Lieber freund Ich habe Ihre rede mit grossem interesse gelesen. Aber Sie müssen verzeihen, dass ich mich zu ihrem ziel nicht bekenne. Die botschaft ist schön, allein mir fehlt der glaube. Ich glaube nicht, dass Ihr dritter einwand beseitigt werden kann. Das programm ist idealisch. Und ich stehe bei Jungs meinung, dass das wesen der einzelnen landschaften nur mit hilfe der provinzialen litteraturgeschichte ergründet werden kann, d. h. also auf eine weise, die Sie an anderer stelle mit recht einen bösen zirkel nennen: aus der litteratur der stammescharakter, aus dem so gefundenen Stammescharakter der litteratur. Für mich kommt noch anderes dazu. Weltrichs Schillerbeispiel ist gewiss glänzend. Und was hilft es zum verständnis Schillers? Aber vielleicht sehen andere schärfer als ich und sagen: viel. Dann frag ich weiter: ist die zeichnung der schwäbischen volksseele richtig, so muss sie auch taugen/langen für Schubart, für Wieland. Gewiss beide haben mit Schiller gemeinsames. Aber nicht noch mehr trennendes? Gut, das ist sache des individuellen charakters. Aber ist jenes nicht vielleicht u. mindestens ebenso sehr ergebnis der gemeinsamen zeit als der gemeinsamen landschaft? Kontraste: ..., Frischlin usf Und gibt es ein Schwaben? Wieland, der reichstädter, fühlte sich im herzoglichen Würtemberg als fremder. Die Tübinger waren ihm fremder als die Schweizer, so fremd wie die Erfurter. Oder: das drama das 16. jh.s. Ich habe einmal ein stemma für die verlorenen söhne aufgestellt. Da gehen deutsche u. lat., humanistische u. sog. volkstümliche dramen gerade so duch einander wie die landschaften. – Wie nah ist der Schwabe Frischlin bei dem Braunschweiger Julien? Und das landschaftliche herauszuschälen ist sehr schwer, mir unmöglich.
Die sache liegt meines erachtens in dem Wielandbeispiel begraben. Die landschaftliche Zusammengehörigkeit ist vielenger als die stammeseinheit. Das beweist ja auch die dialektforschung. Ich habe mich oft versucht gefühlt, Goethe als meinen landsmann zu requirieren. Aber zwischem dem Franken meiner und seiner heimat liegt der Spessart und die Würzburger sprechen einen von Aschaffenburg-Frkft. mindestens so weit wie von Bamberg abstehenden dialekt. Dazu kommt die staatliche alte trennung. Ganz abgesehen davon, dass die Mitteldeutschen vielleicht überhaupt am wenigsten sondereigenheiten bewahrt haben. Ferner: wir unterscheiden in meinem engsten heimatland ziemlich genau nach acker- u. weinbauern. Sie sind erkennbar verschiedenen temperaments; jener zumeist pessimistisch, dieser zumeist optimist. U. so werden die berufe überall die stämme u. selbst landschaftliche teilchen der stämme scheiden. Welche volkskunde kann das aufzeichnen? Kurz: ich verzweifle, dass die volkskunde leisten wird, was die voraussetzung für Ihre stammeslitteraturgeschichte ist.
Der Nagelsche litteraturatlas ist möglichst ungeschickt gemacht. Kein mensch hat ohne grenzen ein mass. Da muss, wie Sie richtig sagen, noch sehr viel dazu kommen, um den atlas brauchbar zu machen. Ja ich zweifle überhaupt, ob eine lehrreiche geographie möglich wird: denn die menschen sind beweglicher als die städte u. flüsse. Wo alles muss Schiller eingetragen werden! die stätte seiner geburt ist vielleicht am wenigsten wert; aber mindestens 7 andere orte sind wichtig für ihn, und für einen teil davon ist auch er wichtig. Schwierigkeit über schwierigkeit! Und so entschuldigen Sie meine schweren bedenken.
Dankbar Ihr aufrichtig ergebener
BSfft.

