im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen die Priester in vergoldeten
Meßgewändern geritten sind, die unterhalb aus Leder waren, also richtige Meß=Kürasse; in einer seiner Schloßkapellen bewahrt er so
ein Gewand noch auf. Er ist halt sehr geärgert über die allgemeine
Staatsfeindlichkeit./.. Kürasse. Er ist halt .. geärgert
.. u hat sich erinnert .. Schloßkapellen ../ Schau, du weißt
doch, daß er immer davon redet, wie die Verfassung vom Jahre 61 dem Besitz u der
Bildung bei uns die Führung gegeben hat und daß daraus eine große Enttäuschung
geworden ist –" "Wie bist du eigentlich zu ihm gekommen?" unterbrach ihn U. Ulrich
lächelnd. "Gott, das hat sich so
gefügt, wie er von seinen böhmischen Gütern zurückgekommenkehrt ist" meinte St. Stumm
, ohne näh darauf näher
einzugehen. "Überdies hat er dich dreimal zu sich bitten lassen, ohne daß du
gekommenhingegangen bist. In B. ist sein Auto
auf der Rückfahrt gerade in die Unruhen hineingeraten und aufgehalten worden. Auf
der einen Seite der Straße sind die Tschechen gestanden und haben
"Nieder mit den Deutschen!" geschrien, auf der andern Seite standen die Deutschen
und brüllten "Nieder mit den Tschechen!" Als er aber erkannt wurde, hörten sie
damit auf und fragten im Sprechchor deutsch und tschechisch: "Was ist mit der
Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung,
Herr Graf?", und die einen schrien: "Pfui!" auf ihn, und die
anderen: "Schande!" Dieser dumme Beschluß, daß man sich für seine eigenen Ideen
töten lassen soll, aber ja nicht für fremde, hat sich offenbar schonnämlich anscheinend herumgesprochen, und weil wir ihn verschwinden
haben lassen, verdächtigt man uns jetzt, daß wir Volksmörder sein wollen! Deshalb
hat L. Leinsdorf
zu mir gesagt: 'Sie sind
doch sein Freund, warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?!' Und mir ist nichts
anderes übriggeblieben als zu antwortenihm anzubieten: 'Wenn Sie mir etwas
anzuvertrauen wünschen, werde ich es ihm ausrichten!'"
Stumm machte eine Pause.
"Und was –?" fragte U Ulrich
.
"Nun, du weißt, daß es nie ganz einfach zu verstehen ist, was er meint. Zuerst hat
er mir von der Französischen Revolution erzählt. Die Französische Revolution hat
bekanntlich vielen Adeligen die Köpfe abgeschlagen, und das findet er
merkwürdigerweise richtig, obgleich er in B.
beinahe mit Steinen beworfen worden wäre. Denn er sagt, das Ancien Régime hat
seine Fehler gehabt, u. die Franz. Rev. ihre wahren Gedanken. Aber was
ist schließlich aus aller Anstrengung entstanden? Das fragt er sich. Und da
meint er, daß heute sagt er Folgendes: Heute ist zb. die Post besser
und schneller, aber früher, solange die Post noch langsam war, hat man bessere
Briefe geschrieben. Oder: Heute sind ist die Kleidung praktischer und
weniger lächerlich, aber früher , wo sie noch wie eine
Maskerade war, hat man entschieden besseres Material darauf
verwendet. Oder istUnd er gibt zu, daß er zum Reisenfür größere Fahrten selbst ein Automobil benützt, weil
es schneller und bequemer ist als ein Pferdefuhrwerk, aber er behauptet, daß diese
Federbüchse auf vier Rädern dem Fahren die wahre Vornehmheit genommen hat. Und
alles das ist komisch, mein ich, aber es ist wahr. Hast du nicht auchselbst einmal gesagt, beim menschlichen Fortschritt rutscht immer ein
Bein zurück, wenn das andere vorrutscht? Unwillkürlich hat heute jeder von uns
etwas gegen den Fortschritt. Und der L. Leinsdorf
hat zu mir gesagt: 'Herr General, früher haben unsere jungen Leute
von Pferden und Hunden gesprochen, und heute sprechen die
im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen die Priester in vergoldeten
Meßgewändern geritten sind, die unterhalb aus Leder waren, also richtige Meß=Kürasse; in einer seiner Schloßkapellen bewahrt er so
ein Gewand noch auf. Er ist halt sehr geärgert über die allgemeine
Staatsfeindlichkeit./.. Kürasse. Er ist halt .. geärgert
.. u hat sich erinnert .. Schloßkapellen ../ Schau, du weißt
doch, daß er immer davon redet, wie die Verfassung vom Jahre 61 dem Besitz u der
Bildung bei uns die Führung gegeben hat und daß daraus eine große Enttäuschung
geworden ist –" "Wie bist du eigentlich zu ihm gekommen?" unterbrach ihn U. Ulrich
