Sämtliche Figuren des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften" sind in diesem Dokument in alphabetischer Reihenfolge enthalten. In tabellarischer Form angegeben werden die Funktion der Figur im Roman, ihre Namen und die in den Manuskripten für sie verwendeten Abkürzungen. Daran schließt ein Abriss der Entstehungsgeschichte an. Auf die Einträge in diesem Dokument wird aus der Textwiedergabe und dem interdiskursiven Dossier (IDD) verwiesen.
[1] Schwester-Imago: Musil trieb mit der Vorstellung ›Schwester‹ seit je einen »gewissen Kultus«. Er ist an die vor seiner Geburt verstorbene Schwester geknüpft. [Corino 2003, 31] »Ich trieb in Wahrheit keinen Kultus; aber diese Schwester interessierte mich. Dachte ich manchmal: wie, wenn sie noch am Leben wäre; ihr stünde ich am nächsten? Setzte ich mich an ihre Stelle? Es bestand kein Anlaß dazu. Ich erinnere mich allerdings aus der ›Kittelzeit‹, daß ich manchmal auch ein Mädchen sein wollte.« [Heft 33/99] Der zweite Teil des Zitats aus dem Autobiographie-Heft ist wesentlich für das biografische Verständnis der Figur der Agathe, die Schwester als weiblicher Doppelgänger, als die anders-geschlechtliche Seite des männlichen Ichs. Bereits in einer der allerersten, noch anonymen literarischen Veröffentlichungen Musils, dem Brünner Feuilletonbeitrag In der Dämmerung, taucht das Motiv der Geschwisterliebe und die Figur der Schwester auf. In den Dreieckskonstellationen der ersten Vorarbeit zum Roman (1903-1904) ist von Agathe nicht die Rede, sondern von einem älteren Bruder Roberts. [Heft 4/91] Daneben existiert Clarisse als Name nicht nur der Geliebten bzw. Frau des Freundes Gustl (= Gustav Donath bzw. Walter), sondern auch die erotische Gespielin des kindlichen oder pubertierenden Robert wird aus Irene und Bertha zu Clarisse [Heft 4/9][Heft 4/95][Heft 4/Einlage 25]. Darin zeigt sich die Affinität zwischen der späteren Clarisse- und Agathe-Figur in der frühen Opus-Fantasie Musils. [s.u. Abschnitt 10] In der Atelier-Szene von 1908 legt er fest: »Agathe Spielgenossin vom Pfeifenstrauchgebüsch.« [IV 1/8]
[2] Martha-Imago: Bei der Geburt der Figur der Agathe steht Martha Musil in einer analogen Weise Patin wie Alice Donath bei Clarisse. Zahlreiche Umstände aus der Biographie von Musils Ehefrau gehen als Erzählsubstanz in den Roman ein, ohne dass man von einer eindeutigen und geradlinigen Verwandlung von Erlebtem in Fiktion sprechen könnte; der Entwicklungsweg zur Schwester-Figur ist ziemlich verschlungen. Als Musil 1906/07 als seine zuendegehende Beziehung zu Herma Dietz und die beginnende zu Martha Marcovaldi schreibend reflektiert, treten die Namen ›Tonka‹ und ›Rabe‹ in Notizen direkt einander gegenüber. [IV/2/415] [Textgenese Tonka] ›Rabe‹ dient dabei als Deckname für Martha. Das Interesse des Autors in den ›Rabe‹-Aufzeichnungen gilt Einzelheiten – besonders des erotischen – des Vorlebens der späteren Ehefrau. [IV/2/283, 286] Ein zentrales Element der fiktiven Agathe-Biographie, das exakt aus der realen Martha-Biographie entlehnt ist, wird die kurze, frühe erste Ehe. [Corino 2003, 332ff] [MoE Kap. 2/12] Eine explizite Verknüpfung zwischen ›Rabe‹ und der Agathe des Spion-Romans ist durch explizite Verweise auf drei Nachlassblättern dokumentiert. [IV/2/8] [IV/32/28] [VII/17/18] Schon in der Anfangsphase des Romanarbeit verbinden sich Notizen zum ›Rabe‹-Komplex mit dem Imaginationsfeld der »passiv-sinnlichen Frau«. [IV/1/21] Aus ihm gehen die Figuren Claudine und Veronika der Vereinigungen und die Maria der Schwärmer hervor. In der Novelle Tonka wird aus ›Rabe‹ als Gegenspielerin Tonkas interessanterweise die Mutter der männlichen Hauptfigur. Eine mütterliche Frau – so wie Martha älter ist als Robert Musil – wird von Musil auch im Grauauge-Fragment imaginiert; sie erscheint dort als Objekt aggressiv-sadistischer Wünsche des Protagonisten. Die Linie setzt sich fort in Der Vorstadtgasthof, dem geplanten Eingang des Spion-Romans, wo ebenso ein Mutter-Typ zum Aggressionsopfer wird. [IV/2/492ff]
[3] Mutter-Imago: Der Austausch der Mutter- durch eine Schwester-Imago stellt eine auffällige Verschiebung dar, die Musil 1908 im Zusammenhang mit dem Projekt Das Haus ohne Gegenüber einleitet. Musil macht sich in der Intensivphase der Liebesbeziehung mit Martha Marcovaldi seine ältere und verheiratete Geliebte, die analytisch betrachtet die Mutter vertritt, als Schwester zurecht. Am Schnittpunkt der Entwicklungslinien von Mutter und Schwester steht die Atelier-Szene mit der ersten Nennung des Namens Agathe. [IV 1/8] »Vitale Idiosynkrasien« von denen hier die Rede ist, betreffen ein in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg häufig wiederkehrendes Reflexem Musils. [Heft 3/73] [VII/9/141] Ödipale Konstellationen sind aus autobiographischen Hinweisen im Nachlass verschiedentlich ablesbar, wie in einer Erinnerung an eine Szenerie mit der Mutter, die Musil als Achzehn- bis Zwanzigjähriger in Velden am Wörthersee erlebt und nach dem Krieg aufgeschrieben hat. [Heft I/34f] Das »zornige Entsetzen« lässt die besagte Idiosynkrasie als Inzest-Abwehr erkennen, die in aggressive Fantasien mündet. Der Muttersohn in der Notiz »Schluß des Romans« ruiniert die Mutter mit der Geliebten, [Heft 3/75] das Ambiente des Wassers (See) und der Boote verbindet die autobiographische Erinnerung mit der frühen Romanfassung, »Stall« (familiäre Enge = Mutter) und »Meer« (bindungslose Weite = Schwester) stehen nebeneinander, sie beide zusammen bilden die Topographie des Inzestiösen in Musils Imagination. Aus der animalischen Enge des Stalls führt die Flucht an die weite Küste zugleich in Gesetz- und Bindungslosigkeit. Während der späteren Arbeit am Roman bleibt das Meer als Schauplatz des Geschwisterinzests erhalten. [s.u. Abschnitt 9]
[4] Atelier-Szene: Musil leitet aus den vitalen Zwängen familiärer Erotik frühzeitig eine Formel für ein literarisches Programm ab: solche Strukturen seien »stupide«, aber »immer wieder verwendbar«, heisst es in der Reflexion, die die Atelier-Szene einleitet. Der Schauplatz ist hier ein Fotoatelier. Zwischen dem jungen Mann, der kommt um sich fotographieren zu lassen, und der Fotografin herrscht eine erotische Spannung á la Mutter-Inzest, nach dem Muster dessen, was im Stall geschieht: er »ist 26 sie 31«, er »macht ihr Vorschriften«, da sie »in Pfändungsschwierigkeiten« ist, benützt er die Notlage, »nimmt sie mit und will alles ordnen. Sie ist schwer und hilflos. Sie schläft bei ihm.« Bis zu dem Punkt wird genau die Konstellation imaginiert, welche Musil im Vorstadtgasthof vorführen wird: das Abenteuer einer Frau mit einem jüngerem Liebhaber, bei dem sie sich exponiert und missbraucht wird. Der Konnex zwischen Atelier-Szene dem Vorstadtgasthof ergibt sich auch aus der Skizzierung des Exterieurs. »Halbstimmung«, »dunkles Zimmer«, »kleine Luke«, »und dann stieg auf der engen Holztreppe langsam eine Frau hinan«. Doch das Imaginationsfeld der Atelier-Notiz mit der Mutter-Imago bricht ab, es bildet sich übergangslos eine neue Figur, die nicht mehr mit der Mutter zu identifizieren ist. Die Begegnung im Atelier - »dann nennt er seinen Namen« - ruft ein Wieder-Erkennen hervor, in der Wohnung des Helden nachher als sexuelles »Erkennen« vollzogen: »Beginn der Unsittlichkeiten ohne Exzess. Das schwesterliche Ausziehen«. Der Name, den diese Figur erhält: Agathe. [IV 1/8] Darin steckt zwar auch Martha Musils Biographie (sie ist Malerin), mit der Erwähnung des Pfeifenstrauchs greift Musil jedoch auf Material aus der Vorarbeit zum Roman in Heft 4 zurück. Bei der Agathe der Atelier-Szene, der ersten greifbaren Agathe in Musils Unterlagen, handelt es sich also vorerst um eine Quasi-Schwester, nämlich die Spielgefährtin aus der Kindheit, sie wandelt sich aber bereits in einer anschliessenden »II. Fassung« derselben Skizze zu einer echten Schwester: »Er sucht seine Schwester auf - die verlobte, spät verlobte - und überzeugt sie. Er schlägt ihr ein Zusammenleben vor.« [IV/1/9]
[5] Geliebte Frau, Typ I und Typ II: In der Motive-Sammlung aus der Zeit der Niederschrift der Atelier-Skizze befindet sich eine gedanklich in Beziehung zu ihr stehende aufschlussreiche Notiz, die erst 1919 (oder später) verfasst oder ergänzt worden ist, wo von zwei Typen der Geliebten die Rede ist: »[..] Das sind Typen, die in einem Verhältnis die Barmherzigkeit erregen können. Hanka-Motive. Man liebt ihre Druckstellen. Solche Frauen müssen stattlich und schwer sein. Das Bett, in dem sie liegen, muss Last anzeigen. Überhaupt trennt der Unterschied zwischen der kaum eingebogenen oder der in Fältchen gezerrten aber ebenen Leinwand und der gemuldeten, dem Lagerplatz, (das eine bildet mit den Spitzenbesätzen, das andere mit dem Nachtgeschirr eine höhere Einheit) zwei Typen von geliebten Frauen. Das zweite wäre Agathe, die da aber unter dem widersprechende Verhältnisse gestellt wird. […]« [IV/2/336] Bei der Agathe der Atelier-Szene handelt es sich um eine weit gespannte Projektion im Bannkreis erotischer Objektsuche. Die Frau in der ersten Fassung scheint Typ I zu entsprechen, dem von der Mutter abgeleiteten (Hanka-)Typ (»schwer und hilflos«, »Nachtgeschirr«, wie eine Magd = Stall) »Barmherzigkeit« erregend, es reizen diese Frauen dazu, sie zu demütigen. In der zweiten Fassung wird von Typ I abgelenkt und auf Typ II Bezug genommen. Schenkt man Michiko Maes Untersuchung zum Textmaterial der Vereinigungen Glauben, beginnt 1908 »ein dramatischer Vorgang« in Musils Schreiben, vom »Hass gegen das Passiv-Sinnliche der Frau zu einer anderen Haltung« über zu gehen. Als Produkt dieses Übergangs erscheinen nicht nur Claudine und Veronika, sondern auch Agathe als Gestalten, die von einem psycho-ethischen Verarbeitungsprozess des Autors zeugen, welchen Mae in Anlehnung an Musils Terminologie »motivierende Methode« nennt. [Mae 1988, 213, 215]
[6] Inzestuöse Verschiebung: Henningers Analyse der Grauauge-Fragmente, wo das auf die Mutter-Imago gerichtete Begehren als Ablenkung von einer uneingestandenen homosexuellen Wunschvorstellung bestimmt wird, auf die Atelier-Szene angewandt, fassbar in der Androgynität des Rembrandt-Engels [Heft 11/56], lässt die Figur der Agathe als Objekt wechselweiser Verschiebungen ödipaler und homoerotischer Wunschprojektionen erscheinen, in die sich Anknüpfungsversuche an die kindliche Sexualitätserfahrung mischen. [Henninger 1981] Musil stellt sich den Geschwister-Inzest als eine ›invertierte‹ Form der Sexualität vor, er vertraut die imaginierten Praktiken dem Papier nicht an, schreibt nur über »feine, besonnene Laster« und von »Unsittlichkeiten ohne Exzess«. [IV/1/8] Ob damit bereits der Prozess einsetzt, sich die Geschwisterliebe anerotisch zu denken, ist fraglich; eher lässt sich von einer Verleugnung des Inzests sprechen, indem er erdacht, aber nicht beschrieben wird. Die älteste Erwähnung des Inzests in Musils Manuskripten fällt in Aus einem Briefe im Umkreis des Projekts ›Haus ohne Gegenüber‹ (1908). [IV/2/302] Der nächste direkte Hinweis ist erst auf 1921 zu datieren; eine Bleistift-Anmerkung zu Agathe bei der Testamentsfälschung im Haus des toten Vaters: »Sie sahen einander an und beide fühlten, dass man ebensogut auch ganz andere Dinge heimlich miteinander tun könnte. Wenigstens Achilles kam dieser Gedanke.« [VII/8/24]
[7] Spiel mit der Geschlechterrolle: Entscheidend für die Genese der Figur Agathe ist jedenfalls der Übergang vom Projektionsfeld der mütterlichen ›Geliebten Frau, Typ I‹ zum schwesterlichen ›Geliebte Frau, Typ II‹. Der mütterliche Typ löst Dominanzbegehren aus. Er steht in enger Verbindung mit trotziger Resignation des männlichen Ichs gegenüber unabänderlichen und undurchschaubaren Realitäten. Typ I will aus der Sicht des Protagonisten demaskiert, gebeugt, überwältigt, gestürzt werden. Der hinzutretende schwesterliche Frauentyp II hingegen steht in Verbindung mit Erkenntnisbegehren und partnerschaftlichen Emotionen. Er löst im männlichen Ich das Bedürfnis nach Selbstinterpretation und Ichfindung aus. Die schwesterlichen Ansprechpartnerinnen des jungen Musil, Anna und Liesl, sind Adressatinnen von Selbstaussprachen. Schon bei den Abenteuern im Pfeifenstrauch liegen Reiz und Lust in heimlichem Wissenwollen, die autobiographische Eintragung berichtet, wie der kleine Robert sich noch tagelang mit dem Imaginieren des Gesehenen und dem Versuch des Nachfühlens in Fieberfantasien quält. In der Figur der Agathe steckt der männliche Wunsch, in die andere Geschlechtsrolle zu schlüpfen. Musil erinnert sich noch 1940, dass er »ein Mädchen sein wollte« und erklärt dies als eine »Reduplikation der Erotik«. [Heft 33/99] In den Kontext erotischer Reduplikation rücken intime Biographika aus dem Nachlass, die nun wieder die Beziehung zu Martha betreffen. Vor allem verdient eine Aufzeichnung Interesse, die sich auf die Zeit des ersten Kennenlernens im Sommer 1906 im Badeort Graal an der Ostsee bezieht, aber wahrscheinlich erst knapp vor dem Ersten Weltkrieg angefertigt worden ist: »Sie auf ihrem Bett Brantôme lesend. Sich entblössend so weit sie kann, in sich hineingreifend. Er auf seinem Zimmer. Die Wandlung ist eine ästhetische, bloss aus ästhetischen Gründen darf man das nicht tun und muss dazu zu zweien sein.« [IV/2/128] Die Masturbationsszene zeigt Musils Fantasie darauf gerichtet, weibliches sexuelles Empfinden zu imaginieren. Künstlerisch verarbeitet er dies zuerst in den Vereinigungen. [s. bes. Die Vollendung der Liebe, 85] An der Figur der Agathe unternimmt er dann den Versuch, männliche und weibliche Empfindung in der Vorstellung zu verschmelzen. Der Wunsch, selbst als Frau zu empfinden, führt zur Gestaltung des Geschwisterinzests. In der Ausgangsszene stellen Mann und Frau entsetzt fest, dass ihr Begehren einem Auf-sich-selbst-Gerichtetsein entspricht. Der Masturbationsakt wird in der Vorstellung durch Spaltung (in Bruder und Schwester) aufgehoben, in der Wiedervereinigung der beiden Teile kann sich das Doppel-Ich (Androgyn und Hermaphrodit) der Geschwister bilden. Als Requisit der »amphigenen Inversion« [Corino 1973, 33] taucht schon in der zweiten Fassung der Atelier-Skizze das Hantieren mit den Kleidern der Schwester auf. Dies geht in das Motive-Repertoire des Romans ein. [s. Kap 2/28]
