schmale Brust zwischen Schultern, die breitknochig waren, und trug scharfe
Brillengläser. Diese sehr scharfen Brillen waren die Schönheit in dem Gesicht, das
eine fahle, fette, schlecht durchblutete Haut hatte; in harten Nächten über
Büchern u Pflichtarbeiten notwendig geworden, und geschärft durch Armut, der nicht
gleich bei den ersten Anzeichen ein Arzt zur Verfügung stand, gestanden
hatte, war die scharfe Brille für Schmeißers einfaches Gefühl zu einem Sinnbild
der Selbstbefreiung geworden: wenn er sein finniges Gesicht mit der gesattelten
Nase und den proletarisch spitzen Wangen, von ihr überglänzt, im Spiegel
erblickte, erschien es ihm als die vom Geist gekrönte Armut, und besonders oft
geschah das, seit er wider Willen Agathe von ferne bewunderte. Seither haßte er
auch den athletisch gebauten Ulrich, den er früher wenig beachtet hatte, und
dieser las nun seine Verdammung in den Brillengläsern und kam sich plaudernd wie
ein spielendes Kind vor zwei Kanonenrohren vor. Als er geendet hatte, antwortete
ihm Schmeißer, mit Lippen, die sich vor Wohlgefallen an dem, was sie sagten, kaum
von einander trennen konnten: "Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir
kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel!" Da hatte es nun der Bourgeois! Es war
schwer für Ulrich nach dieser Ablehnung noch weitere Worte zu finden, aber er ging
den Gegner gerade an und sagte schließlich lachend: "Wenn ich der wäre, für den
Sie mich halten, sollten Sie mir Gift in die Wasserleitung tun oder die Bäume
ansägen, unter denen ich lustwandle: warum wollen sie dasso etwas nicht in einem Falle tun, wo es vielleicht wirklich am Platz
wäre?" "Sie haben keine Ahnung, worauf es in der Politik
ankommt!," erwiderte Schmeißer. "Denn Sie sind ein
sozialromantischer Bürger, bestenfalls ein Individualanarchist! Ernsthafte
Revolutionäre denken nicht an blutige Revolutionen!" Seither hatte U Ulrich
. öfter kleine Unterhaltungen mit
seinem Nachbarndiesem Revolutionär, der keine Revolution machen wollte. "Daß über kurz
oder lang die Menschheit in irgendeiner
Form sozialistisch organisiert sein wird," sagte er ihm "das habe ich schon als
Ulanen Kavallerieleutnant gewußt; es ist sozusagen die letzte
Chance, die ihr Gott gelassen hat. Denn der Zustand, daß Millionen Menschen auf
das roheste unterdrücktherinabgedrückt werden, damit
tausende mit der Macht, die ihnen daraus erwächst, doch nichts
Hohes anzufangen wissen, dieser Zustand ist nicht nur
bloß ungerecht und verbrecherisch, sondern auch dumm, unzweckmäßig und
selbstmörderisch!"
schmale Brust zwischen Schultern, die breitknochig waren, und trug scharfe
Brillengläser. Diese sehr scharfen Brillen waren die Schönheit in dem Gesicht, das
eine fahle, fette, schlecht durchblutete Haut hatte; in harten Nächten über
Büchern u Pflichtarbeiten notwendig geworden, und geschärft durch Armut, der nicht
gleich bei den ersten Anzeichen ein Arzt zur Verfügung stand, gestanden
hatte, war die scharfe Brille für Schmeißers einfaches Gefühl zu einem Sinnbild
der Selbstbefreiung geworden: wenn er sein finniges Gesicht mit der gesattelten
Nase und den proletarisch spitzen Wangen, von ihr überglänzt, im Spiegel
erblickte, erschien es ihm als die vom Geist gekrönte Armut, und besonders oft
geschah das, seit er wider Willen Agathe von ferne bewunderte. Seither haßte er
auch den athletisch gebauten Ulrich, den er früher wenig beachtet hatte, und
dieser las nun seine Verdammung in den Brillengläsern und kam sich plaudernd wie
ein spielendes Kind vor zwei Kanonenrohren vor. Als er geendet hatte, antwortete
ihm Schmeißer, mit Lippen, die sich vor Wohlgefallen an dem, was sie sagten, kaum
von einander trennen konnten: "Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir
kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel!" Da hatte es nun der Bourgeois! Es war
schwer für Ulrich nach dieser Ablehnung noch weitere Worte zu finden, aber er ging
den Gegner gerade an und sagte schließlich lachend: "Wenn ich der wäre, für den
Sie mich halten, sollten Sie mir Gift in die Wasserleitung tun oder die Bäume
ansägen, unter denen ich lustwandle: warum wollen sie dasso etwas nicht in einem Falle tun, wo es vielleicht wirklich am Platz
wäre?" "Sie haben keine Ahnung, worauf es in der Politik
ankommt!," erwiderte Schmeißer. "Denn Sie sind ein
sozialromantischer Bürger, bestenfalls ein Individualanarchist! Ernsthafte
Revolutionäre denken nicht an blutige Revolutionen!" Seither hatte U Ulrich
. öfter kleine Unterhaltungen mit
seinem Nachbarndiesem Revolutionär, der keine Revolution machen wollte. "Daß über kurz
oder lang die Menschheit in irgendeiner
Form sozialistisch organisiert sein wird," sagte er ihm "das habe ich schon als
Ulanen Kavallerieleutnant gewußt; es ist sozusagen die letzte
Chance, die ihr Gott gelassen hat. Denn der Zustand, daß Millionen Menschen auf
das roheste unterdrücktherinabgedrückt werden, damit
tausende mit der Macht, die ihnen daraus erwächst, doch nichts
Hohes anzufangen wissen, dieser Zustand ist nicht nur
bloß ungerecht und verbrecherisch, sondern auch dumm, unzweckmäßig und
selbstmörderisch!"
Signatur: Cod. Ser. n. 15068
29 Blatt, 67 Seiten, 4 Konvolute
Die Mappe enthält Materialien zur Fortsetzung des ›Mann ohne Eigenschaften‹ nach der Teilveröffentlichung des Zweiten Buchs von 1932. Musil konzentrierte diese Fortsetzung in einer Entwurfsfolge mit der ›Sigle H‹ = ›Handschrift‹ (Fortsetzungshandschrift, Zweite Fassung, H 3 = Mappe I/7). Das daraus stammende Konvolut ›H 401-435‹ ist zusammen mit weiteren ersten Entwürfen von 1933 in die Mappe VII/9 gelangt. Eine Neufassung des Manuskripts (H 425-445) von 1934 aber bildet den Schwerpunkt des vorliegenden ›alten blauen Faszikels‹, in den auch das aktuelle Kapitelverzeichnis der Romanfortführung eingelegt wurde. Dazu kommen drei weitere unfertige Kapitelentwürfe von 1933/1934 aus älteren Kapitelprojekten zur Parallelaktions- und Rahmenerzählung, noch in keine endgültige Kapitelsukzession gereiht. Teils liefern die Entwürfe Vorstufen der Druckfahnenkapitel von Ende 1937, teils bleiben sie außerhalb des später angestrebten Erzählkontinuums.
Robert Musil, Altes blaues Faszikel (a. bl. Fa.) : Mappe I/8, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15068-01-08/methods/sdef:TEI/get?mode=p_50
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