Lieber freund Ich habe Ihre rede mit grossem interesse gelesen. Aber Sie müssen verzeihen, dass ich mich zu ihrem ziel nicht bekenne. Die botschaft ist schön, allein mir fehlt der glaube. Ich glaube nicht, dass Ihr dritter einwand beseitigt werden kann. Das programm ist idealisch. Und ich stehe bei Jungs meinung, dass das wesen der einzelnen landschaften nur mit hilfe der provinzialen litteraturgeschichte ergründet werden kann, d. h. also auf eine weise, die Sie an anderer stelle mit recht einen bösen zirkel nennen: aus der litteratur der stammescharakter, aus dem so gefundenen Stammescharakter der litteratur. Für mich kommt noch anderes dazu. Weltrichs Schillerbeispiel ist gewiss glänzend. Und was hilft es zum verständnis Schillers? Aber vielleicht sehen andere schärfer als ich und sagen: viel. Dann frag ich weiter: ist die zeichnung der schwäbischen volksseele richtig, so muss sie auch taugen/langen für Schubart, für Wieland. Gewiss beide haben mit Schiller gemeinsames. Aber nicht noch mehr trennendes? Gut, das ist sache des individuellen charakters. Aber ist jenes nicht vielleicht u. mindestens ebenso sehr ergebnis der gemeinsamen zeit als der gemeinsamen landschaft? Kontraste: ..., Frischlin usf Und gibt es ein Schwaben? Wieland, der reichstädter, fühlte sich im herzoglichen Würtemberg als fremder. Die Tübinger waren ihm fremder als die Schweizer, so fremd wie die Erfurter. Oder: das drama das 16. jh.s. Ich habe einmal ein stemma für die verlorenen söhne aufgestellt. Da gehen deutsche u. lat., humanistische u. sog. volkstümliche dramen gerade so duch einander wie die landschaften. – Wie nah ist der Schwabe Frischlin bei dem Braunschweiger Julien? Und das landschaftliche herauszuschälen ist sehr schwer, mir unmöglich.
Die sache liegt meines erachtens in dem Wielandbeispiel begraben. Die landschaftliche Zusammengehörigkeit ist vielenger als die stammeseinheit. Das beweist ja auch die dialektforschung. Ich habe mich oft versucht gefühlt, Goethe als meinen landsmann zu requirieren. Aber zwischem dem Franken meiner und seiner heimat liegt der Spessart und die Würzburger sprechen einen von Aschaffenburg-Frkft. mindestens so weit wie von Bamberg abstehenden dialekt. Dazu kommt die staatliche alte trennung. Ganz abgesehen davon, dass die Mitteldeutschen vielleicht überhaupt am wenigsten sondereigenheiten bewahrt haben. Ferner: wir unterscheiden in meinem engsten heimatland ziemlich genau nach acker- u. weinbauern. Sie sind erkennbar verschiedenen temperaments; jener zumeist pessimistisch, dieser zumeist optimist. U. so werden die berufe überall die stämme u. selbst landschaftliche teilchen der stämme scheiden. Welche volkskunde kann das aufzeichnen? Kurz: ich verzweifle, dass die volkskunde leisten wird, was die voraussetzung für Ihre stammeslitteraturgeschichte ist.
Der Nagelsche litteraturatlas ist möglichst ungeschickt gemacht. Kein mensch hat ohne grenzen ein mass. Da muss, wie Sie richtig sagen, noch sehr viel dazu kommen, um den atlas brauchbar zu machen. Ja ich zweifle überhaupt, ob eine lehrreiche geographie möglich wird: denn die menschen sind beweglicher als die städte u. flüsse. Wo alles muss Schiller eingetragen werden! die stätte seiner geburt ist vielleicht am wenigsten wert; aber mindestens 7 andere orte sind wichtig für ihn, und für einen teil davon ist auch er wichtig. Schwierigkeit über schwierigkeit! Und so entschuldigen Sie meine schweren bedenken.
Dankbar Ihr aufrichtig ergebener
BSfft.

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Prag
Archiv: Staatsarchiv Würzburg
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand
Umfang: 4 Seite(n)

Status

Rohtranskription, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9251. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9251/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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