[8] Agathe im ›Spion‹: Zu Beginn der Arbeit am Spion-Projekt (1918) existiert Agathe bereits – als eine synthetische Figur. Die Merkmale hat der Autor aus persönlichen Vorkriegs-Quellen zusammengeholt: der Verarbeitung seiner Liebes- und Ehebeziehung mit Martha, biographischen Details aus dem Leben seiner Frau und einer Reihe erotisch-psychischer Projektionen. Viele der auf die Figur übertragenen Elemente sind in dem Augenblick, in dem sie in das Spion-Material eingehen, schon verändert; das Prinzip der Ersetzung entfaltet seine Wirkung. Man könnte sagen, Agathe ist die abstrakteste aller zu dieser Zeit für den Roman vorgesehenen Figuren. Sie ist als Ausweg erdacht, vor der Mutter, vor Martha, vor dem eigenen Mannsein. Eine wichtige Zwischenstufe betrifft die Ausformulierungen, welche Musil in der Vorarbeit des Romans nach der Stufe des Haus ohne Gegenüber (1908) und den Vereinigungen (1908-1911) an der Figur der Agathe vorgenommen hat. Er hat dies in den beiden verlorenen, wahrscheinlich von Martha Musil aus dem Verkehr gezogenen Heften 13 und 14 getan, wie Querverweise belegen. Ausdruck stattgehabter Verschiebung vom ›Geliebter Frau, Typ 1‹ zu ›Typ 2‹ wird, dass Agathe im Spion von gewalttätigen Attacken seitens der männlichen Hauptfigur - die in allen Fantasien, welche Musil zu Papier bringt, ausschließlich auf Frauen des Typs I gerichtet sind - mehr und mehr verschont bleibt. In einem Brouillon mit der Sigle Ü 39 tritt besonders deutlich hervor, wie die Aggressivität der männlichen Hauptfigur gegen Frauen der Schwester gegenüber domestiziert ist. [VII/17/14] Achilles nähert sich Agathe eingangs taxierend wie ein Jäger dem Wild, er droht sie »wie ein Panther« anzufallen, im animalischen, appetitiven Charakter der Annäherung tritt die Verwandtschaft mit der sadistischen Überwältigungsfantasie im Projektionsfeld des Frauentyps I noch unverhüllt hervor. Doch der Biss fällt sanft aus, nicht wie im Vorstadtgasthof, wo die Zähne »ganz durch ihre Zunge kommen«, bis er sie „dick im Munde« spürt. Achilles reisst Agathe mit sich hoch, sie fliegt, Emporsteigen und Schweben drücken Befreiung von Triebgebundenheit aus, die Oben- und Unten-Metaphorik bezeichnet den Gegensatz zwischen den beiden Projektionen des Weiblichen: die müde die Treppe hinaufsteigende ältere Frau auf dem Weg zu ihrer Erniedrigung in der Atelier-Szene, dagegen die nun schon jüngere Schwester, spielerisch emporgehoben, dann nieder sinkend »wie eine Wolke von Glück« im ›Spion-Entwurf‹. Die sich überkreuzenden Pfeile (phallische Macht-Symbole des heroischen Achilles) haben sich verschoben, es ist nun, »als führte er nur ihre Einfälle aus« und es herrscht »Übereinstimmung«. Nicht Unterwerfungswünsche werden ausagiert, sondern Partnerschaftsvisionen. Die ›Wolke von Glück‹ bleibt in den späteren Versionen des Romans stehen; der sanfte Biss, mit dem Ulrich Agathe überfällt, wird den Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse im Druckfahnen-Kapitel 45 von 1937/38 markieren. Musil bewahrt die ursprüngliche Bedeutung der Szene als Formulierung der ersten körperlichen Annäherung zwischen den Geschwistern, die Agathe als Emporgehobene zeigt. In den Brouillons der Spion-Fassung erhält sich dieser Status nicht: Agathe in Galizien wird erniedrigt, mehr oder weniger direkt von Achilles/Anders, der sie für seine Zwecke missbrauchen und prostituieren wird, nachdem zuvor schon Eifersucht, Verrat und Betrug die Inzestbeziehung auf das Niveau völliger Desillusionierung sinken lässt. [I/6/69] [VII/8/2]
[9] Inzest-Reise: Eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung der Agathe-Figur spielt das autobiografisch verankerte erzählerische Moment der Reise nach Italien, auf der die Geschwister den Inzest vollziehen. Die reale Reise Musils in Begleitung seiner späteren Frau im November 1910 steht im Zeichen der Scheidungsbemühungen von Martha Marcovaldi. Sie führt per Eisenbahn von Wien nach Budapest, von dort nach Fiume (Rijeka), mit dem Schiff nach Ancona, von dort schließlich nach Rom. [Zeitleiste 1910] Die Identität der »verheirateten Schwester« Martha mit der fiktiven Agathe steht für die Reise-Entwürfe der 1920er Jahre fest, Musil ließ Martha im Hotel in Ancona wegen der Namensungleichheit als seine Schwester eintragen. [Corino 2003, 361ff] Eine erst um 1930 angefertigte Notiz im Nachlass bemerkt noch: »Reise Agathe-Ulrich: So wie Budapest - Fiume - Ankona. Seekrankheit, wie es war, mit Erbrechen und Durchfall.« [II/8/9] Von der Stufe des ›Wie-es-war‹ nimmt der Autor auf die nächste, fiktionale Stufe außer den Schauplätzen das abenteuerliche Motiv der verbrecherischen Liebe mit einer um sieben Jahre älteren Ehefrau eines anderen mit, mit der er sich (in Ancona) auf einer ›Flucht‹ findet. Daraus wird im Roman die ›Weltflucht‹ der ›Zwillingsgeschwister‹ ins ›Paradies‹ in der Fassung von 1924. [VII/9/155-184] Den Übertritt repräsentiert ein Bruchstück im Nachlass (1919/1921), in dem Musil direkt seine Reiseerinnerungen mit der Romanreise konfrontiert. [VII/6/208-209] Die Geschwisterkonstellation wandelt sich bereits im Zwillingsschwester-Entwurf und weist den Weg der Vereinigung ›auf andere Art‹, auf die imaginäre Reise. [VII/9/163] [I/3/13] In dieser Zeit schreibt Musil sein Gedicht Isis und Osiris. Er hebt den Inzest aus der realen Fiktion auf die Ebene des fingierten Mythos, wenn es heißt »Und die Schwester löste von dem Schläfer / Leise das Geschlecht und aß es auf«. Auf der nächsten Konzeptionsstufe der Kapitelgruppen (1928) vollzieht sich die sexuelle Begegnung in einem feuchten Traum Agathes, dessen Lüsternheit zur Gänze aus dem Zitateschatz der von Martin Buber gesammelten Ekstatischen Konfessionen gespeist ist, einer aus religiösen Grenzerlebnissen geborgten Erotik, und nicht aus dem Martha-Fundus. [VII/4/96ff] Spätestens in dieser Etappe der Romanarbeit ist die Entwicklung der Agathe-Figur nicht länger aus der Martha-Biographie gespeist. [Reise, Textgenese 3]
[10] Abgrenzung von Clarisse: Agathe ist im Spion und Erlöser noch nicht von Clarisse geschieden. [Clarisse, Genese 3] Noch wirkt die alte Auffassung der Lisa-Figur als »Schwesterlein« nach. [IV/3/450] Das Inzest-Motiv liegt in einer ersten Phase der Spion-Notizen in Verdoppelung vor; Clarisse tritt als ›geistige‹ Schwester, als Reisegefährtin und auch als Sexualpartnerin von Anders in einer Rolle auf, die in späteren Entwicklungsphasen des Romans nur mehr Agathe zugewiesen ist. Die Funktion von Clarisse ist die der Verführerin und auch die der ›Schwester im Wahn‹ von Achilles/Anders. Das Brouillon ›Das Voluntaristische‹ hält die Wirkung fest: »Clarisse, Agathe, - es sind eigentlich immer die Frauen, die den Willensmenschen Anders so treiben« [VII/6/245]. Clarisse betreibt die Verführung aktiv, während Agathes Sinnlichkeit dem ›passiven Typ‹ entspricht. Die Verführung beider Schwestern löst eine die Ratio völlig ausschaltende Triebhaftigkeit aus, die ›bös‹ macht. Clarisse erscheint in den Momenten ihrer Triebhaftigkeit hässlich, sie weckt nicht das Begehren nach dem anderen. Der Trieb erwacht zugleich in zwei Gestalten, die zusammen (›Seite an Seite‹) ein ›Doppelwesen‹ (Geschwister) bilden. Dieselbe annihilierende Wirkung des Triebs als Autoerotik ist auch im Inzest mit Agathe nicht ausgeschlossen. Die Funktionen-Ablöse zwischen Clarisse und Agathe legt Musil 1921 in einer Notiz allgemein fest: »Anders reißt sich von Clarisse los, das wendet sich auch schon wieder dahin. Und dann ist sein Schicksal Agathe.« [Heft 22/52] Hier für die horizontale Ebene formuliert, wird dies längs der Diachronität der Figurenentwicklung zum Prinzip. Dennoch bleibt auch in den Fortsetzungsplänen des Mann ohne Eigenschaften der Dreißigerjahre offen, ob es Clarisse nicht gelingen werde, Ulrich - zumindest zeitweise - in ihren Wahn zu ziehen. Wenn Pekar von den beiden wichtigsten Frauenfiguren des Romans gemeint hat, »Clarisse und Agathe sind partiell austauschbare Figuren« [Pekar 1989, 244], hat dies also seine entstehungsgeschichtlichen Seiten. Es lässt sich eine Brücke von der Figurenkonstellation der Schwärmer aus konstruieren, wo Musil mit der Grund-Imagination der Schwester-Geliebten eine ähnliche Spaltung (in die Schwestern Maria und Regine) vorgenommen hat. Doppelgängertum wird im Roman zweifach manifest, indem »Clarisses Aktivismus das Gegenstück« zu Ulrichs und Agathes Passivität bildet. Musil spaltet das anfängliche Doppelwesen Clarisse-Agathe bezüglich der zugeordneten Aktionsfelder schon während der Spion- Phase. In einer ersten Serie von Brouillons begleitet noch Agathe Anders in die Anstalt zu Moosbrugger, in vielfachen späteren Fassungen bilden Anders und Clarisse das Besucherpaar, einer letzten Version nach wird der Besuch der aktivistischen Clarisse allein überlassen. [VII/6/121-133] Auf der synchron-horizontalen Ebene des Endtexts des ›Mann ohne Eigenschaften‹ werden Agathe und Clarisse schließlich zu Komplementärfiguren: sie dürfen sich in den Kapiteln des Romans nicht begegnen. [II/7/1] Innerhalb der Vertikalität der Fortführungspläne aber zeigt sich, dass weiterhin Erzählsubstanzen zwischen Agathe und Clarisse hin- und hergeschoben werden. [I/5/78]
[11] Die Führung geht auf Agathe über: Im Laufe der Weiterarbeit am Roman vollzieht Musil Veränderungen an der Figur in Richtung auf die Erhöhung ihrer Bedeutung als eigenständiges Wesen jenseits der Rolle der weiblichen altera pars zur männlichen Hauptfigur. Als Diskurspartnerin von Ulrich entwickelt sich Agathe von der Stichwortgeberin zur gleichwertigen Gesprächspartnerin Ulrichs, zuletzt übertrifft sie ihn sogar. Aus dem angedeuteten Dialog in der Studie zur Schlußsitzung (1936) lässt sich ablesen, dass sich Agathe gegen Ulrichs feste Absicht zur Selbstaufgabe angesichts der Mobilisierung zum Krieg reserviert verhält. »Agathe braucht kein Werk«! [II/7/119] Sie steht außerhalb des tödlichen Zirkels, als einzige Figur des Romans ist sie gegen die Kriegsbegeisterung völlig immun, sie erklärt, die Mobilisierung einfach ignorieren zu wollen. »Die Männerwelt ist sie nie etwas angegangen«. [II/2/15] An Ulrich appelliert sie, er möge sein um die ›Utopie der induktiven Gesinnung‹ erweitertes Bewusstsein nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. [II/7/120] Agathe plädiert für Weiterleben »als ob nichts wäre«, dies löst bei Ulrich »Scheu vor dieser Robustheit« aus. [II/2/16] Sie demonstriert durch ihr Verhalten die Möglichkeit einer Alternative zum Einschwenken auf die väterliche Linie und gibt also eine Art Minoritätsvotum ab. Musil plant, der anfänglich unter der rhetorisch-intellektuellen Dominanz Ulrichs stehenden Agathe später beim Streben nach Verwirklichung der Utopien des ›anderen Zustands‹ und des ›Lebens in Liebe‹ die Führungsrolle zuzuschanzen: »Agathe war Fragment. Jetzt tauschen sie die Rollen; sie drängt aufs Ganze; er nur theoretisch.« [V/3/205] Auf den Krieg bezogen birgt dies die Vorstellung, ein natürlicher Pazifismus, den als ideologisch entlarvten Ansätzen Arnheims und Feuermauls und den Gesetzmäßigkeiten männlichen Gefühls bei Ulrich entgegengesetzt, sei weiblich, der anders gearteten, mehr auf Erhaltung gerichteten und von einem weniger mächtigen Über-Ich gesteuerten Libido der Frauen zu danken. Wäre Ulrich der weiblichen Stimme in ihm gefolgt, hätte er sich aus den Verstrickungen des Vatermord-, Todeswunsch- und Sublimierungszwangs lösen können. Damit ist nicht gesagt, dass sich Musil den Romanausgang je als Prophetie eines idealistischen Feminismus nach dem Motto ›Die Zukunft ist weiblich‹ denkt. Dazu bleibt Agathe auch in der die Druckfahnenkapitel teilweise ersetzenden Entwurfsreihe von 1940/42 zu sehr im Schatten Ulrichs. Ein echter Führungswechsel von Ulrich zu Agathe müsste sich in der Gesprächsstruktur und in der Erzählperspektive niederschlagen. Eine solch entschiedene Änderung der konzeptionellen und gestalterischen Grundfesten seiner Konstruktion vermag Musil nicht mehr vorzunehmen. Jedoch hat sich die Stellung Agathes im Schlussteil des Romans im Vergleich mit den Ideen und Entwürfen der Zwanzigerjahre völlig verschoben. Dort prostituiert sie sich, um ihrem Bruder als Spionin zuzuarbeiten, ein Abstieg, der aus dem psychischen Zusammenbruch beim negativen Ausgang der Reise resultiert. Nach der Konzeption von 1936 bewahrt sich Agathe die Liebes-Utopien, beim letzten Zusammentreffen sagt sie (wiederholt): »Wir sind die letzten Romantiker der Liebe gewesen.« [II/2/15] Offenbar denkt Musil daran, die weibliche (Komponente seiner) Hauptfigur als einzige der Figuren die Mobilisierung völlig unbeschadet und unverwandelt erleben zu lassen. [II/7/122] .
Mappe I/4
Seite 2,
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 12,
Seite 13,
Seite 14,
Seite 15,
Seite 16,
Seite 18,
Seite 19,
Seite 21
Mappe I/8
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 8,
Seite 14,
Seite 17,
Seite 55,
Seite 56,
Seite 57,
Seite 58,
Seite 59,
Seite 60,
Seite 61,
Seite 62,
Seite 64,
Seite 65,
Seite 66,
Seite 68
Mappe II/1
Seite 21,
Seite 23,
Seite 24,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 35,
Seite 36,
Seite 39,
Seite 40,
Seite 81,
Seite 82,
Seite 83,
Seite 84,
Seite 85,
Seite 86,
Seite 87,
Seite 88,
Seite 91,
Seite 121,
Seite 156,
Seite 163,
Seite 164,
Seite 166,
Seite 170,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 173,
Seite 174,
Seite 175,
Seite 177,
Seite 178,
Seite 179,
Seite 180,
Seite 181,
Seite 182,
Seite 184,
Seite 186,
Seite 187,
Seite 188,
Seite 189,
Seite 190,
Seite 198,
Seite 199,
Seite 205,
Seite 206,
Seite 207,
Seite 208,
Seite 209,
Seite 210,
Seite 211,
Seite 212,
Seite 213,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 218,
Seite 219,
Seite 224,
Seite 225,
Seite 241
Mappe II/8
Seite 235
Mappe II/9
Seite 3,
Seite 6,
Seite 7,
Seite 11,
Seite 18,
Seite 20,
Seite 22,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 28,
Seite 29,
Seite 30,
Seite 31,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 38,
Seite 39,
Seite 41,
Seite 42,
Seite 43,
Seite 44,
Seite 45,
Seite 46,
Seite 47,
Seite 48,
Seite 49,
Seite 50,
Seite 51,
Seite 52,
Seite 53,
Seite 54,
Seite 59,
Seite 65,
Seite 72,
Seite 73,
Seite 75,
Seite 76,
Seite 78,
Seite 82,
Seite 83,
Seite 84,
Seite 85,
Seite 86,
Seite 87,
Seite 88,
Seite 89,
Seite 90,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 93,
Seite 94,
Seite 95,
Seite 96,
Seite 97,
Seite 98,
Seite 99,
Seite 100,
Seite 102,
Seite 104,
Seite 105,
Seite 106,
Seite 107,
Seite 112,
Seite 120,
Seite 125,
Seite 126,
Seite 129,
Seite 130,
Seite 132,
Seite 134,
Seite 135,
Seite 136,
Seite 137,
Seite 143,
Seite 147,
Seite 148,
Seite 149,
Seite 150,
Seite 151,
Seite 152,
Seite 153,
Seite 154,
Seite 156,
Seite 157,
Seite 159,
Seite 163,
Seite 166,
Seite 168,
Seite 169,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 173
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 39,
Seite 46,
Seite 49,
Seite 53,
Seite 58,
Seite 89,
Seite 122,
Seite 127,
Seite 133,
Seite 137,
Seite 157,
Seite 212
Mappe VII/14
Seite 33
[1] Vorbild für Clarisse ist Alice Charlemont-Donath (1885-1939), ab 1907 Ehefrau von Robert Musils Brünner Jugendfreund Gustav Donath. Biografische Einzelheiten aus dem Leben der seit 1910 klinisch kranken und 1916 von Donath geschiedenen Alice gehen in drei Erzählkomplexen in den Roman ein: erstens verarbeitet Musil in zwei Kapiteln des ersten Bands die Jugendgeschichte von Alice, ihr Schicksal als sexuelles Missbrauchsopfer. [Kapitel 1/70] [Kapitel 1/97] Die von Gustav Donath geschilderten Hergänge notierte Musil bereits 1905/06 in sein Heft Nr. 3. Zweitens setzt die Clarisse-Geschichte im Roman die Dreiecks-Konstellation, an der Musil (bzw. Ludwig Klages) 1907-1911 mit dem Ehepaar Donath beteiligt war, als Eifersuchts-Geschichte zwischen Clarisse, Walter und Ulrich (bzw. Walter/Clarisse/Meingast) um. Drittens registriert Musil in Heft 11 die Erkrankung von Alice Donath, ihre Wahn-Reise quer durch Deutschland und nach Italien 1910 und 1911. Dazu tritt die Beobachtung des obsessiven Wörtlich-Nehmens der Schriften Friedrich Nietzsches durch Alice Donath.
[2] Als Musil 1921-23 das Clarisse-Material aus den Vorkriegsheften für das ›Spion‹-Projekt exzerptiert und ordnet, [Sigle C] steht das Profil der wahnsinnigen Ehefrau des Jugendfreundes bereits fest, die sich auch an den männlichen Protagonisten Achilles bzw. Anders heran macht und ihn in ihren Wahn zu ziehen versucht, von ihrem Mann ins Sanatorium abgeschoben wird, von dort nach Italien ausreist, eingefangen, zurückgebracht und neuerlich interniert wird, um schließlich von Walter verlassen in dämmernder Gesundheit zu enden. Auf dieser Stufe überschneidet sich die Funktion Clarisses teilweise noch mit derjenigen Agathes. Dies nimmt angesichts der Feststellung nicht wunder, dass Clarisse schon der erste erdachte Name der schwesterlichen Gespielin des pubertierenden Musil war, lang vor der Bekanntschaft mit Alice Charlemont, und dass er 1908 in dem Brief an die »liebe Liesl« eben Alice mit »Schwesterlein« adressierte. [Korrespondenz 1908/6] Umgekehrt ist in den ›Spion‹-Entwürfen das Interesse für Moosbrugger Agathe zugeordnet und noch nicht Clarisse.
