Was verstehst du z.b. unter Liberalismus?" – mit diesen Worten wandte er sich nun
wieder an U. Ulrich
, u. beantwortete
die Frage gleich selbstwartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr neuerlich fort: "Ich meine
halt so, daß man die Leute sich selbst überläßt. Das hat man seit dem Jahr 48 versucht, aber ... Und es wird dir
natürlich auch aufgefallen sein, daß das jetzt aus der Mode kommt. Es ist ein
Pallawatsch daraus entstanden,
wie man so sagt. Aber ist es nur das? Mir kommt vor, die Leute wollen noch etwas.
Sie sind nicht mit sich zufrieden. Ich ja auch; ich war früher ein liebenswürdiger
Mensch. Man hat eigentlich nichts getan, aber man war mit sich zufrieden. Der
Dienst war nicht schlimm, und außer Dienst hat man Ekarté gespielt oder ist auf
die Jagd gefahren, und bei dem allen war eine gewisse Kultur. Eine gewisse
Einheitlichkeit. Kommt es dir nicht auch so vor? Und warum ist das heute nicht
mehr so? Ich glaube, soweit ich nach mir urteilen darf, man fühlt sich zu
gescheit. Will man ein Schnitzel essen, so fällt einem ein, daß es Leute gibt, die
keins haben. Steigt einer einem schönen Mäderl nach, so fahrt ihm plötzlich durch
den Kopf, daß er eigentlich über die Beilegung irgendeines Konflikts nachzudenken
hätte. Das ist eben der unleidliche Intellektualismus, den man heute niemals los
wird, und darum geht es nirgends vorwärts. Und ohne es selbst zu wissen, wollen
die Leute wieder etwas. Das heißt also, sie wollen nicht mehr einen komplizierten
Intellekt, sie wollen nicht tausend Möglichkeiten zu leben: sie wollen mit dem
zufrieden sein, was sie ohnehin tun, und dazu braucht es einfach wieder einen
Glauben oder eine Überzeugung oder – also, wie soll man das bezeichnen, was sie
dazu brauchen,? Zu dieser Frage möchte ich jetzt deine Meinung hören!"
Aber das war nur Selbstgenuß des lebhaft angeregten Stumm, denn ehe U. Ulrich
auch nur das Gesicht verziehen
konnte, kam schon die Antwortseine Überraschung: "Man kann es natürlich ebensogut Glauben wie
Überzeugung nennen, aber ich habe viel darüber nachgedacht und nenne es lieber:
Eingeistigkeit!"
Stumm machte eine Pause, die der Einnahme des Beifalls dienen sollte, ehe er weiteren Einblick in seine Geisteswerkstatt gab, und dann mischte sich in den gewichtigen Ausdruck seines Gesichts noch ein ebensowohl überlegener als auch genußmüder. "Wir haben ja früher öfter über die Probleme der Ordnung gesprochen" erinnerte er seinen Freund "und brauchen uns infolgedessen heute nicht lang dabei aufzuhalten. Also Ordnung ist gewissermaßen ein paradoxer Begriff,.man braucht sie, undbedarf ihrer, aber man verträgt nicht zuviel von ihr. Eine vollkommene Ordnung
Was verstehst du z.b. unter Liberalismus?" – mit diesen Worten wandte er sich nun
wieder an U. Ulrich
, u. beantwortete
die Frage gleich selbstwartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr neuerlich fort: "Ich meine
halt so, daß man die Leute sich selbst überläßt. Das hat man seit dem Jahr 48 versucht, aber ... Und es wird dir
natürlich auch aufgefallen sein, daß das jetzt aus der Mode kommt. Es ist ein
Pallawatsch daraus entstanden,
wie man so sagt. Aber ist es nur das? Mir kommt vor, die Leute wollen noch etwas.
