Graz 16/5 84.
Lieber, verehrter Herr College!
Da ich eigentlich eine ziemlich rege Correspondenz führe, so begreife ich es nicht ganz, wie es kommt, von Ihnen so selten etwas ausführlicheres zu hören und umgekehrt an Sie so wenige längere Berichte zu liefern. Fast will es mir scheinen, als ob ich die Schuld auf Sie abwälzen dürfte.
Schon lange liegt mir dieser [B]rief im Sinne und nur eine Lemberger Reise und traurige Erlebnisse innerhalb meines engsten Freundes- kreises haben ihn um 4 Wochen verzögert. Es hat mich tief betrübt, aus Erichs Mitteilungen z[u] erfahren, daß in Bayern für Sie nichts gethan wird; zwar darf ich mein Österreich nicht rühmen; um einen volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen, kann ich von meinen jetzigen Einkünften sagen, sie seien zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel; aber wenigstens hat man Minor und Werner anständig versorgt und ich kann mich damit trösten, daß ich als der überzählige in die [W]elt der Germanistik eingetreten bin. Neuerlich sind wieder Gerüchte aufgetaucht, daß Sie in Straßburg ankommen sollen; auch Wienscheint aus dem Hintergrunde herzuleuchten und ich würde mich herzlich freuen, Sie bei uns begrüßen zu können. Meine Aussichten sind gleich Null; man hält nicht einmal die mir gegebenen Versprechungen und ich raufe mich noch immer wegen der Seminarremuneration für den vergangenen Winter.
Doch lassen wir diese traurigen Geschichten. Ich wenigstens bin ich ! Graz sehr, sehr zufrieden. Keine polnischen Juden und keine polnischen Collegen. Ein netter, lieber Umgangskreis, engere Fachgenossen (Schönbach, Zingerle), Wien in der nächsten Nähe; eine herrlich[e] Gegend, eine erträgliche Bibliothek. Man sollt meinen, hier müße man frisch und gesund sein, was [b]ei mir nicht ganz der Fall ist. Aber ich bin so fleißig als es meine Gesundheit erlaubt, manchmal auch etwas mehr. Ich habe wie gewöhnlich mehrere Eisen im Feuer, kehre abwechselnd zu ihnen zurück, verbrenne mir gelegentlich auch die Finger: freue mich aber im ganzen herzlich, wie meine [A]rbeiten gedeihen und wachsen. Ich habe äußere und innere Arbeiten. Die letzteren treten ab und zu an das Tageslicht, um wieder unter den Felsen zu verschwinden. Meine österreichi[sch]en Probleme hege ich im Stillen. Für Kürschner fördere ich einiges, was ich in Lemberg schon fast beendigt hatte, die alten Kleist-Untersuchungen denke ich wieder aufzunehmen, da die entscheidenden Briefe über die Ausgabe letzter Hand gefunden wurden; für Uz habe ich Bücher aus [Be]rlin hier und Handschriften aus Halberstadt. Mein Publicum über Goethes Wilhelm Meister interessirt mich riesig und ich habe viel dafür [zu]sammengelesen. Manchmal mache ich mir bittere Vorwürfe, daß ich es mir an Concentration fehlen lasse; aber wie oft läuft mir mein Rößlein ganz einfach davon und ich muß froh sein, durch ein paar Tage hindurch ein anderes reiten zu dürfen.
Freilich ein Buch wie Lessing von Schmidt oder Ihr Wielandgeht aus dieser Vielgeschäftigkeit nicht hervor. Aber das eine darf ich diesen Arbeiten an die Seite setzen, die Liebe und Wärme, mit der ich alles pflege, w[as] in meinen Gesichtskreis tritt. Mir kann eine Lesart Herzenssache werden, was zwar pedantisch aber der Sache meines Erachtens nicht abträglich ist. Ich sah es wieder als ich meine Bürger-Einleitung corrigirte, wie ein ganzes großes Stück Leben während der zwei Jahre als ich [da]ran gearbeitet hatte, hineinverwebt worden war und bei einzelnen Sätzen konnten ! ich die Tage angeben, an denen ich sie geschrieben.
Soweit war ich gestern gekommen, als ich zu einem Spaziergange abge[h]olt wurde, an den sich eine Germanistenkneipe knüpfte; spät heimgekehrt, habe ich gegen Gewohnheit lange geschlafen und sitze erst spät am Schreibtische. Wol möchten sich die Gedanken noch lange fortspinnen; aber im Hause gegenüber singt eine kräftige schöne Stimme Lieder von Schubert und Rubinstein [u]nd ich bin zu viel Süddeutscher, besser gesagt zu viel Wiener als daß ich meine fünf Sinne zusammen halten könnte, wenn Musik an mein Ohr klingt. So schließe ich in der Hoffnung, daß Sie sic[h a]uch einmal ein Stündchen von Arbeits- oder Ruhezeit abreißen, um mir von Ihrem Leben und Weben etwas zu erzählen.
