Graz 4. Sept. 1884
Sparbersbachgasse 45.

Sehr geehrter lieber Herr College!

Noch nie vielleicht im Leben habe ich einem [Me]nschen so beschämt gegenüber gestanden als heute Ihnen. Ich schreibe Ihnen nach mehrjähriger brieflicher Bekanntschaft einen aus dem geschäftlichen Verkehr herausgehenden, warm angehauchten Brief, wie ich ihn längst im Sinne trug, weil Sie mir unter den Fachgenossen, die mir nicht längst zu Freunden angehören, am meisten lieb und wert geworden waren. Sie weisen meine Bitte um ausführlichere Nachricht nicht von sich. Sie schreiben mir einen langen, freundlichen Lebensbrief, wenn [i]ch so sagen darf, Sie legen mir den Entwickelungsgang Ihrer Studien dar, schildern mir Ihren Umgang, Ihre Arbeitsweise. Und dieser Brief regt mich aufs tiefste an und auf. Ich erkläre mir alles im Zusammenhange, was mir bisher einzeln an Ihnen entgegengetreten war; ich stelle Vergleiche an zwischen meinem Lebens und Studiengange und dem Ihrigen; ich entwerfe eine An[tw]ort rasch und ausführlich – in Gedanken. Und doch vergehen Monate, ohne daß diese Antwort an Sie gelangt; die Ferien kommen heran, deren Anfang sonst zum Abschluß privater Angelegenheiten zu drängen pflegt. Ich aber schweige. Ich muß mir gestehen, daß ich mir über den bald vergangenen Sommer selbst schwer Rechenschaft geben kann; ich habe ihn in frevelhaf[ter] Schwäche und Unthätigkeit hingebracht und wieder einmal dem Spruche Bauernfelds alle Ehre angethan: Zu unsern Unarten
Gehört zumeist das Warten:
So wird der Tag verprasst
So wird das Jahr verpasst.

[Da]nn freilich kam die Waffenübung vom 1–28 August, die mir zu irgend etwas Geistigem weder Zeit noch Kraft ließ. Sie aber hat mich doch aus dieser Lethargie aufgerüttelt und einer der Beweise daß es wieder besser mit mir geht, ist dieser Brief, in dessen Verlaufe sich auch der Grund meiner Stimmungslosigkeit enthüllen dürfte.
Wenn ich Ihnen einen Umriß meiner äußeren und inneren Entwicke[l]ung zu geben versuche, so müßte ich wol zuerst Neu-Oesterreich Ihnen schildern, wie es seit 48, 59 und 66 sich herausgestaltet hat. Ich müßte dabei aber betonen, daß das Wesen dasselbe geblieben ist, daß überstürzte Reformen nicht über Nacht alles das ändern und bessern konnten, was Jahrhunderte vernachlässigt haben, daß wir ganz in der alten Haut noch stec[k]en, unseren Charakter nicht verleugnet haben und wol nie verleugnen werden und daß wir daher wenn auch nicht mehr um ganze so gewiß noch um halbe Pferdelänge hinter dem übrigen Deutschland zurückstehen. Neben diesem einen Vorsprung haben Sie noch einen andern: Sie sind aus akademischen Kreisen hervorgegangen; Sie haben die gelehrte Luft von Kindheit an eingesogen, sind wol auch systematisch zu einem gelehrten Berufe herangeleitet worden. Wie ganz anders bei mir. Meine Familie stammt aus Deutsch-Böhmen u. ist seit 3 Generationen in Wien angesiedelt. Der Urgroßvater soll Schullehrer bei Leitmeritz gewesen sein. [Der] Großvater war Kaufmann u. das ist mein Vater, der sich später dem Versicherungswesen zu wandte, eigentlich auch gewesen. Meine Mutter, die zweite Frau meines Vaters, starb, als