[3] Die Tendenz bei der Ausgestaltung der Clarisse-Figur für das ›Zwillingsschwester‹-Projekt und den ›Mann ohne Eigenschaften‹ liegt darin, Clarisses wahnhaftem Bewusstsein eine Vielfalt von Bedeutungen zuzuordnen. In erster Linie ist sie ›Schwester im Wahn‹ für den Protagonisten Anders. Sie verkörpert den ›anderen Zustand‹ ex negativo. Der gesondert entworfene Clarisse-Erzählkomplex fungiert als Kontrast zur Schwester-Erzählung mit Agathe. Dabei kommt es zur deutlichen Trennung zwischen der Clarisse-Handlung von der Geschwister-Geschichte. In den Entwurfsreihen mit der Sigle s und der Kapitelgruppen zeichnet sich bereits jene Sonderstellung ab, die Musil nach 1930 notieren lässt, aus Clarisse-Moosbrugger wäre vielleicht ein eigener Roman zu machen. Von der gesamten in Skizzen vorbereiteten Erzählsubstanz findet nur die Jugendgeschichte und die Eifersuchtskonstellation Eingang in das Erste Buch. Clarisses sich anbahnender Wahn wird in pseudorealistischer Plausibilität erzählerisch antizipiert. Im ersten Teil des Zweiten Buchs bricht die Clarisse-Erzählung mit den Irrenhaus-Kapiteln ab, genau dort, wo sie sich mit der Moosbrugger-Erzählung vereinigt hat. Die fantastischen Geschehnisse rund um Moosbruggers Entführung und Clarisses abenteuerliche Flucht und Internierung treten in kein Stadium fix entworfener Kapitel mehr. Musil erwägt 1934 bzw. 1936, Teile dieser Handlung fallen zu lassen. Zur neuen Hauptfunktion der Clarisse-Figur wird in dieser Schreibphase ihre Rolle als Ideenspenderin für General Stumm: Clarisse schleust Meingasts faschistische Ideologie durch ihr geistesgestörtes Bewusstsein in den Argumente-Fundus des Generals zur Kriegsbegründung. Nicht länger Ulrichs Schwester im Wahn, figuriert Clarisse nun als Personifikation des Wahnsinns, der im kollektiven Gewaltausbruch der Kriegsmobilisierung liegt; und außerdem repräsentiert sie die übersteigerte Künstleridentität im Kontrast zu Walters Mediocrität. Allerdings schreibt Musil ab 1937 an Clarisse nicht mehr weiter.
Mappe I/4
Seite 5,
Seite 7,
Seite 14
Mappe II/1
Seite 7,
Seite 9,
Seite 12,
Seite 21,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 27,
Seite 28,
Seite 35,
Seite 76,
Seite 77,
Seite 80,
Seite 81,
Seite 82,
Seite 83,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 154,
Seite 155,
Seite 158,
Seite 164,
Seite 165,
Seite 166,
Seite 167,
Seite 168,
Seite 170,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 175,
Seite 188,
Seite 189,
Seite 199,
Seite 200,
Seite 201,
Seite 205,
Seite 211,
Seite 212,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 219,
Seite 224
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 29,
Seite 36,
Seite 45,
Seite 67,
Seite 80,
Seite 85,
Seite 91,
Seite 98,
Seite 122,
Seite 123,
Seite 127,
Seite 129,
Seite 139,
Seite 143,
Seite 148
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Mittelpunkt der Parallelaktion, Seelenkult-Eklektikerin | Ermelinda (Hermine) Tuzzi, Diotima | Erm, D, Diot, Diotim | [1] 22 23 24 25 26 27 [37] 41 42 43 44 45 [46] 47 49 50 [55] [56] 57 [58] [63] 64 65 66 67 68 69 71 72 [74] 75 76 77 78 [79] 80 85 [86] 89 91 [93] 94 95 98 [99] 100 101 [102] [103] 104 105 106 [107] [108] [109] [112] [113] 114 [115] 116 117 [119] [120] [121] [123] | 13 16 17 [18] [20] 23 27 [32] 34 35 36 37 38 | [47], [Beschreibung einer kakanischen Stadt], Bonadea oder Die Schülerin der natürlichen Liebe, Warum die Menschen nicht..., Konferenz bei Graf Leinsdorf, [Hermaphrodit], [1. Leo Fischel als Weltbote], 7. Nachtfest, 11. Schlußsitzung, Druckfahnen: [49] 51 [53] [57] |
[1] Die Geburtsurkunde der zentralen weiblichen Figur im Ersten Buch des ›Mann ohne Eigenschaften‹ ist das Blatt mit der nachträglichen Sigle ›Aufbau II‹ (1920): »Achilles hat einen Streit mit Margarethe Susman - Ellen Key oder Agnes Harder. Man sagt von ihr, sie ist eine zweite Diotima.« [VII/3/1] Die Figur trägt hier Personennamen von mehreren zur Auswahl stehenden Autorinnen, deren Schriften zur Konstruktion der Diotima-Figur angeregt haben. Am deutlichsten sichtbar ist die Verknüpfung mit der Lektüre der Schriften von Ellen Key. Ins Exzerpt aus Keys Die Entfaltung der Seele durch Lebenskunst von 1905 ist nachträglich mehrfach »Diotima« eingetragen. [Heft 11/25] Diese Komponente der neuen Figur ergibt sich aus der Fortführung der Valerie-Linie, also Seelen- und Gefühlskult.
[2] Diotima wird vorerst als Schriftstellerin in das Figureninventar der ›Zwanzig Romane‹ (1918-19) aufgenommen. Dass Musils Key-Rezeption sich ehemals ins Kritische gekehrt hat, schlägt beim Aufbau der Diotima-Figur durch. Musil trifft die für den Roman folgenreiche Festlegung, in Diotima die »Karikatur auf alle Seelenambitionen der Zeit« zu geben. Zudem lässt er seinen Helden in eine von Odiosität und Destruktion bestimmte Beziehung zur Gefühlsrepräsentantin eintreten. »Er erkennt: Das ist die Frau aus dem Traum. Und hat Mühe, diesem aus der Zeit vorgeahnten Wesen nicht .. abzubeißen«. Die Salon-Gastgeberin wird also direkt mit der Dame in der Vorstadtgasthof-Szene identifiziert. Ihr die Zunge abzubeißen heißt: der Frau das Recht zu verweigern, von Gefühlen zu schreiben oder zu sprechen; ihr den gefühlsmythologischen Überbau abräumen, um die Basis freizulegen, den Trieb. Ein Netz von Beziehungen zwischen Valerie-Erlebnis, Mutter-Imago und Vorstadtgasthof-Brutalität verknotet sich im Aufbau dieser Figur. Am Ende der Manuskriptseite legt Musil ein aufschlussreiches kleines Verzeichnis möglicher Kontexte an: »Gefühl-Verstand, Geselliges Fühlen, Huch, Liebe, Mutter, […] Schöne Sittlichkeit, Selbstvervollkommnung, Selbstkultur, Selbstdarstellung, Sentimental, Seelenhaftigkeit, Schleich, Verführung.« [VII/3/1]
[3] Eine wichtige Komponente der Diotima-Figur soll darin bestehen, dass sie mit ihrem Salon einen glanzvollen Mittelpunkt kultureller Repräsentation erzeugt. Die älteste Notiz in die Richtung findet sich in Heft 8: »Achilles liebt eine ehrgeizige Frau. […] Die Frau macht einen Salon; Salon Unlust. Dichter usw. kommen hin. Sie ist die Witwe von Erich Schmidt.« [Heft 8/58] Schmidt war Ordinarius für deutsche Philologie an der Universität Berlin. Einer anderen Version zufolge wäre Heddie Fischer, die Gattin des Verlegers Samuel Fischer, zum Salonmittelpunkt zu machen. [Vgl. Heft 8/64] Bei der Verlegung von Berlin nach Wien bekommt die Figur etwas vom exotisch-orientalischen Glanz der Frau des Khedive ab, einer ungarischen Gräfin May Török. [Heft 9/11] Dass die männliche Hauptfigur in den »Glanz zu starren« versucht, der Liebesversuch mit einem vom Schein des Höheren umgebenen Wesen, wird für die weitere Entfaltung des Liebesthemas im Roman wichtig. Die Praxis der Liebeskunst ist in der ›zweiten Diotima‹ freilich reduziert auf das Ideelle, »solche Idealisten drücken sich mit dem schon Ausgedrückten aus, dem was die Zeugungskraft nicht mehr hat«. [Heft 11/Einlage 5] Diotima allegorisiert, indem sie den Mittelpunkt der Parallelaktion (vorerst noch: »Diotimakreis«) bildet, die alte österreichische Kultur. [I/6/16]
[4] Ein Brouillon von 1920 enthält Versuche zur Festlegung eines bürgerlichen Namens für die ›zweite Diotima‹: »Ermana Prschykil oder Prschkrylika / Guratori; ihren Taufnamen hat sie vor der Heirat italienisiert. / Hermine, später Ermelinda Tuzzi.« [VII/3/4] In den Variationen der Matrix ›(H)erm‹ schlägt sich der Wille zur sozialen Assimilation nach oben nieder, der diese Figur bestimmen wird. Die bombastisch glänzende Hülle Ermelinda umgibt den glanzlos kleinbürgerlichen Kern Hermine, den Namen von Musils proletarischer Jugendliebe und – seiner Mutter Hermine Musil-Bergauer. Die Hermes-Assoziation unterstützt ›Assimilation‹ als Sinn: Im Namen liegt eine Geschlechter-Symbiose analog zu ›Hermaphrodit‹: ›Herm(es)+ine‹ heißt, die sich agglutinierende weibliche Partikel verschafft der Doppelfigur aus männlicher Solidität (= Tuzzi) und weiblicher Außenglanzerzeugung (Salon) Größe und Bedeutung. Die Philanthropin, Reformpädagogin und Wiener Salon-Gastgeberin Eugenie Schwarzwald, verheiratet mit dem Sektionschef im österreichischen Finanzministerium Hermann Schwarzwald, stimmt, wenn man Karl Corino Glauben schenken darf, von ihrer Matronenfigur und dem undefinierbaren Alter bis zu den berühmten Gästen in ihrer Helmstreitmühle so sehr mit der Romanfigur in ihrer Frühform überein, dass man die Absicht eines Seitenhiebs auf die mütterliche Schwarzwald in Rechnung stellen kann. [Vgl. Corino 2003, 863]
[5] In einem weiteren Brouillon von 1920 mit dem Titel ›Diotima Episode‹ skizziert Musil, wie er sich die Einführung Diotimas in den Roman vorstellt. An dieser Skizze, aus der Beträchtliches in die Endfassung des Romans eingeht (der dann namenlose Auskunftsgeber heißt noch Sektionsrat Giongo), fällt das Misstrauen auf, das Achilles Diotima von Anfang an entgegenbringt. [I/6/6] Durch die indiskreten Fragen nach Alter und Liebhaber versucht er dem Phänomen schöne und gescheite Frau sogleich eine intime Physiognomie anzuhängen. Indem das Alter verschwiegen und ein Geliebter zur Denkunmöglichkeit erklärt werden, wird das Intimleben dieser Dame verhüllt wie ein Denkmal, das den Blicken des Publikums noch nicht freigegeben ist. Aus den weiteren Notizen geht hervor, dass es dem eindringenden Achilles-Anders überlassen sein wird, die Genoveva-Fassade aufzureißen. [Heft 22/39]
[6] An ›Diotima Episode‹ schließt in der Nachlassanordnung das Blatt ›Anders kommt zum erstenmal zu Diotima‹ an. [I/6/7] Die Skizze repräsentiert die erste Vorstufe von Kapitel 22 des ›Mann ohne Eigenschaften‹. Bereits in der Erstfassung ist auch das jüdische Dienstmädchen enthalten. Eine Gegenüberstellung der Erst- und Letztversion der Passage, in der die Hauptfigur die zur Begrüßung gereichte Hand Diotimas fasst, verdeutlicht, dass die Enthüllung des Denkmals in der Endfassung hinausgeschoben ist. In der ersten Fassung mischen sich noch Elemente in die Beschreibung der körperlichen Erscheinung Diotimas, die die Attributierung als schöne Frau auf den Kopf stellen. So verwandelt sich die Frau mit ihren Wülsten und Wölbungen und der sie umkreisenden Tiermetaphorik sofort in ein Sexualobjekt Anders', ihre Sexualisierung ist so heftig, dass die Umgebung (Polsterung der Stühle) davon erfasst wird. In der Endfassung ist Musil bemüht, in Ulrichs Wahrnehmung Diotimas die Fixierung auf Diotima als erotisches Objekt zurückzunehmen. Er beschränkt sich auf eine Vorausdeutung, Ulrichs Ahnung von künftigen »Unannehmlichkeiten durch Liebe«. [Kapitel 22]
[7] Während Anders bei seinem ersten Besuch Diotima auf den ersten Blick als erotisches (Hass)Objekt identifiziert, nimmt im Bericht über den ersten Besuch Ulrichs dieser Blick wenig, aber die Abwehr dieses Eindrucks breiten Raum ein. Das Erste Buch erzählt, was Diotima betrifft, von Ulrichs Abwehr dieser provozierenden Wirkung. In der ›Spion‹-Phase war die vitale Nähe zwischen den beiden Figuren noch ohne fiktionale Motivierung; diese, ein entferntes und realiter unechtes Verwandtschaftsverhältnis, wird erst später erfunden. In einem Bruchstück zur ›Zwillingsschwester‹ von 1925 erscheint Diotima erstmals als Kusine. [VII/3/214] Das Verhältnis zu Arnheim, durch das die Treue bzw. Untreue der Gattin des Sektionschefs Tuzzi stets in einer merkwürdigen Schwebe bleibt, ist in der frühen Konzeption der Diotima-Figur schon inbegriffen. Gerade die latente Disposition der Seelenriesin zum Ehebruch ist der eigentliche Motor für die Aggressivität von Anders. In der sich 1921 herauskristallisierenden Roman-Vierer-Konstellation, die Diotima und ihren Gatten sowie Rathenau und Anders umfasst, reproduziert sich die Kindheits-Konstellation Alfred-Hermine-Robert Musil und Heinrich Reiter.
[8] Das 1921 entworfene Szenarium bleibt als Fluchtpunkt eines sich dann durch den gesamten Roman ziehenden Entscheidungskampfes zwischen Diotimas aufgestautem Trieb und Seelenideologie bis in die 1930er Jahre aufrecht. Die Motivierungen werden umgewandelt und ausgebaut. Neben die erotische Konstellation tritt die ideologikritische. Diotima reiht sich unter die Figuren ein, welche der Karikatur von Denksystemen dienen, als einzige weibliche Repräsentantin in der männlichen Riege der Zitatfiguren kommt ihr die diskursenzyklopädische Funktion zu, Texte aus Ellen Key und Maurice Maeterlinck (Exzerpt aus Der Schatz der Armen) von sich zu geben [Heft 21/38], die ihre Seelenideologie speisen. Wie Stefan Howald festgestellt hat, unterscheidet sich Diotima von den männlichen Vertretern von Denksystemen dadurch, dass sie als Verkünderin angelesener Theorien in den Roman eingeführt wird. Bis in das Zweite Buch, wo sie die sexualhygienischen Schriften Sophie Lazarsfelds von sich gibt [VII/14/58], ist Diotima als Eklektikerin markiert, wogegen die aus Zitaten zusammengesetzten Männer in der Fiktion die ihnen zugeschriebene Weltanschauung originär als die ihre vertreten.
Mappe II/1
Seite 27,
Seite 32,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 38,
Seite 60,
Seite 91,
Seite 110,
Seite 117,
Seite 118,
Seite 119,
Seite 120,
Seite 132,
Seite 139,
Seite 140,
Seite 162,
Seite 166,
Seite 172,
Seite 199,
Seite 205,
Seite 211,
Seite 217,
Seite 224,
Seite 225,
Seite 241
Mappe II/8
Seite 99
Mappe II/9
Seite 54,
Seite 56,
Seite 139
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 17,
Seite 19,
Seite 20,
Seite 21,
Seite 23,
Seite 24,
Seite 26,
Seite 28,
Seite 29,
Seite 31,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 36,
Seite 37,
Seite 39,
Seite 40,
Seite 41,
Seite 42,
Seite 45,
Seite 48,
Seite 49,
Seite 50,
Seite 52,
Seite 71,
Seite 74,
Seite 75,
Seite 76,
Seite 77,
Seite 80,
Seite 81,
Seite 83,
Seite 86,
Seite 89,
Seite 91,
Seite 93,
Seite 97,
Seite 120,
Seite 121,
Seite 122,
Seite 125,
Seite 126,
Seite 127,
Seite 129,
Seite 130,
Seite 132,
Seite 133,
Seite 134,
Seite 135,
Seite 136,
Seite 137,
Seite 141,
Seite 142,
Seite 143,
Seite 145,
Seite 146,
Seite 147,
Seite 148,
Seite 150,
Seite 151,
Seite 153,
Seite 157,
Seite 158,
Seite 160,
Seite 161,
Seite 162,
Seite 163,
Seite 164,
Seite 165,
Seite 173,
Seite 178,
Seite 180,
Seite 181,
Seite 182,
Seite 183,
Seite 184,
Seite 185,
Seite 186,
Seite 187,
Seite 189,
Seite 190,
Seite 193,
Seite 194,
Seite 195,
Seite 196,
Seite 197,
Seite 198,
Seite 199,
Seite 200,
Seite 201,
Seite 203,
Seite 205,
Seite 207,
Seite 209,
Seite 216
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Rivalin Diotimas | Frau Professor Drangsal | Dgs Prof. D. | 27 [32] [33] [34] [35] 36 37 38 | [Beschreibung einer kakanischen Stadt], [Konferenz bei Graf Leinsdorf] |
Als ein Vorbild für die Rivalin Diotimas in der Kapitelgruppe »Ein großes Ereignis ist im Entstehn« kann Alma Mahler-Werfel festgemacht werden.
