Der Mann ohne Eigenschaften - Die Romanstruktur

Bei Musils Arbeit am Romanprojekt "Der Mann ohne Eigenschaften" spielen Zäsuren und Richtungsveränderungen eine Rolle, die zu Ergebnissen führen, welche von Helmut Arntzen als »Zellteilungen« beschrieben worden sind [Arntzen 1982, 50]. Zur ersten Zäsur kommt es 1926 beim Abbruch des Vorstufen-Projekts "Die Zwillingsschwester", bei der Wiederaufnahme der Arbeit unter dem neuen Titel "Der Mann ohne Eigenschaften" plant er die Aufteilung in zwei Bände. Der erste Band erscheint unter der Bezeichnung "Erstes Buch" im November 1930 in zwei Teilen ("Eine Art Einleitung" / "Seinesgleichen geschieht"), der zweite Band als erster Teil des Zweiten Buchs (= "Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher)") im Dezember 1932. Die zweite Zäsur bildet das Jahr 1933 mit dem Beginn der Nazi-Diktatur in Deutschland, die Musil de facto in die Situation bringt, den Romanabschluss auf lange Zeit verschieben zu müssen, ohne dass die Dauer dieser Verschiebung absehbar wird. In der Schreibphase 1933-1936 versucht Musil, in Wien von der Unterstützung privater Förderer lebend, das Zweite Buch in zwei Fortsetzungsreihen, an denen er parallel arbeitet, bis zum Schlussteil "Eine Art Ende" fertig zu stellen. Die dritte Zäsur bringt das Frühjahr 1936 mit einer schweren Erkrankung mit sich, die in der nächsten Schreibphase 1936-1938 zu einer Konzentration der Schreibrichtung auf die Fertigstellung einer Zwischenfortsetzung führt (= "Zweiter Teil des Zweiten Buchs"), die aber noch nicht bis zum Ende des Romanteils "Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher)" führt, diesen damit in drei Abschnitte spaltet. Im Frühjahr 1938, als sich herausstellt, dass der bereits gesetzte Romanteil bei Bermann-Fischer in Wien wegen der Annexion Österreichs nicht erscheinen kann, ergibt sich die nächste Zäsur: Musil arbeitet in der letzten Schreibphase im Schweizer Exil erst noch an einer Fortsetzung der Druckfahnen-Kapitel (1938-1939), dann in Genf fast ausschließlich an deren teilweisen Ersetzung in den drei Genfer Reihen der Kapitel 47-52 (1939-1942). Dadurch zerfällt auch Band 2, Teil 2 in zwei Bereiche, nämlich in die von der Ersetzung unberührten und in die zu ersetzenden Kapitel. Insgesamt lässt sich nicht von zwei Fassungen des Romans im Nachlass sprechen, wie De Angelis dies getan hat [vgl. De Angelis 2004, 18-36], sondern von im Prinzip zwei Schreibrichtungen, von denen eine zunächst die Romanfabel auch bis ans Ende ausrollt, während die andere Umformulierungen, Umarbeitungen und Neufassungen an der bereits bestehenden Textur anvisiert bzw. Neuansätze zur Integration neuer Substanz in diese. In der letzten Phase konzentriert sich Musils Schreiben auf die Ersetzung des Texts einer einzigen Kapitelgruppe der bereits vorhandenen Romanfortsetzung. Für den Gesamtprozess 1933-1942 aber gilt, dass umgearbeitete oder ersetzte Kapitel nicht ausgeschieden werden, sondern dass der Autor sie bewusst weiter im Fundus hält, keine Entscheidungen über eine endgültige Kapitelfolge mehr trifft, den 1936 skizzierten Schlußteil kaum mehr beachtet, damit das Prinzip des linearen Verlaufs außer Kraft setzt und Kapitelprojekte zueinander – freilich nicht beliebig – in Varianz bleiben lässt.