ich zwei Jahre alt war, und als 5 Jahre später eine Stiefmutter zu uns 3 Jungens ins Haus zog, war ich in der Gunst meines Vaters schon zu sehr befestigt, als daß Ihre oft wol berechtigte Strenge mich jemals hätte aus dem Sattel werfen können. Vertrat mein Vater altbürgerliche Principien, so [k]am durch die Mutter eigentlich ein bäuerliches Element in die Familie und dadurch wurde ein Zwiespalt geschaffen, der bis zum heutigen Tage nicht ganz ausgeglichen ist. Das eine aber ist ihr Verdienst. Wir mußten lernen so viel als möglich und in späterer Zeit wurde es ihr Ideal, aus mir einen Juristen zu bilden[,] davon sie einige in ihrer Bekanntschaft hatte. In mir aber wallte frisches, heißes sinnliches Wiener Blut. Nur die Fröhlichkeit und Heiterkeit des Wieners habe ich nicht ganz geerbt: diese stellt sich immer erst langsam bei mir ein als die Blüte längeren inneren Zufriedenseins. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Theaterfreund. Jahre lang war er ständiger Besucher des Burgtheaters, mit dessen älteren Mitgliedern [er] in persönlicher Verbindung stand. Theater und Musik war von Kindheit auf mein Lebenselement. Eine Vorstellung von Raimunds Alpenkönig und Menschenfeind ist meine älteste Theatererinnerung. Wagners Don Carlos die erste Gestalt, die [m]ir am Burgtheater entgegentrat; mein erster eigener Versuch war eine Nachahmung des Don Carlos. In meines Vaters Bücherkasten standen neben Schiller & Goethe: Grillparzer, Halm und Raimund. Und wenn es mir je gelingt, den Plan einer Geschichte der deutschen Litt. in Österreich auszuführen, dann darf ich sagen, daß ich mein Lebensziel erreicht habe. Die Vorliebe fürs Theater wurde durch meine enge Verbindung mit [ M]inor, die bis in unser 12 Jahr zurückreicht, in mir bestärkt. Minor wollte Schauspieler werden, besaß ein seltenes Talent, das leider durch ein Hals und Ohrenleiden geschädigt wurde. So las ich im Gymnasium alle modernen Dramatiker von Kotzebue bis Benedix mit Eifer durch, fraß sie so z[u] sagen mit Haut und Haar auf; denn Vollständigkeit war mir schon damals ein Herzensbedürfnis. Dazu kam Prof. Maretas sorgliche Anleitung bei unserer Privatlectüre im Obergymnasium; mit einem Worte: ohne je einen Universitätsprofessor gekannt, ja nur gesehen zu haben, stand es gegen den Willen meiner Eltern u. gegen den des Arztes (ich hatte mich damals überarbeitet) am [E]nde des Gymnasiums bei mir fest, Germanist zu werden und dadurch hauptsächlich der öst. Lit. Gesch. ein Retter zu sein. Ich trieb nun in Wien durch vier Jahre Philologie bei Vahlen und Hartel, Geschichte bei Lorentz und Büdinger, Deutsch bei Tomaschek und Heinzel, [Ro]manisch bei Mussafia, Englisch bei Zupitza. Den ungünstigsten Einfluß hat Büdinger auf mich genommen. Die querköpfige Art, mit der er aus Herodot und Polybius tausenderlei Dinge herauszulesen meinte, die den trefflichen Griechen nie in den Sinn gekommen waren, entfremdete mich der class. Philologie; die egoistische Methode, mit der er mich alte Salzrechnungen aus der Zeit Ferdinand II und III im Finanzarchiv abschreiben ließ, um [dar]aus selbst Schlüße