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Pazifistischer Literat | Friedel Feuermaul | Fm, FF | 27 [32] 35 36 37 38 | Beschreibung einer kakanischen Stadt, Druckfahnen 49 |
In einer der ersten Notizen zum Diotimakreis im Spion 1920 werden erwähnt: »Edschmid, Hesse, die drei Dichter um Diotima« [VII/3/4]. Der Repräsentant der Geistigen bzw. Literaten heißt zunächst Franziskus Lang (Länglich): »Wenn er von Leidenschaft spricht, preßt er die Worte durch die Zähne.« [IV/2/240] Die Idee geht auf 1912 zurück. Im Spion wird Achilles vielleicht »bei Diotima von Franziscus Länglich verdrängt, der zwar die Dichterin nicht mag, aber die gesellschaftliche Position estimiert und sich mit den Fingern hilft. Da sind die zwei Richtigen beisammen, Ach‹illes› ist D‹iotima› los u‹nd› der Literat ist eingeführt?« [VII/3/1] In einem Brouillon von 1921 taucht erstmals Gottlieb bzw. Friedel Feuermaul auf: »Der junge jüdische Dichter Gottlieb (Friedel ?) Feuermaul […] war der Liebling kunstsinniger Frauen und Diotima gefiel es wohl, diesen vielgenannten jungen Mann in ihrem Hause vorzuführen.« [I/6/49] Daran schließt eine Skizze einer Lesung Feuermauls in Diotimas Salon. Auf Blatt B 100 sind unter Jüdisch-vorchristliche Ethik biblische Zitate gesammelt und per Bleistift-Anmerkung der Lesung zugewiesen. [Vgl. I/6/50] Die Figur zeichnet sich bereits in Musils Vorkriegsauseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb ab, in der Spion-Phase vom Erscheinungsbild des Nachkriegs-Pazifismus, [Heft 19/20] ab 1922 von der Rolle Franz Werfels bzw. Leonhard Franks im Literaturbetrieb gespeist. [IV/3/475][VII/11/147] Die Verbindung mit der Stadt B. als Geburtsort des Dichters Feuermaul und Herd des Weltkriegs entsteht 1928; hier denkt Musil an die Einführung einer chauvinistischen Kontrastfigur „Biermaul“. [VII/1/58] Größeres Augenmerk schenkt Musil Feuermaul 1931-34. Er verwirft die alten Skizzen der Dichter-Lesung und konzipiert statt dessen die Kapitelfolge der »Großen Sitzung« (Kapitel 2/34-38). Die den Lyriker Feuermaul protegierende Frau Drangsal ist erst 1931 belegt, Alma Werfel-Mahler [II/8/84] bzw. vielleicht Bertha Szeps-Zuckerkandl dienen als Muster. [Vgl. Corino 2003, 915] Feuermaul Anfang der dreißiger Jahre orientiert sich weniger an den Notizen und Entwürfen der Nachkriegszeit, sondern wird von Musil anhand der öffentlichen Rolle von Anton Wildgans [VII/14/50] und Franz Werfel in den Dreißigerjahren neu konturiert.
Mappe I/8
Seite 4,
Seite 5,
Seite 11,
Seite 14
Mappe II/1
Seite 32,
Seite 38,
Seite 45,
Seite 154,
Seite 174,
Seite 177,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 224
Mappe II/8
Seite 16,
Seite 21,
Seite 22,
Seite 45,
Seite 54,
Seite 66,
Seite 67,
Seite 74,
Seite 76,
Seite 85,
Seite 88,
Seite 89,
Seite 90,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 94,
Seite 95,
Seite 96,
Seite 97,
Seite 99,
Seite 100,
Seite 101,
Seite 103,
Seite 117,
Seite 118,
Seite 119,
Seite 133,
Seite 136,
Seite 138,
Seite 152,
Seite 168,
Seite 210,
Seite 214,
Seite 223,
Seite 229,
Seite 235,
Seite 236,
Seite 242,
Seite 255
Mappe II/9
Seite 52,
Seite 54,
Seite 57,
Seite 58,
Seite 62,
Seite 63,
Seite 67,
Seite 68,
Seite 69,
Seite 70,
Seite 72,
Seite 73,
Seite 77,
Seite 87,
Seite 92,
Seite 96
Mappe VII/1
Seite 41,
Seite 46,
Seite 48,
Seite 51,
Seite 52,
Seite 53,
Seite 54,
Seite 59,
Seite 62,
Seite 63
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Jüdischer Bankdirektor, Gatte und Vater | Fischer, Leo Fischel, Direktor Leo Fischel, Leo, Generaldirektor Fischel, Fischel | = LF, Dir F, Dir LF, L, Gd F, Gen Dir LF, F | 35 [36] [39] 51 73 [83] 102 [103] [113] 119 | [13] [20 krpyptisch] [35] 36 37 [38] | Erste Fortsetzungsreihe: 39, 40, 41, 42, [45], [51], [52], Neuansätze: [49], Zweite Fortsetzungsreihe: [Konferenz bei Graf Leinsdorf], 1. Leo Fischel als Weltbote, 2. Politisch unverläßlich, 3. Gerda bei Ulrich, 6. Leo Fischel auf der Höhe, Druckfahnen: 39, 40, [41], 42, 43, 44, 56, [57], Dritte Ersetzungsreihe: [50], [52] |
[1] Im ›Spion‹ erscheint die Figur als ein Repräsentant der »Denksysteme mit Rationalität« wie Tuzzi. [I/6/14/5] Wie dieser besteht auch er, ein »Versicherungsmathematiker oder Bankbeamter«, [IV/3/205] aus einer ehrgeizigen gesellschaftlichen und frustrierten privaten Komponente. Reales Vorbild ist Sektionsrat Wolfgang Th. Reichle: »Was muß so ein Mensch tun, um es so weit zu bringen. Welchen Fleiß, Fügsamkeit, Augenaufschläge! […] (Bürokrat und Bank sind hierin wohl gleich)«. [Heft 8/86] [Frisé 1976/2, 248] [Corino 1988, 373] [Corino 2003, 891-895]
[2] Der Bankbeamte in der Frühstufe des Romans ist bestimmt durch seine jüdische Herkunft, er ist Vater einer Tochter, die mit dem Romanhelden liiert war: »Frl Z war die Tochter eines getauften Abteilungsleiters in der X-Bank«. [VII/3/3] Der Bankbeamte erhält in einem Brouillon von 1920 mit der Sigle ›AN 57‹ das exakte sozialpsychologische Profil und das ›Schicksal‹ eines Vertreters der gesellschaftlichen Mitte: »Jeder Mensch, auch der gewöhnliche, liebt im Grunde nur Gleichnisse. […] Der Knabe sehnt sich nach der goldenen Uhr. Der Jüngling mit der goldenen Uhr nach der wohlhabenden zu ihm passenden Frau. Der Mann mit Uhr und Frau nach der leitenden Stellung. Ist es erreicht, so wird es einfach konstatiert. Dies ist das Leben eines Durchschnittsmenschen, sowohl Diotimas Gatte wie der Bankprokurist. Der möchte dann doch einmal etwas wirklich Erfülltes leisten. Eine spekulative Idee verfolgt ihn mit einem förmlichen Jugendrausch, er fühlt sie durch und schmeißt um. Wird pensioniert, verarmt teilweise; dies aber emanzipiert seine Tochter.« [VII/8/176]
[3] Namen: Es ist nicht unwesentlich, dass der Ehemann des Opfers im Vorstadtgasthof auch Leopold heißt, ein Hinweis darauf, dass Musil den ›jüdischen Gatten‹ oder ›Gatten der Jüdin‹ bereits seit etwa 1910 in seinem Figurenfundus hält. [Der Mörder] [Priesterroman] [IV/2/494] Bis 1922 trägt die Figur keinen Familiennamen, sie wird bloß als Bankdirektor bezeichnet. 1922 bis 1924 schwankt Musil zwischen den »jüdischen Allerweltsnamen« [Corino 2003, 891] Leo Fischer und Leo Fischel: »Dir. F.« [VII/12/2], »Dir. L. Fischer« [Heft 36/39], »Leo Fischer« [II/1/130]. Den Namen Fischer behält das Ehepaar bis 1929 [VII/1/121], erst bei der endgültigen Fassung der Reinschrift des Ersten Buchs heißt es Fischel.
Mappe I/4
Seite 4
Mappe I/8
Seite 55,
Seite 60,
Seite 63
Mappe II/1
Seite 24,
Seite 40,
Seite 41,
Seite 42,
Seite 43,
Seite 45,
Seite 48,
Seite 52,
Seite 90,
Seite 91,
Seite 93,
Seite 94,
Seite 95,
Seite 96,
Seite 97,
Seite 98,
Seite 99,
Seite 101,
Seite 102,
Seite 103,
Seite 104,
Seite 105,
Seite 106,
Seite 107,
Seite 108,
Seite 109,
Seite 110,
Seite 111,
Seite 112,
Seite 113,
Seite 115,
Seite 116,
Seite 117,
Seite 118,
Seite 119,
Seite 120,
Seite 121,
Seite 124,
Seite 125,
Seite 126,
Seite 127,
Seite 128,
Seite 129,
Seite 130,
Seite 131,
Seite 132,
Seite 135,
Seite 139,
Seite 140,
Seite 154,
Seite 170,
Seite 182,
Seite 199,
Seite 202,
Seite 205,
Seite 214,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 219,
Seite 224
Mappe II/8
Seite 99
Mappe VII/1
Seite 26,
Seite 29,
Seite 36,
Seite 39,
Seite 41,
Seite 62,
Seite 63,
Seite 75,
Seite 85,
Seite 89,
Seite 91,
Seite 97,
Seite 121,
Seite 123,
Seite 124,
Seite 125,
Seite 126,
Seite 127,
Seite 132,
Seite 134,
Seite 138,
Seite 148,
Seite 160,
Seite 165
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Ehemann Agathes, liberaler Pädagoge | 1. (Georg) Kerschensteiner 2. (Gottlieb) Lindner 3. (Gottlieb) Hagauer | L, Ld (1921-1923), Hg, G Hg | 1 2 5 [6] [8] 9 10 [11] 12 [15] [21] [22] [24] [28] 29 30 [31] [38] | [48], 52, Pyrrhussieg Agathes über ihren Rechtsanwalt, 5. Graf Leinsdorf und Hagauer, 9. Lindner, Druckfahnen: [39], [41], [43], [56], Druckfahnen: [52] |
[1] Corino macht als Modell für Agathes Ehemann neben dem Buchautor Georg Kerschensteiner auch Enrico Marcovaldi geltend, dessen Ehe mit Martha Musil erst 1911 geschieden werden kann. (Vgl. Corino 1988, 390) Ausgangspunkt für die Herausbildung der Figur ist allerdings ein Exzerpt aus Kerschensteiners Buch Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts [Heft 21/7-12]. Die Kommentierung für das ›Spion‹-Projekt gibt der Figur Kontur: »Dieser sehr kluge und sich selbst gerechte Schulpabst [sic!]. In allen Sätteln gerecht; Rezept Göthe und doch nicht Göthe. Ein solches Beispiel des guten Menschen ohne Größe ist sehr lehrreich.« – »Sollte er Agathes Mann sein, so wird er ganz recht haben, das Gericht würde ihr die Kinder wegnehmen und alle billig denkenden Menschen müssen sich auf seine Seite stellen. Er widmet sein Buch Felix Klein, zitiert Mach, Windelband und Wundt. Und ist wirklich ein Reformator.» [Heft 21/12]
[2] Für das Projekt ›Der Erlöser‹ erfolgt 1922/23 die Umbenennung Kerschensteiners zu Lindner: »/Prof. Gottlieb Lindner/ Subalterner Name, den Agathe los sein will. Schon unglücklich bei der Heirat. […] Anders hat den Verdacht, daß Lindner vielleicht geheime Laster hat. Er sucht sich an ihn zu erinnern. Der mittelgroße Mann mit dem eingezogenen Kreuz, den runden, in derben Hosen steckenden Beinen, den etwas wulstigen Lippen unter dem borstigen Schnurrbart, den Baumwollsocken. Und Stirn und Augen haßte er. Das war diese halbe echte Bedeutung.« – »Sehr moralisch den Aufstieg des guten Menschen erzählen und den Abstieg des déséquilibrés, z.B. wie es Agathens Mann nach Verdienst immer besser geht, schließlich wird er Univ. Prof. und nicht Anders.« [VII/8/143, II/1/146] [3] In ›Mg 12‹ (1923) wird Agathes Mann »Gottlieb Lindner« genannt, im Erlöserheft (1923) noch Lindner, in Bleistift-Zusätzen schon Hagauer; in Entwürfen mit der Sigle s3+ (1924) steht Hagauer; auch im Register von Heft 36. Dazu folgende Angaben: »Wird Univ. Prof. oder doch nah daran […] Ein Mann ohne Leidenschaften zu sein, rühmt er sich (Nichtraucher) Besucht Friedhöfe. Das Grab des alten Geistlichen […] Remonstriert wegen Testament. Detektiv berichtet über ihn«. [H 36/57]
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Vertreter der Jugendbewegung, völkischer Flügel | Hans Tepp, Hans Sepp, Hans | HT, HS, H | 73 102 [103] 113 [119] | 36 37 38 | [Hermaphrodit], 1. Leo Fischel als Weltbote, 2. Politisch unverläßlich, 3. Gerda bei Ulrich, [6. Leo Fischel auf der Höhe] |
Musil baut in sein Romanpersonal einen Exponenten der deutschnationalen, antisemitischen, zugleich antizivilisatorischen und sexualfeindlichen Richtung innerhalb der deutschen Jugendbewegung der Vorkriegszeit ein. In Notizen der ›Spion‹-Phase wird auf die Jugendbewegung insgesamt als ›Junge Geistige‹, ›Geistige Ultras‹, ›Gerda und ihr Kreis‹ verwiesen. In ›L 10‹ (1923) findet sich ein Hinweis auf ein nicht erhaltenes »Blatt Jugendbewegung«. [VII/12/9] Hans Tepp ist erst als Rekrut erwähnt: »Mulacsak bei Hans Teppen Hauptmann«. [I/6/75] In den Blättern ›Gerda 10‹ und ›Gerda 11‹ (1922) taucht er als Störenfried im Haus des Bankdirektors auf. Der abgemilderte Name Hans Sepp erscheint ab 1927. [I/6/53] [I/6/75]
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Vertreter der Aristokratie | Graf Harrach, Graf Bühl, Graf Leinsdorf, Leinsdorf, Seine Erlaucht | Gf Harrach, Gf B, Gf L, Ldf, L, S(e) Erl | 21 [22] 24 [25] [35] 36 37 [40] 42 43 44 [45] 47 [49] [50] [51] [55] 56 57 58 [61] [66] 71 [74] 76 [78] [80] 81 [82] [84] [94] [97] 98 [102] [103] 107 [112] [113] [114] 116 [117] 120 | [6] [7] [10] 13 [14] 16 [17] 20 [22] [23] 27 [32] [33] 34 35 36 37 38 | [47], [Beschreibung einer kakanischen Stadt], [Unterhaltungen mit Schmeißer], Graf Leinsdorf bei Ulrich, Konferenz bei Graf Leinsdorf, 5. Graf Leinsdorf und Hagauer, 9. Lindner, 11. Schlußsitzung, Druckfahnen: [49], 51, [53] |
[1] Ein Bericht in der von Musil redigierten Bozener Soldaten-Zeitung vom 18.8.1916 mit dem Titel ›Bei unserem Kaiser‹ ist von k.u.k. Geheimer Rat, Landsturmoberleutnant Franz Graf Harrach gezeichnet. [Vgl. Frisé 1976/2, 216] [Corino 1988, 362] Im Dramen-Fragment Der kleine Napoleon (1918) verliest ein Rittmeister Graf Harrach eine patriotische Lobeshymne auf die Monarchie, die mit Formulierungen beginnt, welche in Graf Leinsdorfs Worten im ›Mann ohne Eigenschaften‹ durchscheinen. [III/1,2/37] [Kapitel 42] Im Erlöser (1921) ist Anders »bald rechte Hand Harrachs, der es liebt, einen bürgerlichen Intellektuellen bis zu gewissem Grad zu protegieren«. [Heft 21/52] Quelle wird das Exzerpt [vgl. Heft 8/33] eines Nachrufs auf Aloys Prinz Liechtenstein aus der Neuen Freien Presse (26.3.1920). Liechtensteins frühe Schrift ›Über Interessensvertretung im Staate mit besonderer Beziehung auf Österreich‹ (1877) enthält Formulierungen, welche im ›Mann ohne Eigenschaften‹ satirisch gewendet als die »machtvolle, aus der Mitte des Volkes aufsteigende Kundgebung« aus dem Leinsdorfs Mund wiederholt auftauchen. [Kapitel 42] Eine weitere exemplarische publizistische Quelle ist ›Das Mittelstands-Martyrium und Verklärung‹ aus der monarchistischen Zeitschrift Staatswehr vom 23.7.1920, die Musil für Vorstellungen über ›Besitz und Bildung‹ satirisch auswertet. [Vgl. Frisé 1976/2, 261f]
[2] Im Notiz- und Entwurfsmaterial für die Zwillingsschwester (1923/24) heißt die Figur Graf Bühl, 1925/26 sucht Musil nach einem neuen Namen. In einem Entwurf mit der Sigle s bleibt die Stelle des Namens leer: »Se Erl. Gf ...«. [II/1/131] Schließlich erfolgt die Festlegung: »Bühl = Launsdorf oder Leinsdorf«. [Heft 36/51] »Zu Leinsdorf oder Launsdorf (Bühl)« [Heft 36/60] wird ein Profil zusammengestellt, das dann als Grundlage für die Konturierung einer Figur dient, welche Howald zutreffend charakterisiert hat. »In Leinsdorf zeichnet Musil den konzeptiven Ideologen des Adels, der im Übergang von der feudalistischen zur bürgerlich beherrschten Gesellschaft für seine Klasse zu retten sucht, was zu retten ist.« [Howald 1984, 253]
Mappe I/4
Seite 12,
Seite 13,
Seite 14
Mappe I/8
Seite 4,
Seite 9,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 14,
Seite 15,
Seite 49
Mappe II/1
Seite 176,
Seite 177
Mappe II/8
Seite 235
Mappe II/9
Seite 53,
Seite 54,
Seite 55,
Seite 56,
Seite 58,
Seite 59,
Seite 71,
Seite 73,
Seite 74,
Seite 76,
Seite 77,
Seite 79,
Seite 80,
Seite 95,
Seite 139
[1] Mappe ›Mg‹ [VII/7] versammelt das Material zu dieser Figur und ihrem Bezugsfeld im entstehenden Roman. Den ältesten Kern bildet ein fünfzehnseitiges maschinschriftliches Exzerpt von Anfang 1921 unter dem Titel: »Menschen nach Friedrich Wilhelm Foerster« [VII/7/29] zu dem Buch Lebensführung von Friedrich W. Foerster. 1920 notiert Musil schon: »Foerster Lebensführung sehr wichtig für Teufelsroman. Dieser christliche Epiker Gegenfigur zur Hauptperson. Die vor Priesterschaft Nietzsche gelesen hat.« [Heft 21/24] In das Ellen-Key-Exzerpt von 1905 vermerkt Musil zu einer Stelle über maßvolle Lebensführung: »So spricht auch Förster«. [Heft 11/27] Bei der Figur aus Foerster-Zitaten vergegenwärtigt Musil sich die praktischen Konsequenzen einer Anleitung zu christlicher Lebensführung: »Ein Mensch, der bei fixem Einkommen alle Ausgaben aufschreibt, muß immer melancholischer werden. Sein Leben bekommt einen pessimistischen Grundzug. Förster«. [VII/7/139] Die Figur dient - vorläufig unter dem Namen des Buchautors - zur Repräsentation der Pflichtmoral: »Die Pflichtmoral kam auch durch die Universitäten in das deutsche Volk. Der Kampf mit der Universität und gegen Förster wird paradigmatisch für die Erzählung.« [VII/10/8]
[2] Endgültig vom ›Teufelsroman‹ in den ›Spion‹ versetzt, wird Förster Gegenfigur zum Romanhelden im Ringen um Einfluss bei Agathe: »Sie hat geweint, da sprach sie der 2te an. Ist Witwer mit einem Sohn. Seinethalben will er nicht heiraten.« [VII/7/134] – »wir erkennen, daß wir uns am besten in anderen lieben können; daß wir uns selbst am besten in anderen dienen. Solch ein Satz hat für Agathe die Überzeugungskraft einer ihre Abneigung überwältigenden Wahrheit. Aber Förster als Mensch führt das ad absurdum.« [VII/7/135] Etwas früher ist im Gegenzug zu Achilles festgehalten: »Es ist einer seiner Fehler, daß er, der Schöpferische, alle Gelegenheiten zur kleinen Ethik verabsäumt. Ihm fehlt das, was Förster hat. Er weist nach, dass es dort falsch ist; aber damit ist doch das Positive verabsäumt.« [VII/6/166] [3] 1922 wird der Name Förster zu Jäger geändert. [VII/7/19] Meingast als neuer Name der Figur erscheint erstmals 1922/23: Blatt ›Mg 5‹: »Prof. August Meingast« [VII/7/117]; dieser Name ist auch 1923 in den Blättern mit der Sigle ›L‹ festgelegt, er wird in den ›s-Entwürfen‹ und für die ›Kapitelgruppen‹ beibehalten. In ›L 54‹ (1925), wo die Figur als »Bürokrat des anderen Zustands« und Hauptträger der negativen Moral, der Pflichtmoral und ihrer Schwächen beschrieben ist, findet sich neben der Blattüberschrift »Meingast« in Bleistift nachträglich angefügt: »Besser Lindner«. [BlaueMappe/79] In der Endfassung des ersten Buchs heißt aber die Klages-Figur Meingast. Erst bei der Niederschrift des Zweiten Buchs ab 1931 tauscht Musil in seinen Papieren Förster-Meingast vice versa zu Lindner aus.