Mit besten Grüßen
Ihr
Ergebener
Saue[r].
Kürschner hat den ganzen MalerMüllerschen Nachlaß erworben; 8 Akte Faust darunter, eine Iphigenie etc. auch alle Handzeichnungen und die ganze Correspondenz der römischen Zeit. Er will glaube ich eine kritische Ausgabe machen. Auch den Nachlaß von J. N. Götz hat er. Diese Gräben wären also geöffnet.
Zum Schluße fällt mir ein, daß ich [I]hnen weder zu den prächtigen Bden der Schlegelschen Vorlesungen gratulirt, noch über das selige Ende meiner Wiener Neudrucke Nachricht gegeben habe. Sie sind am Samstag vor Ostern in eine bessere Welt hinüber gegangen. Zwar wurden während ich in Wien war Wiederbelebungs[V]ersuche angestellt, bis jetzt ohne Erfolg. Im Juli will mir Konegen den allerletztesten Entschluß mitteilen. Sei’s! Über die beiden Hefte 7/8 hätte ich viel zu erzählen. Heft 7 war im August fertig bis auf die Einleitung, die durch die Ü[be]rsiedlung unterbrochen wurde und dann nur mühsam zu Stande gebracht werden konnte. Bei Heft 8 bin ich meinem Freunde Glossy aufs Eis gegangen. Es hätte während der Ausstellung erscheinen und verkauft werden sollen. Er verschleppte es bis October, der Verleger ließ es bis jetzt liegen; also veraltet und für das Alte[r] zu wenig reichhaltig. Ein Misgriff in jeder Beziehung. –
Graz 16/5 84.
Lieber, verehrter Herr College!
Da ich eigentlich eine ziemlich rege Correspondenz führe, so begreife ich es nicht ganz, wie es kommt, von Ihnen so selten etwas ausführlicheres zu hören und umgekehrt an Sie so wenige längere Berichte zu liefern. Fast will es mir scheinen, als ob ich die Schuld auf Sie abwälzen dürfte.
Schon lange liegt mir dieser [B]rief im Sinne und nur eine Lemberger Reise und traurige Erlebnisse innerhalb meines engsten Freundes- kreises haben ihn um 4 Wochen verzögert. Es hat mich tief betrübt, aus Erichs Mitteilungen z[u] erfahren, daß in Bayern für Sie nichts gethan wird; zwar darf ich mein Österreich nicht rühmen; um einen volkstümlichen Ausdruck zu gebrauchen, kann ich von meinen jetzigen Einkünften sagen, sie seien zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel; aber wenigstens hat man Minor und Werner anständig versorgt und ich kann mich damit trösten, daß ich als der überzählige in die [W]elt der Germanistik eingetreten bin. Neuerlich sind wieder Gerüchte aufgetaucht, daß Sie in Straßburg ankommen sollen; auch Wienscheint aus dem Hintergrunde herzuleuchten und ich würde mich herzlich freuen, Sie bei uns begrüßen zu können. Meine Aussichten sind gleich Null; man hält nicht einmal die mir gegebenen Versprechungen und ich raufe mich noch immer wegen der Seminarremuneration für den vergangenen Winter.
Doch lassen wir diese traurigen Geschichten. Ich wenigstens bin ich ! Graz sehr, sehr zufrieden. Keine polnischen Juden und keine polnischen Collegen. Ein netter, lieber Umgangskreis, engere Fachgenossen (Schönbach, Zingerle), Wien in der nächsten Nähe; eine herrlich[e] Gegend, eine erträgliche Bibliothek. Man sollt meinen, hier müße man frisch und gesund sein, was [b]ei mir nicht ganz der Fall ist. Aber ich bin so fleißig als es meine Gesundheit erlaubt, manchmal auch etwas mehr. Ich habe wie gewöhnlich mehrere Eisen im Feuer, kehre abwechselnd zu ihnen zurück, verbrenne mir gelegentlich auch die Finger: freue mich aber im ganzen herzlich, wie meine [A]rbeiten gedeihen und wachsen. Ich habe äußere und innere Arbeiten. Die letzteren treten ab und zu an das Tageslicht, um wieder unter den Felsen zu verschwinden. Meine österreichi[sch]en Probleme hege ich im Stillen. Für Kürschner fördere ich einiges, was ich in Lemberg schon fast beendigt hatte, die alten Kleist-Untersuchungen denke ich wieder aufzunehmen, da die entscheidenden Briefe über die Ausgabe letzter Hand gefunden wurden; für Uz habe ich Bücher aus [Be]rlin hier und Handschriften aus Halberstadt. Mein Publicum über Goethes Wilhelm Meister interessirt mich riesig und ich habe viel dafür [zu]sammengelesen. Manchmal mache ich mir bittere Vorwürfe, daß ich es mir an Concentration fehlen lasse; aber wie oft läuft mir mein Rößlein ganz einfach davon und ich muß froh sein, durch ein paar Tage hindurch ein anderes reiten zu dürfen.
