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S 3.

Und Schmeißer erwiderte ihm höhnisch: "Aber Sie haben sich immer damit begnügt, das zu wissen?! Nicht wahr? Manchmal haben Sie zu mir Das ist der bürgerliche Intellektuelle! Sie haben mir einigemal zu mir von einem Bankdirektor gesprochen, mit dem Sie befreundet sind: ich versichere Ihnen, dieser Bankdirektor ist mein Feind, ich bekämpfe ihn, ich weise ihm nach, daß seine Überzeugungen nur Vorwände für seinen Profit sind, aber er hat doch wenigstens Überzeugungen! Er sagt ja, wo ich nein sage! Dagegen Sie? In Ihnen hat sich alles schon aufgelöst, in Ihnen hat sich die bürgerliche Lüge bereits zu zersetzen begonnen!" Friedlich räumte Ulrich ein: "Es mag sein, daß meine Art zu denken bürgerlicher Herkunft ist; für einen Teil ist das sogar wahrscheinlich. Aber: Inter faeces et urinam nascimur – warum nicht auch unsere Meinungen? Was beweist das gegen ihre Richtigkeit?!" Denn wenn Ulrich so sprach, höflichen Geistes, konnte Schmeißer nie an sich halten und zerbarst jedesmal von neuem: "Alles, was Sie sagen, entspringt der sittlichen Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft!" verkündete er dann oder etwas Ähnliches, denn er haßte nichts so sehr wie die vernunftwidrige Form der Güte, die an der Liebenswürdigkeit ist; ja die Form überhaupt, selbst die der Schönheit, war ihm verdächtig. Niemals nahm er darum auch eine der Einladungen Ulrichs an und ließ sich höchstens mit Tee und Zigaretten bewirten wie in russischen Romanen. Ulrich liebte es, ihn zu reizen, obwohl diese Gespräche völlig sinnlos waren. Er fühlte keine Teilnahme an der Politik. Seit dem Freiheitsjahr Achtundvierzig und der Gründung des Deutschen Reichs, Ereignissen, deren sich nur noch eine Minderheit persönlich erinnerte, erschien wohl der Mehrzahl der Gebildeten Politik eher als ein Atavismus denn als eine Hauptsache. Fast an nichts war zu erkennen, daß sich hinter diesen gewohnheitsmäßig weitergeführtengehenden äußeren Vorgängen die geistigen schon auf jene Entstaltung vorbereiteten, auf jene Untergangsbereitschaft und aus Überdruß an sich selbst entstehende Selbstmordwilligkeit, die einen Zustand weich machen und wahrscheinlich immer die passive Vorbedingung der Zeitabschnitte gewaltsamer politischer Veränderungen bilden. So war auch Ulrich durch sein ganzes Leben daran gewöhnt worden, von der Politik nicht zu erwarten, daß sie das vollbringe, was geschehen müßte, sondern bestenfalls das, was längst schon hätte geschehen sein sollen. Das Bild, unter dem sie sich ihm darbot, war meistens das einer verbrecherischen Nachlässigkeit.

Legende
ABC: Streichung ABC: HinzufügungABC: Textvariante : Abkürzung, BegriffserklärungABC: Autorenkommentar
Datierung
Datierungsabschnitt 7-3: März 1934 - Mitte 1934
Notizen zur Reinschrift: NR 1-15 + dazugehörige Entwürfe H-Zweitfassung [Umfang: 216 Seiten]
Übergeordnete Einheit: Datierungsabschnitt 7: Zwischenfortsetzung Band II, Teil 1
Datierungsmethode: Datierungsabschnitt
Objektbeschreibung
Angaben zum Blatt: Kanzleiblatt cremefarben
Maße: 210x325mm
Typ des Blatts
Entwurfsfragment
Tinte schwarz
Entwurfsfragmente sind für die spätere Produktionsphase des "Mann ohne Eigenschaften" typisch (1933-1942). Es handelt sich um Zeugnisse der Umschreibprozeduren, in der Regel in Form unvollständiger Kapitelentwürfe, die keinen fixen Kapiteltitel und keine fixe Kapitelnummer haben; sie sind stark korrigiert und mit Notizen versehen.
Bezug
Der Mann ohne Eigenschaften
Fortsetzung 1933-1936 | Parallelaktion | Unterhaltungen mit Schmeißer | Stufe 15
Siglen
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S 3.