Mappe I/4
Seite 3,
Seite 4,
Seite 7,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 14,
Seite 15,
Seite 16,
Seite 18,
Seite 21
Mappe I/8
Seite 17,
Seite 55,
Seite 61,
Seite 64,
Seite 65,
Seite 67
Mappe II/1
Seite 24,
Seite 38,
Seite 40,
Seite 45,
Seite 63,
Seite 84,
Seite 86,
Seite 87,
Seite 88,
Seite 91,
Seite 115,
Seite 118,
Seite 121,
Seite 132,
Seite 149,
Seite 150,
Seite 154,
Seite 155,
Seite 164,
Seite 167,
Seite 170,
Seite 174,
Seite 184,
Seite 199,
Seite 200,
Seite 201,
Seite 202,
Seite 206,
Seite 207,
Seite 208,
Seite 209,
Seite 211,
Seite 212,
Seite 226
Mappe II/3
Seite 2,
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 6
Mappe II/9
Seite 51,
Seite 130
Mappe VII/1
Seite 41,
Seite 45,
Seite 85,
Seite 89,
Seite 135,
Seite 136
[1] Für die Vorarbeit zum Roman zieht Musil Gustav Donaths Bericht über sexuelle Erfahrungen von Alice-Clarisse (der kleine Rössler, Rudi Urbantschitsch und Sieczynski) heran. [Heft 3/51][IV/3/93] 1908/09 besteht in München ein Kontakt des Ehepaars Donath mit dem Philosophen Ludwig Klages (1872-1956), den Musil in dieser Zeit möglicherweise auch persönlich kennenlernt; die Freundschaft der Donaths mit Klages führt jedenfalls zum Streit mit Musil: »Nachdem ich mich sehr über Alicens Brief wegen Dr. Klages geärgert [..] hatte«. [Heft 11/60] Noch 1910/11 wird Klages im Zusammenhang mit Gustl – »Wir streiten über Psychologie und Dr. Klages« - und Alices Erkrankung erwähnt. [Heft 5/34] Musils Lektüre von Klages’ Vom kosmogonischen Eros ist in einem 12-Seiten-Exzerpt dokumentiert. [Heft 21/97] Seine Klages-Rezeption spaltet sich in konstruktive Aufnahme für die Konzeption des ›anderen Zustands‹ und in eine Grundlage für die Karikatur eines anti-rationalistischen Philosophen als Propheten und Vorläufers des Faschismus. Bereits 1921/22 ist Klages nicht nur als Verführer Clarisses »nach dem biografischen Modell, das Musil kannte« vorgesehen [Schneider 1999], mit Klages' Rolle in der Famile Charlemont, sondern auch bereits in ideologiekritischer Absicht: »Anders vertritt gegen Klages nur deshalb das Wissenschaftliche, weil er seine ideologische Bestimmtheit nicht verträgt.« [VII/6/228]
[2] In den ›Linien‹ zur ›Zwillingsschwester‹ ist notiert: »Beschäftigung mit Moral Zeichen von Instiktunsicherheit […] So setzt die Sache mit Klages ein« [VII/12/2]. Im Namen von Klages werden die an den sexuellen Jugenderlebnissen von Alice-Clarisse beteiligten Männer zusammengefasst, »wobei Musil sich den grimmigen Scherz erlaubte, die dubiosen Liebhaber Alicens wie den kleinen Roesler, Rudi Urbantschitsch und Sieczynski mit Klages in eine Figur zusammen zu führen«. [Corino 2003, 306f]. In den Notizen von 1923 geben die Personennamen eine ironische Begründung für die Wandlung der Figur her: »Klages – der sich später sehr verändert hat - ist erst Rösler [..], dann Urbantschitsch [..], Szicynski [..], besonders die Bestimmtheit und Überlegenheit Szicynskis, die später philosophisch wird.« [VII/6/362] Im ›Erlöserheft‹ ist Klages einmal ein künstlerisches Tätigkeitsfeld zugeordnet: »Da Anders Mathematiker, kann Walter Dichter sein. [..] Der Musiker ist dann Klages.« [Heft 36/40] Noch im selben Jahr 1923 erfolgt die Umbenennung von Klages zu Lindner (auch Hagauer erwogen), [Heft 36/40] ab 1925 die Konnotierung mit dem Faschismus, [VII/6/364] 1928 die ironische Bezeichnung als »schließlich selbständiger Prophet«, [VII/4/87] ab 1929 die neuerliche Umbenennung zu Meingast, in Schmierblatt-Notizen zu Kapitel 14 des zweiten Bands erwägt Musil vorübergehend den Vornamen Peter. [I/5/133]
[3] Obwohl Lindner/Meingast eine fiktive Biographie anprobiert wird - »stammte aus einer wohlhabenden Salzburgischen Bauern- und Wirtsfamilie«, [II/6/24] kann Schneider zugestimmt werden, dass Musil bei der Ausarbeitung der Figur für die Kapitel 14, 19 und 26 von Band 2/1 (1931-32) wieder mit dem Klages-Wiedererkennungseffekt spekuliert. [Schneider 1999] Schlagwörter aus Klages Büchern und Anspielungen auf Klages Arbeit an seinem Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (1929-1932) zielen auf seine Rolle als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus: schon Mitte der 20er Jahre rückt Musil Meingast in die Nähe zu Sorel, zu Mussolini, später verknüpft er die »geistige Diktatorenverehrung«, [Heft 34/81] die Klages entgegen gebracht wird, mit dem Führerkult Walters und Clarisses um Meingast und verstärkt die dämonischen Züge des Nietzsche-Verdrehers, (homosexuellen) Männerbündlers und rechtsradikalen Verschwörers in der Figur noch.
Mappe I/4
Seite 7,
Seite 12,
Seite 14,
Seite 16
Mappe II/1
Seite 21,
Seite 24,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 28,
Seite 31,
Seite 80,
Seite 86,
Seite 154,
Seite 155,
Seite 158,
Seite 172,
Seite 175,
Seite 205,
Seite 206,
Seite 210,
Seite 211,
Seite 217,
Seite 224
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 89,
Seite 124,
Seite 125,
Seite 127
Frauenmörder, Doppelgänger bzw. Alter Ego (Ulrichs) Moosbrugger = M, Mo, Moosbr
[1] Von früh an existiert die Gewalt-Figur in Musils Fantasie in Form einer Abspaltung vom Ich. Im Variété (1900) ist die älteste Nebenfigur des späteren ›Mann ohne Eigenschaften‹ in einer embryonalen Form zu erkennen, wenn die namenlose Hauptfigur dieses Texts (»der Fremde«) am Ende auf die Frage der Variété-Tänzerin Rosa »Wer sind Sie eigentlich?« die Auskunft gibt: »Soll ich Ihnen sagen ein Narr? – ein Dichter - nein ich will bei dieser Wahrheit bleiben - aber Sie müssen mir auch glauben: Ich bin der Mädchenmörder, den man gestern gehängt hat.« Glauben lässt sich diese Wahrheit nicht im wörtlichen Sinn. Der Triebtäter, der im Narren- und Dichter-Ich und in jedem von uns steckt, als Teil der Ich-Figur, ist ein anderes, eine abgetrennte Figur, die »man gestern gehängt hat«. Von Anfang an wird das projizierte Ich von einem Doppelgänger begleitet. Thomas Pekar identifiziert »ein Narr? – ein Dichter« als Nietzsche-Zitat (»Nur Narr! Nur Dichter!«) und erklärt, die männliche Figur leiste sich einen rhetorischen Ausbruchsversuch aus der konventionellen Liebesordnung ins Gewaltverbrecherische. [Vgl. Pekar 1989, 27] Wenn der junge Musil im hingerichteten Mädchenmörder des Textes ›Variété‹ die Geschichte des Prostituiertenmörders Moosbrugger »präludiert«, versuchte Karl Corino nachzuweisen, dass Musil Zeitungsberichte aus den Jahren 1900-1901 über einen wirklichen Mordfall vor Augen hat, die er in manchen Details »fast sklavisch« sogar noch in den späteren Mann ohne Eigenschaften übernehmen wird. Aus dem Nachlass ließ sich der von Corino festgestellte Konnex zwischen dem Tiroler Delinquenten Florian Großrubatscher und der Fiktion Moosbrugger nicht direkt erweisen. Corino selbst änderte die Identifizierung des Falls Moosbrugger im Realen und übertrug sie von Großrubatscher auf Christian Voigt. [Corino 1983b, 133] [Corino 2003, 880ff]
[2] Musil trägt die Lustmörder-als-Doppelgänger-Fantasie jedenfalls fast zwanzig Jahre mit sich, bevor sie als Paar Achilles-Moosbrugger 1919 in Notizen und Entwürfen erst wieder Gestalt annimmt. [Der Spion] Anklänge an das Doppelgängertum von männlichem Ich und triebhaftem Widergänger manifestieren sich in der Zwischenzeit in den Dämon- und Teufelsroman-Projekten, in gestalteter Form in den Vereinigungen (G. in Die Vollendung der Liebe und in Demeter als Abspaltung von Johannes in Die Versuchung der stillen Veronika). Das ›Registerheft‹ (1921-1924) enthält zum Stichwort Moosbrugger Hinweise auf Musils Sammlung von Zeitungsausschnitten, greifbar wird im Hinweis auf die Z-Sigle die Verbindung zwischen Dokumentarischem und Projektion. [Registerheft 73] Musil verwendet und zitiert in den ›Spion‹-Notizen die ihm vorliegende alte Dokumentation des Mordfalls. Das Studieren gesammelter Zeitungsberichte setzt Musil in den Roman und überträgt die Tätigkeit auf die Hauptfigur: »Anders blätterte in den Zeitungsausschnitten, die er über den Fall gesammelt hatte, vor und zurück«. [Heft 36/4] Zugleich verschmelzt er in seiner Fantasie Held und Mörder.
[3] Die hergestellte »ganz enge Verwandtschaft« [Corino 1983b, 144] zwischen Achilles/Anders und dem Lustmörder wird zu einem Zündstoff, der mit daran beteiligt ist, den Motor der Schreibbewegung Musils am ›Spion‹-Roman in Bewegung zu setzen. Das Interesse von Achilles an Moosbrugger wirkt als eine der Basisfiktionen für den werdenden Roman; sie ist ähnlich bestimmend wie die Erfahrung des Kriegsausbruches von 1914. Der hohe Grad der Einfühlung des Autors in das Lustmörderische wird in dem Satz greifbar: »Alle Verbrecher loslassen, die man in sich hat«. Musil notiert ihn Ende 1920 oder 1921. Zugleich reflektiert er auch schon die Kommunizierbarkeit des Lustmords als Erzählsubstanz: »Gemildert wird die abstoßende Wirkung gegen Viele schon durch sachliches Begreiflichmachen. In früherer Zeit wandte sich der Erzähler schaudernd ab (und erzählte es doch); das wäre vielleicht gar nicht dumm, es auch heute so ähnlich zu machen; man kann ja für den besseren Leser das ironisch machen.« [Heft 8/97] Etwa aus der gleichen Zeit stammt eine auf einem Einlageblatt von Heft 22 überlieferte Notiz mit dem Titel »Moosbruggers Geständnis«. [Heft 22/18] Die grammatische Form bringt statt Distanzierung ein hohes Maß an Affirmation zutage. Das Geständnis schwingt sich zur Verteidigung von etwas kollektiv Männlichem (»man«) auf. Dass das mörderisch Männliche seinen Antrieb aus der puren Lust auf Gewalttätigkeit empfange, wird mit einer gleichsam kollektiven Schutzbehauptung bestritten. Etwas der »Zartheit« des Lustmörders Ähnliches bringt auch schon eine Notiz des Jahres 1920 auf: Moosbrugger sei »in den Zeiten vor seinen Anfällen eine Quelle des Guten, des Ethischen (im Valerie-Sinne)«. [II/1/239] Damit wird er zum männlichen Pendant der ›sentimentalen Geliebten‹ Bonadea. Und indem sich Musil an die eigenen gespaltenen Empfindungen der ›Valerie-Zeit‹ seines ersten Liebeserlebens erinnert, richtet er sich auf die Identifikation mit dem Lustmörder. Die in sich selbst erfahrene Doppelheit von Gewalt und Güte wird auf die Figur übertragen: die Autor-Projektion und Moosbrugger ergeben gemeinsam eine Makro-Figur.
[4] In der ersten gestalteten Szene von 1919 sind Alexander Unrod und Franz Moosbrugger miteinander konfrontiert. »Er tut nicht viel, sitzt gegenüber, sieht seine Hände an, lässt sich erzählen, von ›Dämon Sünde-Frau‹ udgl«. [Heft 16/1] Es wird aus der Notiz zum ersten Moosbrugger-Entwurf am Beginn von Heft 16 nicht einmal deutlich, wer hier wem erzählt, Spiegelbildlichkeit besteht. »Es war ihm besonders rührend, sein Spiegelbild in Moosbrugger zu sehn«, heißt es etwas später von Anders. [Heft 22/47] Zu beachten ist, dass kein Entwurf existiert, in dem der Lustmörder einen anderen Namen als Moosbrugger trägt. Nur ein wichtiges Notat mit mehreren Siglen sparrt sowohl den Namen des Mörders als auch den des Haupthelden aus. [I/6/65] In ihm ist formuliert, wie die Zerissenheit zwischen Hass/Liebe, Körper/höherem Wesen, die Achilles in sich selbst verspürt, ihn an den Zimmerergesellen denken und sein Spiegelbild am Schreibtisch als Mahnung aufstellen lässt. Moosbrugger ist dieser Version nach ein bereits Gerichteter; die zu ihm gehörenden Erzählsubstanzen würden in Rückblenden gestaltet werden müssen. In der sogleich anschließenden Erinnerung an die Henkersnacht, die der Delinquent und sein Alter ego getrennt verbringen, vollzieht sich das folgenschwere »freundliche Losmachen« der Hauptfigur von ihrem Doppelgänger. Das von der Interpretation oft festgestellte Zum-Verschwinden-Bringen Moosbruggers im ›Mann ohne Eigenschaften‹, das sich in der genauen Schilderung der Mordtat im Ersten Buch – »stach so lange auf sie ein, bis er sie ganz von sich losgetrennt hatte« [Kapitel 18] – und in der »Auflösung und Aufbewahrung« Moosbruggers [Kapitel 110] in der weiteren Erzählung symbolisch äußert, ist also bereits in der ›Spion‹-Version angelegt.
[5] In seiner Konsequenz, zunächst für den ›Spion‹, liegt, dass das Verbrecherische an Moosbrugger delegiert und die Figur Achilles-Anders davon purifiziert wird. Die Eingrenzung und Abstoßung des Gewalttätigen ist weder ein einmaliger Akt noch ein fortschreitender Prozess mit einem absehbaren Ende im Schreiben Musils. Es kehrt immer wieder. Schon in der ›Spion‹-Phase beginnt Musil der Moosbrugger-Figur, um Distanz zu ihr herzustellen, Kenntnisse aus der Lektüre einschlägiger Psychologiebücher einzuschreiben. [Howald 1984, 208 bzw. 211] Später tritt das Studium weiterer Mordprozesse, der Fälle Haarmann und Kürten, hinzu. [Vgl. Corino 1983b, 145] Den Bezug zum juristischen Unzurechnungsfähigkeitsdiskurs stellt Musil schon 1920 in den Aufbau-Notizen des ersten Teils von Heft 22 her. Auch die Verbindung zwischen Moosbruggers Irrsinn und den Wahnmythen Clarisses existiert in der Spion-Konzeption bereits. Außerdem fungiert der Fall Moosbrugger in seiner ethischen und epistemologischen Unüberblickbarkeit als Anknüpfungspunkt für Musils philosophische Kausalitätskritik, die an Anders delegiert wird.
