Prag 26/11 1923
Smichow 586

Lieber Freund! Brecht ladet jetzt die Preisrichter der Minorstiftung zu (privaten) Vorschlägen ein. Es geschieht das auf meine Veranlassung; ich habe ihm nach der ersten Verteilung durch Muncker schreiben lassen, dass ich den damaligen Vorgang misbillige, dass man nur den einen Namen erfuhr u. nichts weiter. Da ich damals kaum von meinen schweren Operationen genesen war, stimmte ich widerwillig zu. Später schämte ich mich dieser Zustimmung, u. tue es auch heute noch. Ich möchte gerne eine ähnliche Abdankung der LG. verhindern und wage es daher mit Ihnen (und Muncker) Fühlung zu nehmen. Der Schererpreis wurde in diesem Jahr zwischen Czycharz (Erfahrung & Idee) und Vietor (Ode) geteilt. Es ist nun zu fürchten, dass Brecht und Petersen wieder mit ihren Kandidaten erscheinen. Cz. ist der grösste Confusionarius den es gibt. was Petersen privatim zugab! Vietor ein fleissiger Arbeiter; aber vgl. ich seinen Hölderlin mit dem Lehmanns, so ist dieser zwar etwas schulmeisterlich pedantisch, aber doch weit tiefer u. auch ergebnisreicher als Vietor. Ob Strich zu fürchten ist, weiss ich nicht. Roethe lehnt ihn in seiner Rektoratsrede a[b]. Er ist ganz unter die Myth[ologe]n gegangen. Von Geschichte keine Spur mehr. Ich würde Nadler vorschlagen; aber 1918 ist nur der dritte Band erschienen; die 2. Auflage des 1. erst 1923. Man wird also sagen können: es sei kein abgeschlossenes Werk. Vielleicht erlebe ich noch die nächsten 5 Jahre; freilich dürften wir nach unserer Pesio[nie]rung abgesetzt werden.
Ich meine nur: an erster Stelle stünde Hauffens Fischart. Es ist ein darstellendes Werk auf wissenschaftlichen Vorstudien, das eine ganze Epoche beleuchtet. Schröder hat es (allerdings nur auf einer Postkarte) über alles gerühmt. An zweiter Stelle stünde vielleicht Neumanns Reimbuch wenn es nicht zu philologisch ist. An dritter vielleicht Liepe, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, wenn das neuere deutsche LG. ist. Sonst wäre etwa an Mayncs Immermann zu denken. Willy Flemming? Kluckhohn ist doch etwas ungeordnet. Gundolfs u Witkops Kleist sind beide äusserst schwach; der erstere wird seiner eigenen Methode darin untreu, kennt aber die frühere Forschung kaum; Witkop ist ein mässiges Collegienheft.
Ich warte mit meinem Schreiben an Brecht, bis ich Ihre Antwort habe; denn es eilt ja nicht. Vielleicht sind Sie über die Absichten der anderen Preisrichter besser unterrichtet als ich. Jedenfalls sagen Sie mir Ihre Absicht. Ich vertrage Widerspruch ganz gut; jedenfalls von Ihnen.
Ihre Anfrage wegen Gerles habe ich nicht vergessen; unsere Weihnachtsferien beginnen bald. Jetzt korrigiere ich an 5 Bden Grillparzer zu gleicher Zeit und habe 57 Leute im Proseminar. Das sagt alles. Herzlich grüssend Ihr treulich ergebener ASauer.

Prag 26/11 1923
Smichow 586

Lieber Freund! Brecht ladet jetzt die Preisrichter der Minorstiftung zu (privaten) Vorschlägen ein. Es geschieht das auf meine Veranlassung; ich habe ihm nach der ersten Verteilung durch Muncker schreiben lassen, dass ich den damaligen Vorgang misbillige, dass man nur den einen Namen erfuhr u. nichts weiter. Da ich damals kaum von meinen schweren Operationen genesen war, stimmte ich widerwillig zu. Später schämte ich mich dieser Zustimmung, u. tue es auch heute noch. Ich möchte gerne eine ähnliche Abdankung der LG. verhindern und wage es daher mit Ihnen (und Muncker) Fühlung zu nehmen. Der Schererpreis wurde in diesem Jahr zwischen Czycharz (Erfahrung & Idee) und Vietor (Ode) geteilt. Es ist nun zu fürchten, dass Brecht und Petersen wieder mit ihren Kandidaten erscheinen. Cz. ist der grösste Confusionarius den es gibt. was Petersen privatim zugab! Vietor ein fleissiger Arbeiter; aber vgl. ich seinen Hölderlin mit dem Lehmanns, so ist dieser zwar etwas schulmeisterlich pedantisch, aber doch weit tiefer u. auch ergebnisreicher als Vietor. Ob Strich zu fürchten ist, weiss ich nicht. Roethe lehnt ihn in seiner Rektoratsrede a[b]. Er ist ganz unter die Myth[ologe]n gegangen. Von Geschichte keine Spur mehr. Ich würde Nadler vorschlagen; aber 1918 ist nur der dritte Band erschienen; die 2. Auflage des 1. erst 1923. Man wird also sagen können: es sei kein abgeschlossenes Werk. Vielleicht erlebe ich noch die nächsten 5 Jahre; freilich dürften wir nach unserer Pesio[nie]rung abgesetzt werden.
Ich meine nur: an erster Stelle stünde Hauffens Fischart. Es ist ein darstellendes Werk auf wissenschaftlichen Vorstudien, das eine ganze Epoche beleuchtet. Schröder hat es (allerdings nur auf einer Postkarte) über alles gerühmt. An zweiter Stelle stünde vielleicht Neumanns Reimbuch wenn es nicht zu philologisch ist. An dritter vielleicht Liepe, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, wenn das neuere deutsche LG. ist. Sonst wäre etwa an Mayncs Immermann zu denken. Willy Flemming? Kluckhohn ist doch etwas ungeordnet. Gundolfs u Witkops Kleist sind beide äusserst schwach; der erstere wird seiner eigenen Methode darin untreu, kennt aber die frühere Forschung kaum; Witkop ist ein mässiges Collegienheft.
Ich warte mit meinem Schreiben an Brecht, bis ich Ihre Antwort habe; denn es eilt ja nicht. Vielleicht sind Sie über die Absichten der anderen Preisrichter besser unterrichtet als ich. Jedenfalls sagen Sie mir Ihre Absicht. Ich vertrage Widerspruch ganz gut; jedenfalls von Ihnen.
Ihre Anfrage wegen Gerles habe ich nicht vergessen; unsere Weihnachtsferien beginnen bald. Jetzt korrigiere ich an 5 Bden Grillparzer zu gleicher Zeit und habe 57 Leute im Proseminar. Das sagt alles. Herzlich grüssend Ihr treulich ergebener ASauer.

Briefdaten

Schreibort: Prag
Empfangsort: Graz
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 423/1-629 (Vorderseite)
Umfang: 1 Seite(n)

Status

Rohtranskription, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-9395 [Druckausgabe Nr. 288]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.9395/methods/sdef:TEI/get

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

LinksInformation

Das Bildmaterial dieser Webseite sind Reproduktionen aus den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek und des Staatsarchivs Würzburg. Für jede weitere Verwendung wenden Sie sich bitte an die jeweilige Institution.