Freilich ein Buch wie Lessing von Schmidt oder Ihr Wielandgeht aus dieser Vielgeschäftigkeit nicht hervor. Aber das eine darf ich diesen Arbeiten an die Seite setzen, die Liebe und Wärme, mit der ich alles pflege, w[as] in meinen Gesichtskreis tritt. Mir kann eine Lesart Herzenssache werden, was zwar pedantisch aber der Sache meines Erachtens nicht abträglich ist. Ich sah es wieder als ich meine Bürger-Einleitung corrigirte, wie ein ganzes großes Stück Leben während der zwei Jahre als ich [da]ran gearbeitet hatte, hineinverwebt worden war und bei einzelnen Sätzen konnten ! ich die Tage angeben, an denen ich sie geschrieben.
Soweit war ich gestern gekommen, als ich zu einem Spaziergange abge[h]olt wurde, an den sich eine Germanistenkneipe knüpfte; spät heimgekehrt, habe ich gegen Gewohnheit lange geschlafen und sitze erst spät am Schreibtische. Wol möchten sich die Gedanken noch lange fortspinnen; aber im Hause gegenüber singt eine kräftige schöne Stimme Lieder von Schubert und Rubinstein [u]nd ich bin zu viel Süddeutscher, besser gesagt zu viel Wiener als daß ich meine fünf Sinne zusammen halten könnte, wenn Musik an mein Ohr klingt. So schließe ich in der Hoffnung, daß Sie sic[h a]uch einmal ein Stündchen von Arbeits- oder Ruhezeit abreißen, um mir von Ihrem Leben und Weben etwas zu erzählen.
Mit besten Grüßen
Ihr
Ergebener
Saue[r].
Kürschner hat den ganzen MalerMüllerschen Nachlaß erworben; 8 Akte Faust darunter, eine Iphigenie etc. auch alle Handzeichnungen und die ganze Correspondenz der römischen Zeit. Er will glaube ich eine kritische Ausgabe machen. Auch den Nachlaß von J. N. Götz hat er. Diese Gräben wären also geöffnet.
Zum Schluße fällt mir ein, daß ich [I]hnen weder zu den prächtigen Bden der Schlegelschen Vorlesungen gratulirt, noch über das selige Ende meiner Wiener Neudrucke Nachricht gegeben habe. Sie sind am Samstag vor Ostern in eine bessere Welt hinüber gegangen. Zwar wurden während ich in Wien war Wiederbelebungs[V]ersuche angestellt, bis jetzt ohne Erfolg. Im Juli will mir Konegen den allerletztesten Entschluß mitteilen. Sei’s! Über die beiden Hefte 7/8 hätte ich viel zu erzählen. Heft 7 war im August fertig bis auf die Einleitung, die durch die Ü[be]rsiedlung unterbrochen wurde und dann nur mühsam zu Stande gebracht werden konnte. Bei Heft 8 bin ich meinem Freunde Glossy aufs Eis gegangen. Es hätte während der Ausstellung erscheinen und verkauft werden sollen. Er verschleppte es bis October, der Verleger ließ es bis jetzt liegen; also veraltet und für das Alte[r] zu wenig reichhaltig. Ein Misgriff in jeder Beziehung. –
Da ich eigentlich eine ziemlich rege Correspondenz führe, so begreife ich es nicht ganz, wie es kommt, von Ihnen so selten etwas ausführlicheres zu hören und umgekehrt an Sie so wenige längere Berichte zu liefern. Fast will es mir scheinen, als ob ich die Schuld auf Sie abwälzen dürfte.
Sauer beklagte sich, dass der Briefkontakt nicht so rege und umfangreich war, wie er es sich gewünscht hätte.
Zum Schluße fällt mir ein, daß ich Ihnen weder zu den prächtigen Bden der Schlegelschen Vorlesungen gratulirt, noch über das selige Ende meiner Wiener Neudrucke Nachricht gegeben habe. Sie sind am Samstag vor Ostern in eine bessere Welt hinüber gegangen. Zwar wurden während ich in Wien war Wiederbelebungs-Versuche angstellt, bis jetzt ohne Erfolg.
Trotz des schleppenden Absatzes, den Sauer wiederholt beklagte, wurden die WND erst 1886 mit dem 11. Heft eingestellt.
Schreibort: Graz
Empfangsort: Würzburg
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur:
Autogr. 422/1-42
Umfang: 12 Seite(n)
Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt
ZitiervorschlagBrief ID-8279 [Druckausgabe Nr. 40]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8279/methods/sdef:TEI/get
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