Mappe I/4
Seite 7
Mappe I/8
Seite 63
Mappe II/1
Seite 7,
Seite 26,
Seite 32,
Seite 33,
Seite 35,
Seite 38,
Seite 91,
Seite 153,
Seite 156,
Seite 170,
Seite 171,
Seite 205,
Seite 222,
Seite 224,
Seite 225,
Seite 241
Mappe II/9
Seite 55
Mappe VII/1
Seite 8,
Seite 21,
Seite 36,
Seite 82,
Seite 89,
Seite 100,
Seite 122,
Seite 124,
Seite 127,
Seite 129,
Seite 135,
Seite 144,
Seite 145,
Seite 146,
Seite 148,
Seite 150,
Seite 155,
Seite 201,
Seite 205,
Seite 207,
Seite 208
Vertreter der Psychiatrie vor Gericht Dr. Pfeifer bzw. Dr. Pfeifenstrauch = Dr Pf
Der „Gerichtsarztspezialist“ möchte Moosbrugger seine volle Verantwortung nachweisen, er zählt zu den Karikaturen rationaler „Denksysteme“. Der erste Hinweis auf einen noch namenlosen Gerichtsarzt fällt 1919, wonach Gutachter, Assistenzarzt und Anstaltsgeistlicher gemeinsam ein „Dickens-Kollegium“ bilden; dabei könnte der Gutachter „in seiner menschl‹ichen› Mediocrität gezeichnet werden, die ihn die Verurteilungen unterstützen läßt“. In einem älteren Spion-Entwurf wird Achilles’ Besuch bei einem „Dr. X“ skizziert. Der Sachverständige erhält bald den Namen Dr. Pfeifenstrauch. „Anders sucht Dr. Pfeifenstrauch auf“ steht auf einem Einlagezettel von Heft 22: „Dr. P. ist kein Wissenschaftler, nur solche Menschen studieren solche Probleme“. Der Name der Figur steht in Verbindung mit dem Pfeifenstrauchgebüsch der „Jugendepisode“. Der Psychiater vertritt den Forschertrieb, der sich auf tabuisiertes Terrain begibt, und dazu gleich auch die Instanz der Verhinderung und Bestrafung, Pfeifenstrauchs „juristische[…] Kauzereien einnern Anders an seinen Vater“. Aus Dr. Pfeifenstrauch wird Dr. Pfeifer; der Hinweis auf die Namensverkürzung („Pfeiffer“) findet sich s5+c in einer nachgetragenen Bleistiftnotiz (die Opposition bildet die Namensverlängerung Fried zu Friedenthal). In den Irrenhaus-Kapiteln von Band 2/1 tritt die Figur, trotz zeitweiser Erwägung - geplanter Kapiteltitel: „Der General, Clarisse und Ulrich begegnen nicht nur Moosbrugger, sondern auch Dr. Pfeifer im Irrenhaus“ – nicht auf. In einer späteren „Anmerkung zu Dr. Pfeifer“ wird aber die Absicht begründet, den Gutachter „als episodische und ausbalanzierende Gegenfigur zu Lindner und Hagauer“ und „Abberation des bürgerlichen Geistes“ bei einem weiteren Irrenhaus-Besuch Clarisses doch auftreten zu lassen. In Entwürfen zum Kapitelprojekt Besuch setzt sich Dr. Pfeifer als Antipode des zweiten klinischen Assistenten in der apokryphen Romanfortsetzung in Szene.
Diese Randfigur ist in der bis 1934 aufrechten frühen Konzeptionen des Romans vorgesehen, wo die Geschwister einen Anwalt konsultieren, um die Testamentsfälschung zu kaschieren; sie steht auch in Verbindung mit dem Eifersuchtsmotiv.
Rotbart = Rotb, Rtb; Die Figur ist im Rahmen des Projektes der Zwanzig Werke anfänglich für den Roman Der Archivar vorgesehen [Vgl. H8/21;36].
Für den ›Spion‹ vorgesehen ist, einen »Machtpolitiker« zu zeichnen, einen »Repräsentanten des zivilen Typus« [H9/32]: den »Rotbart« [H9/32]. Einen vagen Anklang bieten »Karl der Provisor« [H18/11] (Apotheker), eine Begegnung in Bozen 1915/16, und »Dr. Wolff, der Rassetheoretiker« [H7/34]. Rotbart in der Romanvostufe ist ein »Historiker ohne Doktorat«, der »Sekretär der Festvereinigung« [I/6/46] bzw. »eine Art Kanzleidirektor« [VII/1/7] bei Anders, dem Sekretär der Parallelaktion, und dessen Begleiter bei der Lesung Feuermauls in Diotimas Salon. Vom »Verlangen nach der starken Person« bestimmt, richtet sich Rotbart »gegen die Aufklärung« [VII/12/11] und in einer Notiz von 1932 noch »gegen Feuermaul und das Christentum und den Optimismus« [II/8/91]. Rotbart würde die präfaschistische intellektuelle Kritik an der libertinären Gesellschaft und Demokratie formulieren [vgl. II/1/151]. Die Figur bleibt apokryph; wiewohl Musil zu ihrer Einführung in das Zweite Buch 1932/33 fest legt, Ulrich werde an den Sitzungen der Parallelaktion nicht mehr teilnehmen und sich von Rotbart vertreten lassen [vgl. II/8/3; II/3/50]. Dieser sei wie Meingast und Schmeißer ein Vertreter des ›Für‹ [vgl. II/1/25] und als solcher eventuell mit Dr. Pfeifenstrauch zusammenzuziehen [vgl. I/5/16]. Strutz stellt eine Verbindung zum Rasseforscher und Apotheker Bremshuber [2/MoE/568] in Kapitel II/37 her [vgl. Strutz, 28].
[1] Als einen der Menschen »mit Denksystem« möchte Musil in den ›Spion‹ einen Sozialisten einbauen: »Achilles sah in der Sozialdemokratie den Liberalismus. Darüber ist sie nicht hinaus. Die geringe logische Schulung der Geisteswissenschaften führt zu Marxglaube« [Heft 21/24]. Im Exzerpt zur Biographie des Prinzen Aloys Liechtenstein ist für die Adeligen-Figur 1920 festgehalten: »Jeder Mensch besitzt ein Amt im Staate«. Könnte eine vorübergehende Berührung mit einem Sozialistenführer geben« [Heft 8/34]. Daran geknüpft ist 1921 eine Skizze über die Ausschussarbeit der patriotischen Aktion unter Beteiligung eines sozialdemokratischen »Prof. Singer« [VII/1/10]. Nach einem anderem Plan führt Anders die »Moosbrugger-Sache zu einem jungen Sozialisten. Ich habe eine Weltanschauung. (Materialistische Geschichtsauffassung als Negativ des jüdischen Geld über alles)« [I/6/14].
[2] Ausgangspunkt für die konkrete Figur Schmeißer ist eine Notiz aus dem Jahr 1920 unter dem Stichwort »Gewerkschaftsbeamter« [Heft 8/60]. Im Typoskript ›Fn 6‹ wird aus der Beschreibung des Typs das Profil der Figur entwickelt: »Beim ersten Anlass nach einem Streik die Stelle verloren. Märtyrer. Bekommt Unterstützung von der Partei und arbeitet dafür provisorisch im Gewerkschaftsbüro. Hält Vorträge. Solches Denken ist das gleiche wie bei den Naturheilmenschen oder den Deutsch-Arier-Idealisten. (Etwa Tochter des Bankdirektors. Schmeisser könnte ihr auf Empfehlung Anders Stunden geben und sie hat starken Eindruck von ihm.)« [IV/3/489] In ›Fn 7‹ ist weiter festgelegt: »Vertreter des Bürgertums Anders. Sein Weg wegen Moosbrugger führt ihn zu seinem ehemaligen Studienkollegen Schmeisser. Hier muß sowohl Anders wie Schmeisser karrikiert [sic!] werden. Schmeissers Bude richt erstens schlecht und zweitens sieht Sch‹meisser› aus, dass Anders sich auf der Gasse nicht gern mit ihm zeigen würde.« [IV/3/203]
[3] Eine Konfrontation zwischen Anders/Ulrich und dem jungen Sozialisten bleibt sowohl in den Entwürfen für die ›Zwillingsschwester‹ wie in den ›Kapitelgruppen-Entwürfen‹ als auch noch in den Entwürfen zur Fortsetzung des Romans nach 1932 vorgesehen, wobei die Schmeißer zugedachte Rolle in allen Phasen die eines Vertreters des ›Für-Prinzips‹ ist.
Mappe I/4
Seite 5,
Seite 14,
Seite 16,
Seite 21
Mappe I/8
Seite 48
Mappe II/1
Seite 21,
Seite 22,
Seite 23,
Seite 24,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 28,
Seite 40,
Seite 84,
Seite 85,
Seite 89,
Seite 91,
Seite 132,
Seite 134,
Seite 135,
Seite 136,
Seite 137,
Seite 138,
Seite 139,
Seite 153,
Seite 154,
Seite 155,
Seite 156,
Seite 157,
Seite 172,
Seite 204,
Seite 205,
Seite 212
Mappe II/9
Seite 59
Gegner von Ulrichs Vater Geheimrat Sitzer Professor Schwung = Schwg, Schw, Sch, Prof Schwg
Im »lächerlichen Streit« [VII/4/94] eines Strafrechtstheoretikers mit dem Vater der Hauptfigur drückt sich eine Zerfallstendenz des bürgerlichen Liberalismus an einem seiner Steckenpferde aus, dem modernen Strafrecht. Die Figur Geheimrat Sitzer wird im ›Erlöser‹-Entwurf ›II P 35-39‹ an der Bahre des toten Vaters eingeführt: »Der Graubart schritt wie von einem Schwung ins Zimmer geschleudert bis an die Tür. Es war einige jener innigen Feindschaften, wie sie nur in Professorenkollegien vorkommen.« [VII/15/4] Musil merkt an: »Deutsche idealistische Philosophie endlich nachlesen, vor allem Eucken, und zur Satire verwenden«. [VII/15/4] Der Ansatz zur Universitätssatire wird durch eine zusätzliche Figur, einen vom Vater protegierten Extraordinarius erweitert, der den Unterschied in der Lehrmeinung zwischen dem Vater und Professor Sitzer erklärt: »Sie werden aber wissen, dass ihr seliger Herr Vater ein grosser Verehrer Fichtes war, während Prof. Sitzer seine Weltanschauung auf den Hegel fundiert. Demzufolge ist Vater ein Anhänger der Abschreckungstheorie, wogegen Prof Sitzer erfreulicherweise an der Vergeltungstheorie festhielt; Sie kennen den Unterschied?« Anders nickte und erklärte Agathe mit einigen Sätzen den sich schon in den Namen ausdrückenden Unterschied beider Auffassungen vom Sinn der Strafe.« [VII/15/8] Vgl. auch ein Blatt, das Notizen zu einer Vorstufe für Kapitel I/74 von 1922 enthält. [VII/8/142] In der Endfassung vertritt Schwung die Auffassung, dass »das Denken im Wollen bestimmt« sei, Ulrichs Vater hingegen, dass »der Wille im Denken bestimmt« sei. [Kapitel 74] In Überlegungen zur Weiterführung deutet sich an, Professor Schwung als Scharfmacher und Kriegstreiber auch noch im Schlussteil des Romans eine Rolle zu geben [Vgl. I/3/11; II/7/88; II/7/95].
FUNKTION/TYP | NAMEN | ABKÜRZUNGEN | KAPITEL IM ERSTEN BUCH | KAPITEL IM ZWEITEN BUCH | NACHLASS |
---|---|---|---|---|---|
Vertreter des Kriegsministeriums / Naive Militärperson | 1. Rittmeister Horn 2. General Stumm v. Bordsprung/Bordwehr 3. Stumm von Bordwehr | Rm H, H, Gn, v St, St, St v B | [42] 44 64 [65] [66] [69] 75 [76] 80 85 [86] 89 93 100 101 [104] 108 [109] 114 116 | 13 [17] [23] 27 32 33 [35] 36 37 38 | [48], 47, 52, Beschreibung einer kakanischen Stadt, [Warum die Menschen nicht...], Stumm und die Propheten, Konferenz bei Graf Leinsdorf, Frühspaziergang, [Laubumkränzter Waffenstillstand...], [Hermaphrodit], [1. Leo Fischel als Weltbote], [3. Gerda bei Ulrich], 4. Aussprache mit General, 5. Graf Leinsdorf und Hagauer, 9. Lindner, Druckfahnen: 49 51 53 [57] |
[1] General als Vertreter des Kriegsministeriums: Unter den Repräsentanten »des feineren militärischen Typs« [Heft 9/32] in den Nachkriegsnotizen für die Zwanzig Werke erscheint Oberstleutnant Max Becher, ein Vorgesetzter Musils im Kanzleidienst im Heeresgruppenkommando in Bozen, als der »kleine Napoleon« [Heft 8/19] die Hauptfigur im Dramenprojekt Panama. Ein weiteres Modell für den Feldmarschalleutnant Stumm von Bordsprung im ›Spion‹-Projekt ist General Karl von Pflanzer-Baltin, den Musil im Krieg an der Isonso-Front kennenlernte und mit dem er 1920 (Helmstreitmühle) Kontakt hatte. Er, »wie ich höre, einer der ärgsten Blutgeneräle, bestellt friedlich seine Gemüsebeete. Macht der Verhältnisse« [Heft 8/42] – »ad Pflanzer-Baltin: Bei aller Männlichkeit ist das eigentlich das Gesicht einer Frau […] wenig mit dem Verstand erlebt, viel rein menschlich«. [Heft8/39] Musil interessiert die (In)Kompatibilität von militärischen und zivilen, sogenannten menschlichen Komponenten; die zentrale Festlegung für den ›Erlöser‹ lautet: »Der Militarismus als Resultante der ungerichteten Kräfte. […] Der General, den alle als dummen Menschen behandeln, Typ Boroevic, setzt das schließlich ganz mühelos durch. Man muß zeigen, wie einleuchtend seine Auffassung ist!« [I/6/1] (Unter General Boroevic diente Musil 1917 an der Isonso-Front.) Die Generalsfigur ist von Anfang an Teilnehmer der Parallelaktion: »Frühzeitig tritt Stumm v. Bordsprung auf. Alle verlachen ihn. Der General mit Gymnasialanhängseln. Krieg als Anachronismus.« [II/1/243] Für das ›Zwillingsschwester‹-Projekt (1923/24) bleibt die Generals-Figur im Dispositionsfonds, und zwar der »dumme General als dritter Erlöser« [VII/1/124], »General wird Erlöser« [VII/12/8] und der »Offizier als Exekutor« [VII/12/8] in den ›Linien‹ [Sigle L]. Den »Entschluß gefaßt, aus ihm eine Figur zu machen« [VII/1/148] hat Musil erst 1929 bei der Reinschrift des Ersten Buches: der General soll nicht bloß eine starre Skulptur (wie Graf Stallburg) abgeben. Dies kommt im gleichzeitigen Namenswechsel von ›Bordsprung‹ zu ›Bordwehr‹ zum Ausdruck. Im Zweiten Buch schließlich tritt der Kriegsminister selbst gesondert im Roman auf [Kapitel 2/37], er führt die Rolle der leeren Uniform fort, die bei Stumm mit ›Eigenschaften‹ aufgefüllt ist.
[2] Rittmeister Horn als naive Militärperson: Im Spion ist ein pensionierter Offizier vorgesehen: »Anders nimmt sich als Subsekretär den pensionierten Offizier. (Fähnchen)« [VII/7/112]. 1920 plant Musil: »Stand der Philosophie, eventuell auch der Literatur, durch einen zeichnen, der Fähnchen steckt, wie Tristram Shandy«. [VII/3/4] Die Figur erhält den Namen Rittmeister Horn und ist folgend charakterisiert: »Rittmeister Baron Horn sammelte Messer - Einziger Offizier mit Vollbart im Regiment - Kommandant sagt, bringt Regiment nicht aus Kaserntor - Älter als Anders, hat er ein gewisses Aufblicken zu dem Einfallreichen. Sitzt bei Anders, […] bloß, wenn er spricht, eine gewisse Ausdünstung, die man unter der Wohlerzogenheit nicht merkt, wenn man sie nicht, wie Anders, gut kennt.« [VII/8/32] Rittmeister Horn wäre außerdem Untermieter in Anders’ Schlößchen. Er soll zum »späteren ersten Geliebten Agathes« [VII/8/32] werden und tritt in Beziehung zu »Selbstmord Tepp Schikaniert durch Hauptmann«. [VII/12/8] Im Register des ›Erlöser-Hefts‹ ist das Material zur Figur zusammenfassend registriert: »Legt sich einen Zettelkasten an (Symptom der Zeitkultur) - Schikaniert Hans Tepp - Ironischer Erziehungsroman - Normalmensch auf der Linie zum Verbrecher - Sagt zum Schluß: Danke es war nichts, es ist wirklich Zeit, daß ein Krieg kommt«. [Heft 36/57]
[3] Kombinierte Figur: General Stumm »übernimmt im ersten Band die Rolle des Rittmeister Horn« legt Musil 1929 fest. [VII/1/148] Der Vertreter des Kriegsministeriums im früh entworfenen ersten Sitzungs-Kapitel der Parallelaktion, General Stumm von Bordsprung, wird mit der Rittmeister-Figur zu General Stumm von Bordwehr fusioniert. Im entstehungsgeschichtlichen Faktum der Kombination liegt ein Grund für die Ambiguität der Generalsfigur. General Stumm von Bordwehr, dieser »widersinnige Schutzpatron aller sprechenden Namen« [Honold 1995, 169] bildet in der Periode der endgültigen Namensfestlegungen den Abschluss, mit ihm wird die Figurenkonstellation des Ersten Buchs komplett. Das Konvolut ›Zu General‹, ein Überbleibsel der ›Mappe General‹ [VII/1/131-206] gibt Einblick, wie Musil bereitliegende ältere Materialien synthetisiert. Es wird deutlich, dass sämtliche Ideen in Verbindung mit der ›neuen‹ Figur im alten Material bereits vorgeprägt sind, die interdiskursive Funktion, die die Generals-Figur im Endtext innehat, aber dennoch erst jetzt entsteht. In der Eingangsnotiz findet sich auch die Anmerkung, überschüssiges Material zur älteren Generals-Figur und zu Rittmeister Horn, das sich der neuen Figur nicht mehr zuordnen lässt, wäre »zu verteilen auf Graf Leinsdorf und Sektions-Chef Tuzzi«. [VII/1/148] Die Weise, mit der im Prozess der Ersetzungen, der Musils Schreiben bestimmt, Substanz zwischen Figuren ausgetauscht, hin- und her verschoben und verteilt wird, trägt zur Erklärung der Struktur der Isotopien bei, welche von Jelka Schilt als Merkmal der Figurenrelationen im ›Mann ohne Eigenschaften‹ beschrieben worden sind. Im Fall des Generals stellt Schilt fest, dass die Isotopie Krieg nur von dieser einzigen Figur gebildet wird. [Schilt 1995, 233] Mosers Untersuchung der Figuren als Diskurskonnektoren kommt zu einem ähnlichen Resultat, dass nämlich am General die Beschränkung auf „eine einzige Diskursart“ festzustellen sei. [Moser 1980, 187] Beiden Auffassungen widerspricht die entstehungsgeschichtliche Komplexität der Figur, die weder die Isotopie Krieg allein bildet noch auch von interdiskursiven Relationen ausgeschlossen bleibt. Aus einem Bruchstück des ›Zwillingsschwester‹-Manuskripts deutet sich an, wie der Rittmeister und Anders an einer Isotopie - der Existenzkrise des k.u.k. Offiziers - gemeinsam teilhaben. [VII/1/160]
[4] Darüber hinaus baut Musil in der Frühstufe weitere Horn/Anders-Isotopien ein: 1. Die Ordnung des Geistes als »ironisches Problem« [VII/1/132]; 2. die Sexuelle Annäherung an die Geistesaristokratin Diotima. Zu 1.: In den ›Aufbau‹-Notizen (1927) wird festgelegt, dass Anders´ epistemologische Kritik am Apparat der Wissenschaft zur Erkenntnis führt: »Die höchste Ordnung ist eine rein formale«. [VII/1/144] Aus der Konfrontation mit dem ärarischen Ordnungsdenken des Rittmeisters ergibt sich ein satirischer Effekt. Für die Entwürfe der Frühstufe ist charakteristisch, dass Anders bei den Bemühungen Horns, die Verhältnisse im Zivilgeist in Aufmarschplänen abzubilden, selbst Hand anlegt, auch er ist ja in militärischer Logistik ausgebildet. Hier leuchtet ein gerüttelt Maß an Selbstironie durch: die Ideen-Aufstellungen, welche der Rittmeister mit Anders´ Hilfe produziert, sehen den L-Blättern Musils zum Verwechseln ähnlich. [VII/1/203] [T-VII/1/205] In der Zeit, in der er Horns Aufmarschpläne skizziert, steht der Autor im Dienst des österreichischen Heeresministeriums, wo er nicht ohne Engagement dem Auftrag nachkommt, Stabsoffizieren zivile Bildung zu verpassen; kurz nachdem er den Dienst quittieren muss, entwirft er die Linien. Zu 2.: Die frühe Aufzeichnung ›Fn 13‹ (1921/1922) sieht vor, dass sich der Rittmeister in Agathe verliebt. [VII/1/202] In spätere Berliner Notizen hingegen, auf die sich das Generals-Konvolut mehrfach bezieht, trägt Musil die Idee ein: »Anders will Rittmeister Horn vorschicken bei Diotima.« [VII/1/198] Im Vorschicken manifestiert sich ein Akt erotischer Verschiebung; es ist offensichtlich, dass Musil in der Nebenfigur Horn nach dem Prinzip Spalten/Ersetzen /Delegieren eine Dublette von Anders herstellt, in die Tabu-Substanz von der Hauptfigur her überschrieben ist.