auf die politischen Verhältnisse zu ziehen, entfremdete mich der Geschichte. Ich erklärte eines Tages meinen Austritt aus dem hist. Seminar und widmete mich ganz der Germanistik. Tomaschek, der Vertreter der neueren Lit. Gesch., war ein für s. Fach begeisterter Mann, ein Jünger Schillers in allem u jedem und in dieser grenzenlosen Verehrung hat er uns aufgezoge[n]. Aber er wußte eigentlich sonst sehr wenig, seine Vorträge konnten wir bald auf ihre Quellen zurückführen u. als solche ergaben sich bei Goethe Hettner u. die Einleitungen der Hempelschen Ausgaben. Bei aller persönlichen Liebenswürdigkeit, bei allem Wolwollen war er nicht im Stande Schüler zu erziehen oder auch nur Themen zu stellen. Er hat mir in alle[m] Ernste: J. W. v. Brawe als passendes Thema für eine Dissertation angegeben u. als ich ein halbes Jahr später die dürftigen Resultate mühsamsten Nachforschens ihm vorlegte, fragte er mich: Haben Sie schon bei Jördensnachgesehen? !!! Heinzel war damals noch Anfänger als akademischer Lehrer. – [Ei]ntönig, stotternd, manchmal wie theilnahmslos, trug er s. Sachen vor, er gab sich keine Mühe uns kennen zu lernen, trat einem jedes Mal kälter und abstoßender entgegen und ich bin bis heute nicht im Stande mit Heinzel auch nur eine Viertel Stunde lang ein zusammenhängendes Gespräch zu führen. Die Vorträge, die er ganz aus eigenem schöpfte, so ein 2stünd. Publ. [ü]ber Tristan, waren meist eine geistreiche Verkehrtheit, wie Müllenhoff von seinen Sachen zu sagen pflegte. Zum Glück gab er wenig eigenes, sondern es waren wörtlich & buchstäblich Scherers Collegien, die er uns mittheilte u. so bin ich indirect vom ersten Semester an Scherers Schüler gewesen. Und er erfüllte uns mit solchem Enthusiasmus zu seinem gleichaltrigen, [b]egabteren Freunde, sprach mit solcher Ehrfurcht und doch wieder mit solcher Liebe und Hingebung von ihm und seinen Arbeiten, daß wir Scherer als den Mittelpunkt unserer Wissenschaft ansahen, uns auf alles stürzten, was aus seinem Munde kam und ihm uns mit Leib und Seele zu eigen gaben. Scherer persönlich kennen zu lernen, war das sehnsüchtigste Ziel meiner ganzen Studentenzeit; [die] Griechen können nicht erhabener von Delphi gedacht haben als ich damals von Strßbrg. Es war ein Fieber, an dem ich förmlich krank lag. Endlich kam die heiß erflehte Zeit. Ich stieg die Stufen zu seiner neu eingerichteten Wohnung in Berlin hinauf und stand vor ihm, [sch]eu, vor Freude und Schrecken sprachlos: ähnlich wie Grillparzer vor Goethe. In Berlin habe ich erst arbeiten gelernt. In wenigen Tagen war ich mir klar bewußt, daß ich trotz meinem Doctor weniger von Methode verstände als ein Schüler Scherers im dritten Semester. Ich habe von da ab Tag und Nach ! ununterbrochen gearbeitet und heute noch zehre ich von meinen Berliner Excerpten für die Periode Lessings u die folg. Zeit. Lücken aber lassen sich [ni]e ganz ausfüllen, versäumtes läßt sich nie ganz nachholen und so werden die Fehler und Schwächen, die meine bisherigen Arbeiten gezeigt haben, vielleicht nie ganz verschwinden; denn wurzeln in meiner ersten und längsten Bildungsepoche.