Und Schmeißer erwiderte ihm höhnisch: "Aber Sie haben sich immer damit begnügt, das zu wissen?! Nicht wahr? Manchmal haben Sie zu mir Das ist der bürgerliche Intellektuelle! Sie haben mir einigemal zu mir von einem Bankdirektor gesprochen, mit dem Sie befreundet sind: ich versichere Ihnen, dieser Bankdirektor ist mein Feind, ich bekämpfe ihn, ich weise ihm nach, daß seine Überzeugungen nur Vorwände für seinen Profit sind, aber er hat doch wenigstens Überzeugungen! Er sagt ja, wo ich nein sage! Dagegen Sie? In Ihnen hat sich alles schon aufgelöst, in Ihnen hat sich die bürgerliche Lüge bereits zu zersetzen begonnen!" Friedlich räumte Ulrich ein: "Es mag sein, daß meine Art zu denken bürgerlicher Herkunft ist; für einen Teil ist das sogar wahrscheinlich. Aber: Inter faeces et urinam nascimur – warum nicht auch unsere Meinungen? Was beweist das gegen ihre Richtigkeit?!" Denn wenn Ulrich so sprach, höflichen Geistes, konnte Schmeißer nie an sich halten und zerbarst jedesmal von neuem: "Alles, was Sie sagen, entspringt der sittlichen Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft!" verkündete er dann oder etwas Ähnliches, denn er haßte nichts so sehr wie die vernunftwidrige Form der Güte, die an der Liebenswürdigkeit ist; ja die Form überhaupt, selbst die der Schönheit, war ihm verdächtig. Niemals nahm er darum auch eine der Einladungen Ulrichs an und ließ sich höchstens mit Tee und Zigaretten bewirten wie in russischen Romanen. Ulrich liebte es, ihn zu reizen, obwohl diese Gespräche völlig sinnlos waren. Er fühlte keine Teilnahme an der Politik. Seit dem Freiheitsjahr Achtundvierzig und der Gründung des Deutschen Reichs, Ereignissen, deren sich nur noch eine Minderheit persönlich erinnerte, erschien wohl der Mehrzahl der Gebildeten Politik eher als ein Atavismus denn als eine Hauptsache. Fast an nichts war zu erkennen, daß sich hinter diesen gewohnheitsmäßig weitergeführtengehenden äußeren Vorgängen die geistigen schon auf jene Entstaltung vorbereiteten, auf jene Untergangsbereitschaft und aus Überdruß an sich selbst entstehende Selbstmordwilligkeit, die einen Zustand weich machen und wahrscheinlich immer die passive Vorbedingung der Zeitabschnitte gewaltsamer politischer Veränderungen bilden. So war auch Ulrich durch sein ganzes Leben daran gewöhnt worden, von der Politik nicht zu erwarten, daß sie das vollbringe, was geschehen müßte, sondern bestenfalls das, was längst schon hätte geschehen sein sollen. Das Bild, unter dem sie sich ihm darbot, war meistens das einer verbrecherischen Nachlässigkeit.

Legende
ABC: Streichung ABC: HinzufügungABC: Textvariante : Abkürzung, BegriffserklärungABC: Autorenkommentar
Datierung
Datierungsabschnitt 7-3: März 1934 - Mitte 1934
Notizen zur Reinschrift: NR 1-15 + dazugehörige Entwürfe H-Zweitfassung [Umfang: 216 Seiten]
Übergeordnete Einheit: Datierungsabschnitt 7: Zwischenfortsetzung Band II, Teil 1
Datierungsmethode: Datierungsabschnitt
Objektbeschreibung
Angaben zum Blatt: Kanzleiblatt cremefarben
Maße: 210x325mm
Typ des Blatts
Entwurfsfragment
Tinte schwarz
Entwurfsfragmente sind für die spätere Produktionsphase des "Mann ohne Eigenschaften" typisch (1933-1942). Es handelt sich um Zeugnisse der Umschreibprozeduren, in der Regel in Form unvollständiger Kapitelentwürfe, die keinen fixen Kapiteltitel und keine fixe Kapitelnummer haben; sie sind stark korrigiert und mit Notizen versehen.
Bezug
Der Mann ohne Eigenschaften
Fortsetzung 1933-1936 | Parallelaktion | Unterhaltungen mit Schmeißer | Stufe 15
Siglen

Signatur: Cod. Ser. n. 15068

29 Blatt, 67 Seiten, 4 Konvolute

Die Mappe enthält Materialien zur Fortsetzung des ›Mann ohne Eigenschaften‹ nach der Teilveröffentlichung des Zweiten Buchs von 1932. Musil konzentrierte diese Fortsetzung in einer Entwurfsfolge mit der ›Sigle H‹ = ›Handschrift‹ (Fortsetzungshandschrift, Zweite Fassung, H 3 = Mappe I/7). Das daraus stammende Konvolut ›H 401-435‹ ist zusammen mit weiteren ersten Entwürfen von 1933 in die Mappe VII/9 gelangt. Eine Neufassung des Manuskripts (H 425-445) von 1934 aber bildet den Schwerpunkt des vorliegenden ›alten blauen Faszikels‹, in den auch das aktuelle Kapitelverzeichnis der Romanfortführung eingelegt wurde. Dazu kommen drei weitere unfertige Kapitelentwürfe von 1933/1934 aus älteren Kapitelprojekten zur Parallelaktions- und Rahmenerzählung, noch in keine endgültige Kapitelsukzession gereiht. Teils liefern die Entwürfe Vorstufen der Druckfahnenkapitel von Ende 1937, teils bleiben sie außerhalb des später angestrebten Erzählkontinuums.

Zitiervorschlag

Robert Musil, Altes blaues Faszikel (a. bl. Fa.) : Mappe I/8, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15068-01-08/methods/sdef:TEI/get?mode=p_51

Lizenzhinweis

Weitere Informationen entnehmen Sie den Lizenzangaben.

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