Geschichte der Musil-Edition

2022 ff.: Summe aller Bestrebungen - MUSIL ONLINE

Artur R. Boelderl und Walter Fanta haben am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (RMI/KLA) ein Konzept für eine umfassende Online-Edition nach den Prinzipien einer Social Edition entwickelt. Das geplante Portal umfasst sowohl die zu Lebzeiten erschienenen Werke, den Nachlass und die Korrespondenz Musils als auch den interdiskursiven Kommentar und eine multilinguale Komponente mit Übersetzungen sowie Zeugnissen der internationalen Rezeption. In das Korpus für die neue Open-Access- und Open-Source-basierte Online-Ausgabe sind die Ergebnisse der gesamten bisherigen Musil-Philologie eingeflossen. Der Prototyp 2022 am Editionsportal der Österreichischen Nationalbibliothek repräsentiert die allererste Stufe bei schrittweisen Umsetzung dieses Konzepts.

2017-2021: Digitale Repräsentation des Gesamtwerks als XML/TEI

Das RMI/KLA verfügt über ein digitales Korpus im XML/TEI-Format, das auf einer von Artur R. Boelderl und Walter Fanta entwickelten TEI-Architektur beruht. Diese regelt das Zusammenspiel zwischen den Bereichen der Edition: Lesen - Schauen - Verstehen und sieht für die Textwiedergabe, die Manuskriptbeschreibung und den interdiskursiven Kommentar ein für Musil spezifiziertes Annotationssystem vor. Das XML/TEI-Korpus wurde 2019/20 seitens der Firma Pagina (Tübingen) aus den Flatfiles der Klagenfurter Ausgabe (FolioViews) migriert. Die Ergebnisse der Migration liegen in Form von Rohdaten vor, deren Annotationen in komplexen Konsolidierungsschritten an die TEI-Architektur angepasst werden. Dabei handelt es sich um einen längerfristigen Prozess, abgestimmt auf den sukzessiven Ausbau der Online-Edition in Gestalt jeweils spezifischer Projekte mit besonderen Anforderungen, was die TEI-Annotationen betrifft. Parallel zur Konsolidierung der Werk- und Nachlass-Daten werden Referenztexte des interdiskursiven Kommentars (FWF-Projekt Nr. P 30028, Laufzeit 2018-2023) in TEI-Kodierung bereitgestellt. Teil dieses Prozesses der Herstellung eines XML/TEI-Korpus bildet die 12-bändige Robert-Musil-Gesamtausgabe beim Verlag Jung und Jung in Salzburg, herausgegeben von Walter Fanta 2016-2021. Die Printversion ist die an ein breites Publikum gerichtete Vermittlung des Lesetextes, weitgehend identisch mit dessen XML/TEI-Repräsentation.

2000-2017: FolioViews DVD-ROM-Edition

1997 stellte Fotis Jannidis (Mitarbeiter von Karl Eibl an der Universität München) eine Version der Nachlass-Transkription (WCView) als FolioViews-Infobase her; dieser Schritt ermöglichte letztlich das Weiterleben der Daten. Zu der von Jannidis geplanten FolioViews-Adaption des Musil-Korpus nach dem Muster von "Der junge Goethe" kam es nicht mehr, er übergab den Datenstand 2000 an das RMI/KLA, wo man auf dieser Grundlage, ergänzt um Digitalisierungen der Autor-autorisierten Werke, eine digitale Gesamtausgabe in einer einzigen Folio-Hypertext-Datei vorbereitete. Sie wurde 2009 unter dem Titel "Klagenfurter Ausgabe", herausgegeben von Walter Fanta, Klaus Amann und Karl Corino, als DVD-ROM-Edition veröffentlicht. In ihr sind Texte Musils als Lesetext (Autor-autorisiertes Werk, aus dem Nachlass generierte Schriften, Korrespondenz), als Transkription (Nachlass-Manuskripte) und als Faksimile (Nachlass-Manuskripte) enthalten. Ein umfangreicher Apparat bietet eine Dokumentation zu den Mappen und Heften des Nachlasses, zu jeder einzelnen Manuskriptseite, Register zu Siglen, Werkfiguren, historischen Personen, Orten, Institutionen. Nicht nur Lesetexte, Transkriptionen, Faksimiles und Apparat sind in der FolioViews-Infobase durch Hyperlinks verknüpft, darüber hinaus gibt es einen Ansatz, Musils Verweissystem im Nachlass durch Sprungverknüpfungen nachzubilden. Das neue Publikationsformat bot den Vorteil effizienter Durchsuchbarkeit, hatte als lizenziertes Produkt jedoch den Nachteil eines relativ hohen Kaufpreises und mangelhafter Exportmöglichkeiten. Bis 2015 wurden am RMI/KLA Updates erstellt, zu deren Veröffentlichung es aber nicht kam, weil einerseits die Folio-Software nicht weiterentwickelt wurde, andererseits neue Betriebssysteme und Hardware-Umgebungen die DVD technisch obsolet werden ließen. Die Einsicht setzte sich durch, dass der Datenfundus open access online zur Verfügung gestellt werden sollte.