Sie sind nicht mit sich zufrieden. Ich ja auch; ich war früher ein liebenswürdiger
Mensch. Man hat eigentlich nichts getan, aber man war mit sich zufrieden. Der
Dienst war nicht schlimm, und außer Dienst hat man Ekarté gespielt oder ist auf
die Jagd gefahren, und bei dem allen war eine gewisse Kultur. Eine gewisse
Einheitlichkeit. Kommt es dir nicht auch so vor? Und warum ist das heute nicht
mehr so? Ich glaube, soweit ich nach mir urteilen darf, man fühlt sich zu
gescheit. Will man ein Schnitzel essen, so fällt einem ein, daß es Leute gibt, die
keins haben. Steigt einer einem schönen Mäderl nach, so fahrt ihm plötzlich durch
den Kopf, daß er eigentlich über die Beilegung irgendeines Konflikts nachzudenken
hätte. Das ist eben der unleidliche Intellektualismus, den man heute niemals los
wird, und darum geht es nirgends vorwärts. Und ohne es selbst zu wissen, wollen
die Leute wieder etwas. Das heißt also, sie wollen nicht mehr einen komplizierten
Intellekt, sie wollen nicht tausend Möglichkeiten zu leben: sie wollen mit dem
zufrieden sein, was sie ohnehin tun, und dazu braucht es einfach wieder einen
Glauben oder eine Überzeugung oder – also, wie soll man das bezeichnen, was sie
dazu brauchen,? Zu dieser Frage möchte ich jetzt deine Meinung hören!"
Aber das war nur Selbstgenuß des lebhaft angeregten Stumm, denn ehe U. Ulrich
auch nur das Gesicht verziehen
konnte, kam schon die Antwortseine Überraschung: "Man kann es natürlich ebensogut Glauben wie
Überzeugung nennen, aber ich habe viel darüber nachgedacht und nenne es lieber:
Eingeistigkeit!"
Stumm machte eine Pause, die der Einnahme des Beifalls dienen sollte, ehe er weiteren Einblick in seine Geisteswerkstatt gab, und dann mischte sich in den gewichtigen Ausdruck seines Gesichts noch ein ebensowohl überlegener als auch genußmüder. "Wir haben ja früher öfter über die Probleme der Ordnung gesprochen" erinnerte er seinen Freund "und brauchen uns infolgedessen heute nicht lang dabei aufzuhalten. Also Ordnung ist gewissermaßen ein paradoxer Begriff,.man braucht sie, undbedarf ihrer, aber man verträgt nicht zuviel von ihr. Eine vollkommene Ordnung
Signatur: Cod. Ser. n. 15068
29 Blatt, 67 Seiten, 4 Konvolute
Die Mappe enthält Materialien zur Fortsetzung des ›Mann ohne Eigenschaften‹ nach der Teilveröffentlichung des Zweiten Buchs von 1932. Musil konzentrierte diese Fortsetzung in einer Entwurfsfolge mit der ›Sigle H‹ = ›Handschrift‹ (Fortsetzungshandschrift, Zweite Fassung, H 3 = Mappe I/7). Das daraus stammende Konvolut ›H 401-435‹ ist zusammen mit weiteren ersten Entwürfen von 1933 in die Mappe VII/9 gelangt. Eine Neufassung des Manuskripts (H 425-445) von 1934 aber bildet den Schwerpunkt des vorliegenden ›alten blauen Faszikels‹, in den auch das aktuelle Kapitelverzeichnis der Romanfortführung eingelegt wurde. Dazu kommen drei weitere unfertige Kapitelentwürfe von 1933/1934 aus älteren Kapitelprojekten zur Parallelaktions- und Rahmenerzählung, noch in keine endgültige Kapitelsukzession gereiht. Teils liefern die Entwürfe Vorstufen der Druckfahnenkapitel von Ende 1937, teils bleiben sie außerhalb des später angestrebten Erzählkontinuums.
Robert Musil, Altes blaues Faszikel (a. bl. Fa.) : Mappe I/8, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15068-01-08/methods/sdef:TEI/get?mode=p_12
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