Die Wahrheit ist / Das eigentlich / zutiefst / Hemmende an diesem Hindernis ist / daß sie auf einer morschen u veralteten - wenigstens derzeit ist sie so beschaffen - Grundlage ausruht; auf einer unzeitgemäßen Form des Denkens.
Wenn der berüchtigte Ziegel vom Dach einem Menschen auf den Kopf fällt, so weiß jedermann, es geschah, weil dieser Mensch gerade vorbeiging als amsich vom Dach gerade der Ziegel loslöste; man weiß auch ungefährglaubt - zu wissen, welche Ursachen das eine wie das andere hatte, d.h. man sagt: dieser Mann wollte aus seinem Geschäft nach Hause gehtn u. dieser Ziegel ist durch Wind und Wetter lose geworden. Weniger sicher ist die Antwort schon auf die Frage, warum dieser Mann nach Hause ging. Wahrscheinlich war es so gewohnt; es kann aber auch sein, daß er nur eine Minute später nach Hause ging als sonst oder daß es mit seinem Nachhausegehn zeitlich nie auf die Minute genau bestellt war, und dann bleibt das Zusammentreffen mit dem Ziegel ein Zufall oder ein Schicksal. Gar vom Ziegel her ist es das wohl immer. Wenn das Dach nicht gerade ausgebessert wird und dabei ein Verstoß gegen die polizeilichen Vorschriften zum Schutz Vorübergehender unterläuft, so ist es eitel Scheinbefriedigung von einer Ursache zu reden, denn die Sekunde, wann sich ein Ziegel aus seinem Gefüge löst, wann das Seil eines Aufzugs reißt, wann ein Pilot die Herrschaft über sein Flugzeug verliert, das wissen die Götter, und nicht die Menschen. Die Menschen wissen dafür etwas anderes: die Regel oder das Gesetz. Sie kennen die Gesetze der Physik u Chemie u. ein wenig auch die der Psychologie. Gesetze haben
Die Wahrheit ist / Das eigentlich / zutiefst / Hemmende an diesem Hindernis ist / daß sie auf einer morschen u veralteten - wenigstens derzeit ist sie so beschaffen - Grundlage ausruht; auf einer unzeitgemäßen Form des Denkens.
Wenn der berüchtigte Ziegel vom Dach einem Menschen auf den Kopf fällt, so weiß jedermann, es geschah, weil dieser Mensch gerade vorbeiging als amsich vom Dach gerade der Ziegel loslöste; man weiß auch ungefährglaubt - zu wissen, welche Ursachen das eine wie das andere hatte, d.h. man sagt: dieser Mann wollte aus seinem Geschäft nach Hause gehtn u. dieser Ziegel ist durch Wind und Wetter lose geworden. Weniger sicher ist die Antwort schon auf die Frage, warum dieser Mann nach Hause ging. Wahrscheinlich war es so gewohnt; es kann aber auch sein, daß er nur eine Minute später nach Hause ging als sonst oder daß es mit seinem Nachhausegehn zeitlich nie auf die Minute genau bestellt war, und dann bleibt das Zusammentreffen mit dem Ziegel ein Zufall oder ein Schicksal. Gar vom Ziegel her ist es das wohl immer. Wenn das Dach nicht gerade ausgebessert wird und dabei ein Verstoß gegen die polizeilichen Vorschriften zum Schutz Vorübergehender unterläuft, so ist es eitel Scheinbefriedigung von einer Ursache zu reden, denn die Sekunde, wann sich ein Ziegel aus seinem Gefüge löst, wann das Seil eines Aufzugs reißt, wann ein Pilot die Herrschaft über sein Flugzeug verliert, das wissen die Götter, und nicht die Menschen. Die Menschen wissen dafür etwas anderes: die Regel oder das Gesetz. Sie kennen die Gesetze der Physik u Chemie u. ein wenig auch die der Psychologie. Gesetze haben
Signatur: Cod. Ser. n. 15110
2 Konvolute (davon 1 mit Umschlag); 35 Blätter; 77 beschriebene Seiten; 6 Zeitungsausschnitte
Die Bezeichnung »Mappe Schreibtisch zuletzt (Diotima, Arnheim)« bezieht sich auf Musils Arbeitssituation am Mann ohne Eigenschaften im Sommer 1932. Offenbar hatte er die Manuskripte in ihr belassen, als er im September 1932 seinen Arbeitsurlaub in dem Ostseebadeort Brunshaupten abbrach, um nach Berlin zurück zu kehren. Der Schreibprozess, den der Mappeninhalt im Ausschnitt dokumentiert, nämlich die Niederschrift von Band 2/1 des Mann ohne Eigenschaften, war zu diesem Zeitpunkt praktisch abgeschlossen. Vorstufen finden sich in Form von Entwürfen aus den zwanziger Jahren, kapitelübergreifenden Planungsnotizen und Schmierblättern zu verschiedenen Kapiteln, die primär nicht dem Ulrich-Agathe-Komplex angehören; so auch das Exzerpt »Diotima-Lazarsfeld«, Musil hatte bereits im Frühsommer 1931 ein Buch der Sexualforscherin Sophie Lazarsfeld für Kapitel 2/17 des Romans exzerpiert. Die Materialien reichen inhaltlich über das Ende von Band 2/1 hinaus und umfassen auch Vorstufen zum Nationen-Kapitel, das 1932 noch einen Bestandteil der Sitzungs-Kapitel (Kapitel 2/35-38) bildete.
Robert Musil, Schreibtisch zuletzt D-Ah (Diotima, Arnheim) : Mappe VII/14, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15110-07-14/methods/sdef:TEI/get?mode=p_30
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