1976-1999: Die Nachlass-Transkription

Bereits 1976 eröffnete Friedbert Aspetsberger am Institut für Germanistik der Universität für Bildungswissenschaften Klagenfurt mit dem vom FWF geförderten Projekt "Robert-Musil- Nachlassdokumentation" die seither andauernde Tradition der Musil-Philologie in Robert Musils Geburtsstadt. Das Ergebnis des Dokumentationsprojekts lag 1980 als Microfiche-Katalog vor, in dem Datierungen, Textstufenzuordnungen, Materialangaben, Werkzuordnungen, Werkfiguren, Orte u.a. zu jeder Manuskriptseite des Nachlasses verzeichnet waren. Diese Dokumentation wurde digitalisiert zu einem integralen Bestandteil des elektronischen Korpus. Nachdem sich Aspetsberger mit Karl Eibl (Universität Trier) und dem Herausgeber der Buchausgaben Adolf Frisé 1980 auf eine Kooperation mit dem Zweck, den gesamten Nachlass zu transkribieren, verständigt hatte, begann 1984 ein gemeinsames, von der DFG und dem FWF gefördertes Projekt "Robert-Musil-Nachlass-Transkription". Bei der Durchführung wurde von Anfang an EDV eingesetzt, die Ergebnisse der Entzifferung wurden zunächst in unterschiedlichen Textverarbeitungsformaten abgespeichert. Das Gesamtresultat lag 1989 vor; nach heftigen Debatten setzte sich Karl Eibl mit dem Vorschlag einer Veröffentlichung in digitaler Form durch, nämlich der kommerziellen Retrieval-Software WordCruncher (WCView). 1993 erschien beim Rowohlt-Verlag die CD-ROM "Robert Musil Nachlass-Transkription", herausgegeben von Aspetsberger, Eibl und Frisé; sie enthielt die Nachlass-Transkription zweimal: neben der WordCruncher-Version mit dem Vorzug besonders rascher Durchsuchbarkeit auch die in Klagenfurt von Walter Fanta und Arno Rußegger konzipierte und von Studierenden des Instituts für Information entwickelte PEP-Version mit Metadaten (den Informationen der Nachlass-Dokumentation). Die CD-ROM lief auf PCs unter dem Betriebssystem DOS, wenige Monate nach ihrem Erscheinen begann der Siegeszug von MS Windows. Schon allein deshalb fand die CD keine nennenswerte Verbreitung, auch der hohe Verkaufspreis verhinderte dies. Aus heutiger Sicht bestand der größte Fehler der damals für die Edition Verantwortlichen darin, sich nicht um eine Schnittstelle für die formatübergreifende Nutzbarkeit der Daten gekümmert zu haben. Mit der PEP-Version arbeitete Walter Fanta bis 1999 im Rahmen seines Dissertationsprojekts weiter: Er vertiefte die Nachlass-Dokumentation in den Bereichen Datierung und Werkzuordnung.

1952-1981: Die Frisé-Editionen

Schon Martha Musil veröffentlichte 1943 im Eigenverlag in Lausanne unter dem Titel "Der Mann ohne Eigenschaften. Dritter Band" das erste Mal eine Fortsetzung aus dem Nachlass. Die erste Ausgabe Adolf Frisés von 1952 ging ein Stück weit darüber hinaus. Sie sammelte aus allen relevanten Mappen Entwürfe aus unterschiedlichsten Arbeitsphasen, um daraus eine Kapitelfolge von der Fortsetzung nach dem Ende des Teilbands 1932 bis zum Romanfinale in einem imaginären Kapitel mit der Nummer 128 zu konstruieren. Frisé verfolgte das Konzept einer Gesamtausgabe, er edierte weitere Werke Musils, unter anderem erstmals auch Teile der (Tagebuch-)Hefte, und er verbesserte und ergänzte die Nachlass-Fortsetzung des "Mann ohne Eigenschaften" sukzessive. Obwohl diese Ausgaben die Wirkung Musils begründeten und Basis für alle fremdsprachigen Übersetzungen wurden, stießen sie auch auf Kritik, ausgelöst von Frisés Konkurrenten in der Nachlass-Erforschung Kaiser und Wilkins und von der Veröffentlichung der Dissertationsschrift Wilhelm Bausingers "Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman 'Der Mann ohne Eigenschaften'" (1964). Frisé sah sich gezwungen, dem Druck der Philologen nachzugeben, und legte von der DFG geförderte Studienausgaben in mehreren Teilen vor: Tagebücher (1976), Gesammelte Werke (1978), Briefe (1981). Die neuen Ausgaben veränderten den Blick auf Musils Texte. Während man die älteren Ausgaben als eine Vermittlung an ein breites Publikum verstehen kann, rücken die neueren Ausgaben das Komplexe und Fragmentarische in den Fokus. Der Nachlass-Teil zum "Mann ohne Eigenschaften" ist in ihnen folgendermaßen strukturiert: Auf die zwanzig Druckfahnenkapitel (1938) folgen deren Fortsetzungs- und Ersetzungsversuche (1939-1942), ab dann wird das Material in Gestalt einer umgekehrten Chronologie geboten, am Ende stehen die ältesten Entwürfe der "Spion"-Phase (1918-1921). Auch gegen Frisés neue Ausgaben wurden Einwände laut, vor allem warf man ihm eine Vermischung verschiedener Editionsprinzipien vor. Seine Ausgabe ist weder vollständig, noch wird die Textkonstitution offengelegt. Dies alles veranlasste Frisé zur Kooperation mit den Germanisten Aspetsberger und Eibl, um nun anstelle einer klassischen historisch-kritischen Ausgabe des "Mann ohne Eigenschaften", die damals vehement diskutiert wurde, die er aber für unrealisierbar hielt, für eine Transkription des Nachlasses als Werk sui generis zu plädieren.


Zitiervorschlag
Boelderl, Artur Reginald und Walter Fanta: Geschichte der Musil-Edition, in Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.red-editions/methods/sdef:TEI/get