lächelnd. "Gott, das hat sich so
gefügt, wie er von seinen böhmischen Gütern zurückgekommenkehrt ist" meinte St. Stumm
, ohne näh darauf näher
einzugehen. "Überdies hat er dich dreimal zu sich bitten lassen, ohne daß du
gekommenhingegangen bist. In B. ist sein Auto
auf der Rückfahrt gerade in die Unruhen hineingeraten und aufgehalten worden. Auf
der einen Seite der Straße sind die Tschechen gestanden und haben
"Nieder mit den Deutschen!" geschrien, auf der andern Seite standen die Deutschen
und brüllten "Nieder mit den Tschechen!" Als er aber erkannt wurde, hörten sie
damit auf und fragten im Sprechchor deutsch und tschechisch: "Was ist mit der
Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung,
Herr Graf?", und die einen schrien: "Pfui!" auf ihn, und die
anderen: "Schande!" Dieser dumme Beschluß, daß man sich für seine eigenen Ideen
töten lassen soll, aber ja nicht für fremde, hat sich offenbar schonnämlich anscheinend herumgesprochen, und weil wir ihn verschwinden
haben lassen, verdächtigt man uns jetzt, daß wir Volksmörder sein wollen! Deshalb
hat L. Leinsdorf
zu mir gesagt: 'Sie sind
doch sein Freund, warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?!' Und mir ist nichts
anderes übriggeblieben als zu antwortenihm anzubieten: 'Wenn Sie mir etwas
anzuvertrauen wünschen, werde ich es ihm ausrichten!'"
Stumm machte eine Pause.
"Und was –?" fragte U Ulrich
.
"Nun, du weißt, daß es nie ganz einfach zu verstehen ist, was er meint. Zuerst hat
er mir von der Französischen Revolution erzählt. Die Französische Revolution hat
bekanntlich vielen Adeligen die Köpfe abgeschlagen, und das findet er
merkwürdigerweise richtig, obgleich er in B.
beinahe mit Steinen beworfen worden wäre. Denn er sagt, das Ancien Régime hat
seine Fehler gehabt, u. die Franz. Rev. ihre wahren Gedanken. Aber was
ist schließlich aus aller Anstrengung entstanden? Das fragt er sich. Und da
meint er, daß heute sagt er Folgendes: Heute ist zb. die Post besser
und schneller, aber früher, solange die Post noch langsam war, hat man bessere
Briefe geschrieben. Oder: Heute sind ist die Kleidung praktischer und
weniger lächerlich, aber früher , wo sie noch wie eine
Maskerade war, hat man entschieden besseres Material darauf
verwendet. Oder istUnd er gibt zu, daß er zum Reisenfür größere Fahrten selbst ein Automobil benützt, weil
es schneller und bequemer ist als ein Pferdefuhrwerk, aber er behauptet, daß diese
Federbüchse auf vier Rädern dem Fahren die wahre Vornehmheit genommen hat. Und
alles das ist komisch, mein ich, aber es ist wahr. Hast du nicht auchselbst einmal gesagt, beim menschlichen Fortschritt rutscht immer ein
Bein zurück, wenn das andere vorrutscht? Unwillkürlich hat heute jeder von uns
etwas gegen den Fortschritt. Und der L. Leinsdorf
hat zu mir gesagt: 'Herr General, früher haben unsere jungen Leute
von Pferden und Hunden gesprochen, und heute sprechen die
Signatur: Cod. Ser. n. 15068
29 Blatt, 67 Seiten, 4 Konvolute
Die Mappe enthält Materialien zur Fortsetzung des ›Mann ohne Eigenschaften‹ nach der Teilveröffentlichung des Zweiten Buchs von 1932. Musil konzentrierte diese Fortsetzung in einer Entwurfsfolge mit der ›Sigle H‹ = ›Handschrift‹ (Fortsetzungshandschrift, Zweite Fassung, H 3 = Mappe I/7). Das daraus stammende Konvolut ›H 401-435‹ ist zusammen mit weiteren ersten Entwürfen von 1933 in die Mappe VII/9 gelangt. Eine Neufassung des Manuskripts (H 425-445) von 1934 aber bildet den Schwerpunkt des vorliegenden ›alten blauen Faszikels‹, in den auch das aktuelle Kapitelverzeichnis der Romanfortführung eingelegt wurde. Dazu kommen drei weitere unfertige Kapitelentwürfe von 1933/1934 aus älteren Kapitelprojekten zur Parallelaktions- und Rahmenerzählung, noch in keine endgültige Kapitelsukzession gereiht. Teils liefern die Entwürfe Vorstufen der Druckfahnenkapitel von Ende 1937, teils bleiben sie außerhalb des später angestrebten Erzählkontinuums.
Robert Musil, Altes blaues Faszikel (a. bl. Fa.) : Mappe I/8, ediert von Walter Fanta, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.sn15068-01-08/methods/sdef:TEI/get?mode=p_10
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