschenk d[ie] Dichtergabe ist. Die gefürchteten Depressionen sind bei ihr, stärker und mit kürzeren Pausen, wiedergekehrt und fast scheint es, als ob meine Reise, mit der sie aber völlig einverstanden war und zu der sie mir, als [ich] Ende Mai mutlos geworden war und sie aufgeben wollte, heftig zuredete, dazu viel beigetragen hätte. Das wär freilich ein trauriger Gewinn, dessen Tragweite der grosse Egoist, der mich mit sich zog, weder erahnt noch ermessen könnte. So bin ich denn im Augenblick gewillt das Jahr das zu Ende geht als ein stark passives, wenn nicht als ein verlorenes einzuschätzen und bin in keiner guten Stimmung.
Möchte es bei Ihnen besser gehen; unter allen Umständen bewahren Sie mir Ihre Teilnahme und Freundschaft; ich fühle mich menschlich und wissenschaftlich gänzlich is[oli]ert.
In aufrichtiger Freundschaft und Liebe Ihr
AS.

Ich kehrte mit einem wahren Katzenjammer zurück über das unzuverlässige und lässige Wiener Wesen. Ob ich früher auch so war? Ob ich mich in der harten Prager Schule gefestigt habe? Sicher ist, dass ich zu dieser Art nicht mehr passe und ich würde wahrscheinlich sehr bald mit allen Leuten zertragen sein, wenn ich dauernd dort wirken müsste.

Sauer kehrte wieder von schwierigen Verhandlungen aus Wien zurück und klagte über die Wiener Mentalität.

Briefdaten

Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 423/1-483
Umfang: 8 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9127 [Druckausgabe Nr. 222]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9127/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

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