gek 4 1 52

Lieber Okopenko,

wegen Krankheit unmittelbatr vor der Weihnachtszeit komme ich erst jetzt zu einer Antwort; Dank für Ihren Brief jedenfalls. In Wien war ich nur zwei oder drei Tage, und diese ungern, zur Lesung bei der Buchwoche. Ich sah fast niemanden; daß wir uns nicht trafen, tut mir besonders leid.

Ihre Prosa in den "Stimmen" habe ich gelesen, mit Spannung und Anteilnahme, welche allerdings gegen Ende nachlassen. Da wünscht man sich doch etwas mehr reale Anhaltspunkte, doch bleibt's irgendwo unverbindlich. Wie wär's, wenn Sie zur Übung einmal etwas ganz Gegenständliches versuchten? Zum Beispiel: Zwei Menschen treffen einander zwei Mal; zuerst in der freien Natur wo, und dann in einem Zimmer. Wie das jeweilige Milieu ihre Verhaltensweisen bestimmt, wie sich die Menschen in der jeweiligen Umwelt wandeln. Welche Bilder jeweils möglich sind. - Oder eine Fahrt in der Stadtbahn, oder ihr Büro, oder was geschieht, wenn Sie abends heim-kommen. Läßt sich - so müssen sie sich selber fragen - Psychologisches denn nicht in reale Bilder fassen? Oder erzählen Sie eine Behandlung beim Arzt, beschreiben Sie mehr, ohne zu denken, zu meditieren, zu träumen, zu analysieren. Ansätze wären genug da in Ihrem Bis-herigen, Sie vergeben sich nichts mit solchen Übungen. Sind aber sehr nützlich. Tun Sie überhaupt mehr die-jenigen Sachen, welche Ihnen weniger zu liegen scheinen. Oder versuchen Sie ein Landschaftsgedicht: gerade der Stadtmensch verliert das Kosmische aus dem Auge, leider. Geben Sie's ihm im Wort zurück.

Das sind keine weisen Ratslchläge; das alles soll Ihnen nur sagen, daß ich etwas von Ihnen erhoffe, was ich wahrhaftig nicht bei jedem sagen könnte. Nehmen Sie's auch so, und nicht als ungeziemende Einmischung in das Ihre.

Legende
ABC: Streichung ABC: Hinzufügung;ABC: SperrsatzABC: Okopenko HandschriftABC: Okopenko MaschinenschriftABC: Text gedruckt[n]: Stellenkommentar

              
gek 4 1 52

Lieber Okopenko,

wegen Krankheit unmittelbatr vor der Weihnachtszeit komme ich erst jetzt zu einer Antwort; Dank für Ihren Brief jedenfalls. In Wien war ich nur zwei oder drei Tage, und diese ungern, zur Lesung bei der Buchwoche. Ich sah fast niemanden; daß wir uns nicht trafen, tut mir besonders leid.

Ihre Prosa in den "Stimmen" habe ich gelesen, mit Spannung und Anteilnahme, welche allerdings gegen Ende nachlassen. Da wünscht man sich doch etwas mehr reale Anhaltspunkte, doch bleibt's irgendwo unverbindlich. Wie wär's, wenn Sie zur Übung einmal etwas ganz Gegenständliches versuchten? Zum Beispiel: Zwei Menschen treffen einander zwei Mal; zuerst in der freien Natur wo, und dann in einem Zimmer. Wie das jeweilige Milieu ihre Verhaltensweisen bestimmt, wie sich die Menschen in der jeweiligen Umwelt wandeln. Welche Bilder jeweils möglich sind. - Oder eine Fahrt in der Stadtbahn, oder ihr Büro, oder was geschieht, wenn Sie abends heim-kommen. Läßt sich - so müssen sie sich selber fragen - Psychologisches denn nicht in reale Bilder fassen? Oder erzählen Sie eine Behandlung beim Arzt, beschreiben Sie mehr, ohne zu denken, zu meditieren, zu träumen, zu analysieren. Ansätze wären genug da in Ihrem Bis-herigen, Sie vergeben sich nichts mit solchen Übungen. Sind aber sehr nützlich. Tun Sie überhaupt mehr die-jenigen Sachen, welche Ihnen weniger zu liegen scheinen. Oder versuchen Sie ein Landschaftsgedicht: gerade der Stadtmensch verliert das Kosmische aus dem Auge, leider. Geben Sie's ihm im Wort zurück.

Das sind keine weisen Ratslchläge; das alles soll Ihnen nur sagen, daß ich etwas von Ihnen erhoffe, was ich wahrhaftig nicht bei jedem sagen könnte. Nehmen Sie's auch so, und nicht als ungeziemende Einmischung in das Ihre.

Legende
ABC: Streichung ABC: Hinzufügung;ABC: SperrsatzABC: Okopenko HandschriftABC: Okopenko MaschinenschriftABC: Text gedruckt[n]: Stellenkommentar
Zitiervorschlag

Okopenko, Andreas: Tagebuch 01.01.1952–29.02.1952. Digitale Edition, hrsg. von Roland Innerhofer, Bernhard Fetz, Christian Zolles, Laura Tezarek, Arno Herberth, Desiree Hebenstreit, Holger Englerth, Österreichische Nationalbibliothek und Universität Wien. Wien: Version 2.0, 21.11.2019. URL: https://edition.onb.ac.at/okopenko/o:oko.tb-19520101-19520229/methods/sdef:TEI/get?mode=p_11

Ältere Versionen: siehe Archiv

Lizenzhinweis

Die Transkriptionen der Tagebücher sind unter CC BY-SA 4.0 verfügbar. Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

LinksInformation

Jegliche Nutzung der Digitalisate muss mit dem Rechtsnachfolger von Andreas Okopenko, August Bisinger, individuell abgeklärt werden.