[5] Zusammenfassung: Indem Musil die Generals-Scheme und die Buffo-Rolle Horn zusammen führt, entsteht eine komplexe Figur, die an mehreren Isotopien Anteil hat, ein »Pufferraum für alles nicht Untergebrachte«. [VII/1/148] Vor allem ist der General der Endfassung als Komplettierung Ulrichs aufzufassen. Die Eigenschaften und die Laufbahn des Generals fixiert Musil in den vorbereitenden Notizen für den ersten Auftritt des Generals im Ersten Buch so, dass sie ein Spiegelbild zu Ulrich abgeben. [Kapitel 80] [Pennisi 1990, 154ff.] Das Kapitel endet damit, dass der General am Konzil, zu dem er uneingeladen-eingeladen erschienen ist, in Ulrich einen einstigen jungen Leutnant seiner ehemaligen Schwadron wiedererkennt und sich, angesichts der Entstehungsgeschichte der Figur beziehungsreich, denkt: »Ein ähnlicher Mensch wie ich!« [S. 552] In seinen Notizen sucht Musil zu begründen, wie es kommen kann, dass Ulrich, der Diotima zunächst noch geraten hat, den Vertreter des Kriegsministeriums fernzuhalten, freundschaftliche Gefühle für den General fasst, und welche Möglichkeiten sich daraus ergeben: »Möglichkeit a. Ulrich. Sympathie für die Drolligkeiten des Generals von denen er unmöglich annehmen konnte, daß sie ganz ohne einen Schimmer von Selbstironie gemeint sein könnten.« [VII/1/156] Durch sein Vertrauensverhältnis zum General erfährt Ulrich selbst eine Nobilitierung. Während er in der Frühfassung dem Rittmeister ein Kabinett in seinem Schlösschen zur Verfügung stellt und die beiden eine Soldaten-Kumpanei verbindet (sie teilen sich auch den Offiziersburschen), rückt das Verhältnis Ulrich-General in der Spätfassung auf eine gesellschaftlich höhere Ebene. Der General ist immerhin der offizielle Vertreter des Kriegsministeriums, es bedeutet für Ulrich eine Auszeichnung, dass er gerade ihn, den viel jüngeren, zum Mentor beim Versuch, den Zivilverstand zu ergründen, erwählt. Möglichkeit b (anknüpfend an ›a‹ im Zitat) bezieht sich auf die Feststellung des Generals: »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, daß du auch Diotima bewunderst?« [VII/1/156] Während sich erotische Bedeutungskomponenten im Figuren-Duplex Ulrich/General des Endtextes bloß in Spuren finden - der in den Entwürfen explizit sexuelle Gehalt der Gespräche von Ulrich und dem General über Diotima ist im Endtext zu einem Reden über »Körperkultur« [Kapitel 85] mutiert -, setzt sich der Ordnungs- und Kriegsdiskurs, den der General mit Ulrich und anderen Figuren führt, in den zweiten Band fort. Anfangs der einzige Repräsentant der Isotopie Krieg, wird Stumm schließlich alle anderen Figuren in diese Isotopie ziehen.
Mappe I/4
Seite 5,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 12,
Seite 13,
Seite 14
Mappe I/8
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 8,
Seite 9,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 14,
Seite 15,
Seite 28,
Seite 29,
Seite 31,
Seite 66
Mappe II/1
Seite 7,
Seite 9,
Seite 15,
Seite 19,
Seite 20,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 27,
Seite 37,
Seite 38,
Seite 39,
Seite 46,
Seite 49,
Seite 91,
Seite 164,
Seite 166,
Seite 167,
Seite 168,
Seite 169,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 173,
Seite 175,
Seite 177,
Seite 185,
Seite 199,
Seite 213,
Seite 224
Mappe II/3
Seite 4
Mappe II/8
Seite 235
Mappe II/9
Seite 51,
Seite 53,
Seite 54,
Seite 55,
Seite 56,
Seite 57,
Seite 58,
Seite 59,
Seite 62,
Seite 63,
Seite 64,
Seite 65,
Seite 66,
Seite 67,
Seite 68,
Seite 72,
Seite 73,
Seite 74,
Seite 75,
Seite 76,
Seite 79,
Seite 88,
Seite 90,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 93,
Seite 95,
Seite 97,
Seite 98,
Seite 139,
Seite 144,
Seite 153,
Seite 161
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 9,
Seite 17,
Seite 18,
Seite 19,
Seite 20,
Seite 21,
Seite 22,
Seite 23,
Seite 24,
Seite 28,
Seite 45,
Seite 49,
Seite 51,
Seite 52,
Seite 53,
Seite 63,
Seite 75,
Seite 76,
Seite 82,
Seite 95,
Seite 97,
Seite 99,
Seite 123,
Seite 124,
Seite 125,
Seite 127,
Seite 128,
Seite 130,
Seite 133,
Seite 137,
Seite 140,
Seite 141,
Seite 142,
Seite 144,
Seite 145,
Seite 146,
Seite 147,
Seite 148,
Seite 150,
Seite 151,
Seite 152,
Seite 153,
Seite 155,
Seite 156,
Seite 157,
Seite 158,
Seite 159,
Seite 160,
Seite 161,
Seite 162,
Seite 163,
Seite 165,
Seite 167,
Seite 173,
Seite 174,
Seite 175,
Seite 176,
Seite 177,
Seite 178,
Seite 179,
Seite 180,
Seite 181,
Seite 182,
Seite 183,
Seite 184,
Seite 185,
Seite 186,
Seite 187,
Seite 188,
Seite 189,
Seite 190,
Seite 191,
Seite 192,
Seite 193,
Seite 194,
Seite 195,
Seite 196,
Seite 197,
Seite 198,
Seite 199,
Seite 200,
Seite 201,
Seite 203,
Seite 205,
Seite 206,
Seite 207,
Seite 208,
Seite 209,
Seite 210,
Seite 211,
Seite 212,
Seite 215,
Seite 216
In den ersten Spion-Plänen 1919/20 vorgesehen ist der Vertreter eines Ministeriums, »Sektions-Chef Löwenstein (Kusine): Präsidial-Chef« im Kriegsministerium, von Anfang an in Verschmelzung der Beamten- und Gattenfunktion. [IV/3/353] Laut Corino ist Hermann Schwarzwald, der Gatte der Leiterin der Helmstreitmühle, Eugenie Schwarzwald, ein Vorbild. [Corino 1988, 367]. Hofrat Tuzzi: »Ekel«, »Untier«, [I/6/6] Vertreter der »Rationalität«. [I/6/14] »Liest nur Reuter und die Bibel«. [I/6/19] In einem grundlegenden Brouillon von 1921 erscheint die Figur als: »Herr Tuzzi. Hofrat im Min‹isterium d‹es› Ausw‹ärtigen›. Abgesehen von seiner Privatperson (Ekel, Genofeva) die noch näher zu bestimmen sein wird, nimmt er wohlwollend schweigenden Anteil an dem Geschimpfe auf Deutschland; bewirkt aber dann - Überkraft der Maschinerie - das Schulter an Schulter.« [VII/3/4] Die Schilderung einer Begegnung Rathenau-Hofrat Tuzzi in Tirol bildet den Ausgangspunkt der Dreiecksgeschichte zwischen Arnheim, Diotima und Tuzzi. [I/6/23] Aus dem Hofrat wird noch 1921 wieder ein Sektionschef. Die Rangerhöhung Tuzzis während des Arbeitsprozesses am Roman stimmt mit einem ähnlichen Vorgang bei Stumm und Leinsdorf überein.
Mappe I/4
Seite 17
Mappe II/1
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 38,
Seite 99,
Seite 100,
Seite 162,
Seite 167,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 224
Mappe II/9
Seite 69
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 3,
Seite 4,
Seite 20,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 27,
Seite 28,
Seite 29,
Seite 31,
Seite 32,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 36,
Seite 37,
Seite 38,
Seite 39,
Seite 41,
Seite 45,
Seite 46,
Seite 49,
Seite 52,
Seite 65,
Seite 67,
Seite 70,
Seite 73,
Seite 76,
Seite 77,
Seite 80,
Seite 81,
Seite 82,
Seite 85,
Seite 89,
Seite 97,
Seite 122,
Seite 123,
Seite 125,
Seite 127,
Seite 129,
Seite 130,
Seite 132,
Seite 133,
Seite 136,
Seite 138,
Seite 146,
Seite 147,
Seite 151,
Seite 157,
Seite 158,
Seite 161,
Seite 162,
Seite 163,
Seite 186,
Seite 189,
Seite 195,
Seite 203,
Seite 207
[1] Die Figur verkörpert in jeder Schreibphase die zentrale Stimme im Roman. Diese Hauptfunktion nimmt die Figur a) autobiographisch, b) biographisch, c) erzählperspektivisch und d) als Vertreter von Standpunkten wahr. Mit den wechselnden Namen sind charakterische Metamorphosen der Hauptfigur von Schreibphase zu Schreibphase assoziiert, bis der ›Mann ohne Eigenschaften‹ im allerletzten Schreibakt den allerletzten Ausdruck von Identität und Identitätslosigkeit erhält: Phase 1 (1899-1905): Monsigneur le vivisecteur - Robert; Phase 2 (1904-1914): Hugo, Unrod, etc.; Phase 3: Achilles (1918-1920); Phase 4: Anders-Ich (1921-1923); Phase 5: Anders (1923-1928); Phase 6: Ulrich im ersten Buch (1929-1930); Phase 7 (1930-1942): Ulrich im zweiten Buch. Zu Phase 6 [vgl. Fanta 2000, 338-342]:
[2] Eine der prinzipiellen Neufestlegungen vor der Erstellung der Endfassung von Band I betrifft die Änderung des Namens der Hauptfigur zu Ulrich. Bemerkenswerterweise findet sich dafür in Musils Manuskripten keine explizite Begründung, ähnlich wie auch der 1927 erfolgte Schritt, dem Roman den Titel ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ zu geben, nicht durch Notizen dokumentiert ist. Wenngleich nicht auszuschließen ist, dass entsprechende Beschlüsse auf nicht erhaltenem Material notiert worden ist, fügt es sich doch in die Eigenart Musilschen Schaffens, dass manch fundamentale Festlegungen in die Gedanken-Buchführung der ›IE‹- und ›AE‹-Blätter nicht aufgenommen sind. [Sigle IE] [Sigle AE] Der fortgesetzte ›Selftalk‹ des Autors erreicht nicht immer das Medium der Schrift. Erst wo komplexe Gedankengänge ineinandergreifen, wo Gedanke und Gestalt zusammen eine Funktion bilden, wird die organisierte Buchführung über das Ausgedachte unerlässlich. Spuren der Namensänderung sind in den erhaltenen Texten kaum zu entdecken. Der Übergang von Anders zu Ulrich, 1928 vor dem Oktober vollzogen, wirkt höchstens darin nach, dass die ersten erhaltenen Kapitelgruppen-Entwürfe gehäuft den ausgeschriebenen Namen ›Ulrich‹ enthalten und nicht die Abkürzung ›U.‹, die später fast ausschließlich in Gebrauch steht.
[3] In der Änderung des Namens ist eine Positionsverschiebung ausgedrückt, die sich seit dem Abbruch des ›Zwillingsschwester‹-Manuskripts abzeichnet. das Nebeneinander des Namens ›Anders‹ und der Zuschreibung ›Mann ohne Eigenschaften‹ birgt einen Widerspruch. Wer Anders heißt, weil er anders ist, hat eine Eigenschaft, nämlich die des sozialen Außenseiters, der personifizierten Systemkritik; sie äußert sich nicht nur in Reflexion, sondern auch in unangepasstem Verhalten bzw. als oppositionelle Tat. Auf die ursprüngliche Anders-Figur der ›Erlöser‹-Notizen und der ›s‹-Entwürfe trifft diese Bestimmung zu. Für den ›Mann ohne Eigenschaften‹ indes, dessen Unangepasstheit auf seinem Essayismus beruht, einem Leben auf Versuch, das ein Maß an Gesellschaftkonformität voraussetzt, um sich den Luxus des Möglichkeitssinns überhaupt leisten zu können, besitzt das Namensgleichnis ›Anders‹ keine Gültigkeit mehr.
[4] Mit der Umbenennung weist Musil seinem Schreiben die Richtung, den Träger des neuen Namens mit physischen und psychischen Attributen maximalisierter Gesellschaftsfähigkeit auszustatten und seine Negation aller Eigenschaften ein bloßes Reflexionsprinzip ohne Konsequenzen auf der Handlungsebene sein zu lassen. Dass sich die Metamorphosen an der Hauptfigur in diese Richtung bewegen, zeigt der Vergleich der Anders- und der Ulrich-Fassung des ›Aussprache‹-Kapitels. [VII/3/158-175] [VII/3/154-157] [Kapitel 121] Statt der Frechheiten, die Anders Arnheim sagt, steht bei Ulrich, der sich gesellschaftlich angemessener und verbindlicher zu benehmen weiß, der geheime und folgenlose Wunsch, Arnheim zu töten. Aus dem Exzentriker Achilles/Anders wird der Supermann der Möglichkeiten, dessen physischer Ausstrahlung sich keiner entziehen kann, dessen Maximen als Lackmustest für die devianten Wertmaßstäbe und Verhaltensweisen der anderen Figuren dienen.
[5] Es fragt sich dabei, ob auch der ›Mann ohne Eigenschaften‹ Ulrich - wie sein Vorgänger, der ›Spion‹ und ›Erlöser‹ Anders - als Ergebnis einer unbewussten Projektion des Autors anzusprechen ist oder nicht eher als durchdachte Weiterentwicklung desselben zu einem erzählstrategisch wesentlichen figuralen Element, in dem man etwas wie den kalkulierten Vertreter des Autors im Roman erblicken darf. Die Maxime »Ulrich ebenso unsympathisch wie mich zeichnen« [II/1/265] deutet auf Verhaftetheit zwischen Autor und Figur; die der Figur zugeschriebene Eigenschaftslosigkeit auf das psychische Grundbedürfnis Musils, persönlich nicht fassbar zu sein; dazu kommt noch die kompensatorische Funktion der ökonomischen Unbelastetheit Ulrichs im Kontrast zum wachsenden Krisenbewusstseins des Autors, was Geldangelegenheiten betrifft. Von solchen immerhin annehmbaren biographischen Bezügen abgesehen kristallisiert sich eine funktionale Bestimmung Ulrichs als Messlatte zur ethischen Bewertung der anderen Figuren und der ihnen zugeordneten Ideologien bei der Arbeit an der Reinschrift des Ersten Buchs deutlich heraus. »Ich frage mich stets, was sagt, denkt, tut ein Mann ohne Eigenschaften in solchem Fall«. [II/1/265] Das ethisch begründete Desengagement des angepassten Helden Ulrich hebt sich von der in unbegründete Aggressivität umschlagenden Gleichgültigkeit der Achilles/Anders-Figur der Frühphase ab.
[6] Wäre die Charakterisierung von Anders als aktiver Gegner der Ordnung bloß auf die Mitwirkung an der Entführung Moosbruggers und seine - in der Erzählsubstanz vorgesehene, aber unausgeführt gebliebene - Tätigkeit als Spion bezogen, würde der Vergleich mit Ulrich in der Endfassung des Ersten Buchs hinken, denn zum Zeitpunkt der Abfassung steht nicht fest, ob nicht auch Ulrich sich am Befreiungsversuch Moosbruggers aus der Anstalt beteiligen und zuletzt auch noch Spion werden wird. Doch unterscheiden sich Anders und Ulrich schon hinsichtlich der anfänglichen Rolle, die sie innerhalb der Parallelaktion spielen. Während sich nämlich Anders in der Frühphase als Enfant terrible gebärdet und die Exponenten der Parallelaktion zum Teil aufs Heftigste brüskiert, zeigt sich Ulrich, nachdem er sich trotz seines Beschlusses, ein Jahr Urlaub vom Leben zu nehmen, für die Parallelaktion einfangen lassen hat, in seiner Tätigkeit beflissen und gewinnt die Anerkennung sämtlicher Angehöriger des Kreises. In einer Festlegung vom 16.8.1929 mit der Überschrift ›Der Mann ohne Eigenschaften, konsequent durchgeführt‹ listet Musil auf, wie Ulrich von den anderen Figuren des Romans gesehen wird. Jeder projiziert seine eigene Problematik auf Ulrich, wodurch dieser in einem weiteren Sinn eigenschaftslos wird. Eigentlich seien »alle ohne Eigenschaften«, bemerkt Musil, aber an Ulrich werde es »irgendwie sichtbar«. Mit der Aporie »Er ist groß usw. sympathisch, aber doch auch unsympathisch« wird die konsequent durchgeführte Erzählung vom Mann ohne Eigenschaften in einer Formel zusammengefasst. [II/1/265] Durch eine Änderung der erzählperspektivischen Motivierung zur für die Endfassung charakteristischen ironischen Mehrdeutigkeit und konsequenten Suspendierung des Erzähler-Urteils erscheinen sogar Ulrichs gelegentliche Ausritte als »tatkräftig und feurig« (aus der Sicht Graf Stallburgs) und »schon ganz recht« (Graf Leinsdorf zu Ulrichs Vorschlag, ein »Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele« einzurichten); auch das Vertrauen Diotimas vermag sich Ulrich zunehmend zu erwerben. Auch dass sich Ulrich in seinen Frauenbeziehungen im Ersten Buch tatsächlich als sanktifizierte Ausgabe des promiskuitiven Anders herausstellt, sei hier angemerkt. Sowohl Loyalität als auch Sexualabwehr Ulrichs sind nicht nur im Kontrast zum apokryphen Vorläufer zu sehen, sie weisen auch auf das Konträre, das in Band II folgen soll. Die Niederschrift von Band I bildet einen Wendepunkt in der Bearbeitung der Figur: ihre apokryphe Komponente wird in den Romanschluss transferiert.
Mappe I/4
Seite 2,
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 12,
Seite 13,
Seite 14,
Seite 15,
Seite 16,
Seite 18,
Seite 19,
Seite 21
Mappe I/8
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 7,
Seite 8,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 12,
Seite 14,
Seite 15,
Seite 17,
Seite 48,
Seite 49,
Seite 50,
Seite 55,
Seite 56,
Seite 57,
Seite 58,
Seite 59,
Seite 60,
Seite 61,
Seite 62,
Seite 63,
Seite 64,
Seite 65,
Seite 66,
Seite 67,
Seite 68
Mappe II/1
Seite 4,
Seite 9,
Seite 21,
Seite 22,
Seite 23,
Seite 24,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 27,
Seite 28,
Seite 32,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 36,
Seite 37,
Seite 38,
Seite 39,
Seite 40,
Seite 41,
Seite 42,
Seite 45,
Seite 49,
Seite 51,
Seite 64,
Seite 67,
Seite 80,
Seite 82,
Seite 83,
Seite 89,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 93,
Seite 94,
Seite 95,
Seite 96,
Seite 97,
Seite 99,
Seite 100,
Seite 101,
Seite 106,
Seite 107,
Seite 108,
Seite 109,
Seite 110,
Seite 111,
Seite 112,
Seite 113,
Seite 115,
Seite 116,
Seite 117,
Seite 133,
Seite 134,
Seite 135,
Seite 136,
Seite 137,
Seite 140,
Seite 149,
Seite 150,
Seite 154,
Seite 155,
Seite 156,
Seite 157,
Seite 158,
Seite 162,
Seite 164,
Seite 166,
Seite 168,
Seite 169,
Seite 170,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 173,
Seite 174,
Seite 175,
Seite 176,
Seite 177,
Seite 178,
Seite 179,
Seite 180,
Seite 181,
Seite 182,
Seite 184,
Seite 185,
Seite 186,
Seite 187,
Seite 188,
Seite 189,
Seite 190,
Seite 198,
Seite 199,
Seite 201,
Seite 204,
Seite 205,
Seite 206,
Seite 207,
Seite 208,
Seite 209,
Seite 210,
Seite 211,
Seite 212,
Seite 213,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 218,
Seite 219,
Seite 222,
Seite 224,
Seite 225,
Seite 226,
Seite 237,
Seite 241
Mappe II/3
Seite 2,
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5
Mappe II/8
Seite 98,
Seite 99,
Seite 235
Mappe II/9
Seite 3,
Seite 4,
Seite 5,
Seite 6,
Seite 7,
Seite 8,
Seite 9,
Seite 10,
Seite 11,
Seite 17,
Seite 18,
Seite 19,
Seite 20,
Seite 21,
Seite 22,
Seite 23,
Seite 24,
Seite 25,
Seite 26,
Seite 27,
Seite 28,
Seite 29,
Seite 30,
Seite 31,
Seite 32,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 36,
Seite 37,
Seite 38,
Seite 39,
Seite 40,
Seite 41,
Seite 42,
Seite 43,
Seite 44,
Seite 45,
Seite 46,
Seite 47,
Seite 48,
Seite 49,
Seite 50,
Seite 51,
Seite 52,
Seite 53,
Seite 54,
Seite 55,
Seite 56,
Seite 57,
Seite 58,
Seite 59,
Seite 62,
Seite 63,
Seite 64,
Seite 65,
Seite 66,
Seite 68,
Seite 69,
Seite 70,
Seite 71,
Seite 72,
Seite 73,
Seite 74,
Seite 75,
Seite 76,
Seite 77,
Seite 78,
Seite 79,
Seite 80,
Seite 81,
Seite 82,
Seite 83,
Seite 84,
Seite 85,
Seite 86,
Seite 88,
Seite 89,
Seite 90,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 93,
Seite 94,
Seite 95,
Seite 96,
Seite 97,
Seite 98,
Seite 99,
Seite 100,
Seite 101,
Seite 102,
Seite 103,
Seite 105,
Seite 106,
Seite 107,
Seite 108,
Seite 109,
Seite 110,
Seite 111,
Seite 112,
Seite 113,
Seite 114,
Seite 116,
Seite 117,
Seite 118,
Seite 119,
Seite 120,
Seite 121,
Seite 123,
Seite 126,
Seite 129,
Seite 132,
Seite 133,
Seite 134,
Seite 136,
Seite 137,
Seite 138,
Seite 139,
Seite 142,
Seite 143,
Seite 144,
Seite 145,
Seite 146,
Seite 147,
Seite 148,
Seite 149,
Seite 150,
Seite 151,
Seite 152,
Seite 153,
Seite 156,
Seite 157,
Seite 158,
Seite 160,
Seite 161,
Seite 163,
Seite 164,
Seite 165,
Seite 166,
Seite 167,
Seite 168,
Seite 169,
Seite 170,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 173
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 8,
Seite 11,
Seite 18,
Seite 20,
Seite 21,
Seite 24,
Seite 26,
Seite 28,
Seite 29,
Seite 30,
Seite 31,
Seite 32,
Seite 33,
Seite 34,
Seite 35,
Seite 36,
Seite 37,
Seite 38,
Seite 39,
Seite 41,
Seite 42,
Seite 44,
Seite 45,
Seite 46,
Seite 49,
Seite 50,
Seite 51,
Seite 52,
Seite 53,
Seite 58,
Seite 63,
Seite 64,
Seite 65,
Seite 66,
Seite 67,
Seite 68,
Seite 69,
Seite 70,
Seite 71,
Seite 72,
Seite 73,
Seite 75,
Seite 76,
Seite 77,
Seite 78,
Seite 80,
Seite 81,
Seite 82,
Seite 83,
Seite 84,
Seite 85,
Seite 86,
Seite 89,
Seite 91,
Seite 93,
Seite 94,
Seite 96,
Seite 97,
Seite 99,
Seite 100,
Seite 121,
Seite 122,
Seite 124,
Seite 125,
Seite 126,
Seite 127,
Seite 128,
Seite 129,
Seite 130,
Seite 132,
Seite 133,
Seite 134,
Seite 135,
Seite 137,
Seite 138,
Seite 141,
Seite 142,
Seite 143,
Seite 144,
Seite 145,
Seite 146,
Seite 148,
Seite 150,
Seite 151,
Seite 152,
Seite 153,
Seite 155,
Seite 156,
Seite 157,
Seite 158,
Seite 159,
Seite 160,
Seite 161,
Seite 162,
Seite 165,
Seite 167,
Seite 171,
Seite 172,
Seite 173,
Seite 174,
Seite 175,
Seite 176,
Seite 177,
Seite 178,
Seite 179,
Seite 180,
Seite 181,
Seite 183,
Seite 184,
Seite 185,
Seite 186,
Seite 187,
Seite 190,
Seite 194,
Seite 196,
Seite 199,
Seite 200,
Seite 201,
Seite 203,
Seite 204,
Seite 205,
Seite 206,
Seite 207,
Seite 208,
Seite 209,
Seite 212,
Seite 213,
Seite 214,
Seite 216
Mappe VII/14
Seite 4,
Seite 29,
Seite 30,
Seite 33,
Seite 34
Jugendfreund und Künstlergatte 1. Gustav Donath, Gustl 2. Walther, Walter = G = W
[1] »Ein Versuch, den ich 2 x machte, die Geschichte dreier Personen zu schreiben, in dem Walter, Clarisse und Ulrich deutlich vorgebildet sind, endete nach einigen Seiten in nichts« schreibt Musil in seinem Vermächtnis Ende 1932 retrospektiv. [I/7/36] Im Nachlass findet sich als Zeugnis für diese beiden ersten Versuch die Figur Gustl der Vorarbeit zum Roman in Heft 3 und Heft 4. In ihr ist unschwer der Freund aus Brünner Schulferien- und Studentenzeiten Gustav Donath zu erkennen, es besteht in diesen Niederschriften eine relativ große Unmittelbarkeit und Nähe zu realen Geschehnissen, obwohl von allem Anfang an Literarisierung eine Rolle spielt. Donaths eigene literarische Version der Dreieckskonstellation um Alice Charlemont mit Rudolf Sieczynski in seinem Nachlass-Drama ›Durbin und Celenie‹ (entstanden 1904?) lässt sich auf dieselben Vorgänge beziehen wie Musils erste Entwürfe zu dem Stoff. Im Zeitraum von Juni 1904 bis März 1906 skizziert Musil die unterschiedlich verlaufenden erotischen Selbstfindungversuche des sinnlichen Robert und idealistischeren Gustl [Heft 4/101-125], der das »Märchen [...] von Clarisse« erzählt. [Heft 4/103] Von März 1905 bis Mitte 1906 entsteht ein Text, der die älteste Version der Vorgeschichte der Ehe Donath bis zur Verlobung in einem berichtenden Stil enthält [Heft 3/45-58]. Vom Bild der realen Person Gustav Donath, mit der Musil bis 1912 in relativ engem Kontakt steht, löst sich Schritt für Schritt die Gustl-Figur der Romannotizen ab, als das mittelmäßigere Alter ego der in jeder Beziehung radikaleren Figur Robert, Hugo usw., die in dem zu schreibenden Roman den Autor vertreten soll.
[2] Durch die Weltkriegspause und indem der persönliche Kontakt mit Gustl Donath, mittlerweile von Alice geschieden und neu verheiratet, keine rechte Fortsetzung mehr findet, wird die Literarisierung der Substanz, d.h. ihr Materialcharakter für den Roman, gefördert. Dass Musil die Geschichte dreier Personen in das neue Romanprojekt der Nachkriegszeit mit dem Arbeitstitel Der Spion (1919-1921) aufzunehmen beabsichtigt, führt zunächst dazu, dass er seine alten Unterlagen archiviert. Er fügt Bemerkungen in die Vorkriegs-Hefte ein und verfertigt Exzerpte aus ihnen; das Material über Gustl und Alice wird auf Blätter und Zettel übertragen. [Vgl. Sigle AN] [Sigle B] [Sigle C] Die Schreibung des Namens von Clarisses Ehemann ist zunächst Walther, erst in späteren Produktionsabschnitten (ca. 1929) wird sie orthographisch zu Walter geändert. Aus Walther (= im Heer waltend) leitet sich möglicherweise die spätere Namensfindung Ulrich (= an allem reich) ab, etymologisch ähnlich ist in beiden Namen der Anspruch auf Kontrolle bzw. Bedeutung ausgedrückt. Der junge Musil hat den Namen Walt(h)er schon einmal für eine Figur eingesetzt, die in der Fiktion den Autor vertritt: Walther Grauauge in dem Fragment Grauauges nebligster Herbst (1908).
[3] Clarisses Mann erscheint als Doppelgänger bzw. Gegenspieler des aggressiv die Welt des Vates leugnenden Anti-Helden Achilles/Anders, des Verbrechers und Erlösers, der in dem frühen Stadium des Romans all das vertritt, wozu der Autor selbst »Vernunft- und Überzeugungshemmungen« hat. [Heft 8/116] Die Rolle des Antagonisten ist in Texten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg schon vorgebildet. Zunächst gilt dies auf der erotischen Ebene: in der Vorarbeit ist von sexueller Kumpanei, von Beichten Gustls und von Roberts moderner im Gegensatz zu Gustls romantischer »Sinnlichkeit« die Rede. [Heft 3/62] Im ›Spion‹ wird diese Struktur zum erotischen Dreieck mit Clarisse erweitert. In den C-Blättern sind mehrere direkte Verführungs-Situationen zwischen Clarisse und Anders beschrieben. Diese Form der Erotizität in der Konstellation Anders-Clarisse lässt sich in Texten aus der Zeit vor Krieg noch nicht auffinden; sie liefert die Begründung für den Rest von Rücksichtnahme in Anders´ Verhalten gegen den zum Gegner mutierten einstigen Freund, eine »Verbundenheit, um Hemmungen für Ehebruch zu schaffen«. [VII/6/239] Die »Unterschiede Anders Walther« [Registerheft 61] entwickelt Musil u.a. in nachträglichen Eintragungen in ältere Exzerpte (1905) zur Lebensreform-Bewegung: Kritische und originelle (Anders) werden von eklektischen und sentimentalen Haltungen (Walther) unterschieden. [Heft 11/30] Aus der Erinnerung prägt sich das Bild von Walther als »Goethemensch, dem wahrhaftig bei allem ein Goethespruch einfällt«. [Heft 8/8] Der gläubige Eklektizismus Walthers wird zum Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Riege weiterer satirischer Zeitfiguren für das Romanprojekt. In der fortgesetzten kreativen Beschäftigung der Fantasie des Autors mit der Welt seiner Figuren unterliegt Walther, das einstige Gegenüber einer erinnerten und weiterentwickelten kunst- und lebensphilosophischen Debatte, dem Zug zur Verwandlung in einen fiktiven Gesprächspartner. In der fiktiven Debatte verliert Walther die Position eines potenten Gegenübers, die Donath teilweise noch besessen hat. 1920 stellt Musil Überlegungen an, gerade den unvollkommenen Walther als partielle Ersatzfigur für den allzu heldischen Achilles einzusetzen: »Wenn man Achilles mit seinen Lächerlichkeiten zeichnet [...], dann darf man ihn auch körperlich nur halbstark machen. [...]. Aber diese Episoden vielleicht Walther geben oder dem Archivar. (Oder sind die eins?)« [Heft 8/84] Achilles' Schwächen würden an Walther delegiert, die Episoden der Jugendgeschichte Gustls und Roberts mit ihren Lächerlichkeiten wären allein dieser Figur zuzuordnen. Wenn Walther auch noch die Funktion der in dieser Periode wichtigen Figur des Archivars übernähme, die eindeutig autobiographisch besetzt ist, ergäbe sich eine Aufspaltung zwischen einer heldischen Ich-Projektion - Achilles - und dem Dilettanten und Bürokraten, der zu sein Musil mitunter fürchtet - Walther. Die Donath-Figur gerinnt schließlich zum Hauptvertreter der Mediokrität mit karikaturesken Zügen (wie sie auch weitere Figuren erhalten). »Walther will zum Durchschnitt einlenken - der Durchschnitt will zurück zur Phantasie - ich verwirkliche beide« [IV/3/339] und: »Walther. Es ist unerhört schwer, nichts zu erreichen, wenn man kein Talent hat«. [II/1/244] Zu Walthers Beruf überlegt Musil: »Da Anders Mathematiker, kann Walther Dichter sein. Rückt ihn mehr vom Modell ab«. [Heft 36/40] Damit ist der Weg der Umwandlung des Jugendfreunds in die Figur umrissen.
[4] Bei der konzeptionellen Arbeit 1923-1928 bleibt die wichtige Rolle Walt(h)ers für den Gesamtaufbau des Romans gewahrt. Erst in der Zwillingsschwester der Kampf um Clarisse, dann in den Kapitelgruppen der Kampf um das Genie bilden den Gegenstand dieser den Roman mit-strukturierenden Auseinandersetzung, mit der bis 1936 beibehaltenen letzten »Abrechnung« zwischen Ulrich und Walter. [z.B. I/5/109] Zu der bedeutenden Funktion Walters gehört auch, dass er es ist, der in der Endfassung Ulrich das Prädikat ›Mann ohne Eigenschaften‹ zuordnen wird. [Kapitel 1/17] In den Entwürfen für das Kapitel 118 wird Walter von seiner konträren Sexualideologie und Künstlerauffassung her als Gegenfigur zu Ulrich weiter entwickelt, im Motto »Kind statt Buch« [VII/6/346] gegen das Sich-Eher-Töten-als-Schreiben-Wollen Ulrichs. Die ›Demonstration‹ bildet dem Aufbau von 1928 zufolge den Schnittpunkt der Beziehungen zwischen Walter, Ulrich und Arnheim, den drei Figuren, die durch die Isotopie ›geistiges Schaffen versus Leben‹ eng miteinander verbunden sind. Walter strebt aus der Sackgasse angemaßter Genialität in ein bürgerliches Normalleben, Anders verwirft das Normalleben und strebt nach einem gesteigerten Anders-Sein, Arnheim erschwindelt, wider besseres Wissen, eine Synthese. Das Tiersymbol, das Walter zugeordnet ist, ist der Fisch, mit der Bedeutung, »dass die Anziehung der Fische usw. die stupide ruhige und geheimnisvoll schleirig gleitende Bürgerlichkeit bedeutet, nach der er sich sehnt und vor der er sich fürchtet«. [VII/6/134] [Kapitel 1/118]
Mappe II/1
Seite 25,
Seite 26,
Seite 27,
Seite 91,
Seite 92,
Seite 154,
Seite 155,
Seite 158,
Seite 159,
Seite 189,
Seite 199,
Seite 200,
Seite 212,
Seite 216,
Seite 217,
Seite 224
Mappe II/9
Seite 51
Mappe VII/1
Seite 1,
Seite 29,
Seite 85,
Seite 98,
Seite 123,
Seite 132,
Seite 148,
Seite 159,
Seite 167,
Seite 185,
Seite 204,
Seite 214