Über die Folgezeit kann ich mich kürzer fassen. Ein halbes Jahr in Bosnien, dann ein halbes Jahr in Wien während der Habilitation. Dieses Jahr war [ur]sprünglich noch für Berlin bestimmt gewesen: aber im Rathe der Götter war es anders bestimmt gewesen. Herbst 1879 zog ich nach Lemberg. Wenn ich die vier Jahre dieser Übergangszeit überblicke, in der ich alles gearbeitet habe, was von mir vorliegt, so kann ich sie nicht als günstig für meine Entwickelung ansehen. Ich war dem eigentlich wissenschaftlichen Leben völlig entfremdet. Ich mußte alles aus mir selbst heraufpu[mp]en; das ist schlecht für erst reifende Menschen, die der Anregung be- dürfen, wie dürres Gras eines Gewitterregens. Schädlicher aber sind die Jahre für mich als Menschen geworden. Als ich nach L. kam, war ich mit einer jungen [Wie]ner Dame verlobt. Das Verhältnis löste sich ein Jahr später unter schmerzlichen Kämpfen. Hatte ich mich das erste Jahr von der Gesellschaft zurückgezogen, weil ich auch in der Ferne nur mit der Geliebten lebte, so drängte mich das zweite Jahr noch mehr in mein Inneres zurück; denn ich haßte die Menschen und verachtete die Frauen, wie es solche Perioden bitterster Enttäuschung mit sich bringen. Alle Anlagen einer sensibeln Natur, die in mir seit Kindheit vorhanden sind, entwickelten sich unter solchen Umständen üppig. Nichts hinderte mich, daß ich mich meinen Stimmungen ganz hingab und so that ichs. Das Resultat ist ein höchst hypochondrischer Mensch, der nun unter andere Verhältnisse versetzt, nichts mit sich anzufangen weiß und einmal ein böses Ende nehmen kann.
Zwar bin ich am Wege der [B]esserung gewesen. Es hat sich mir in Lemberg vom zweiten Jahre angefangen eine Beziehung erschloßen, die die schönste meines Lebens war und es auch bleiben wird. Die Tochter des verstorbenen Hofburgschauspielers Ludwig Loewe, lebte dort seit mehr als 20 Jahren; zuletzt als die Wittwe eines Grafen Potocki allein, zurückgezogen, verbittert und kränklich. Selbs[t e]inst Schauspielerin gewesen, war sie als junges Mädchen diesem ihrem Berufe durch einen Beinbruch entzogen worden. Das mag wol mit die Veranlassung gewesen sein, daß Sie ! ihre Bildung weit tiefer anlegte, [als] es sonst bei Schauspielerinnen der Fall zu sein pflegte. Mit den besten Traditionen der Weimarer Dichtung und der romantischen Philosophie verknüpfte sich bei ihr der offene Wiener Sinn und die herzlichste Gemütlichkeit. Die geistreiche alte Dame, mit der mich meine Arbeit an der Raimund-Ausgabe zusammenführte, hatte sich die Theilnahme an allen Lebensfragen u. Litteraturinteressen in seltenen ! Maße bewahrt. Sie trat mir entgegen als die Verkörperung jener classischen Zeit Österreichs, an der ich seit meines Vaters Erzählungen hänge. Und sie nahm sich umgekehrt die Mühe sich in meinen Gefühls und Gedankenkreis zu versetzen; ich habe in diesen drei Jahren keine Zeile geschriebe[n], die ich ihr vor dem Drucke nicht vorgelesen habe, kein irgendwie bedeutendes Buch durchgearbeitet, das sie nicht mit mir genoßen hat. Im letzten Jahre war sie mein einziger Umgang. Ich kann Ihnen nicht im einzelnen darlegen, wie innig sie mit allen meinen Lebensinteressen verwoben war; ich gieng nie ohne Rath und Trost, nie ohne Freude und Dankbarkeit von ihr weg. Von dieser Seite war meine Abberufung [au]s Lemberg ein harter Schlag, wenn sie auch die erste war, die das Vor- theilhafte des Wechsels für meine Zukunft laut anerkannte. Aber sie hat sich stärker geglaubt, als sie innerlich war und hat die Rückkehr zur alten einsamen [Leb]ensweise nicht mehr ertragen. Ein altes Leiden stellte sich wieder ein und machte ihrem Leben vorschnell ein Ende. Im April stand ich am Sterbebette und Grabe der Dreiundsechzigjährigen. Der Briefwechsel mit ihr war mir im Winter ein Bedürfnis geworden, ohne welches der Tag seinen Abschluß nicht finden konnte. So bin ich denn seit meiner letzten Rückkehr aus Lemberg im Anfang Mai dieses Jahres in jene hypochondrische Einsamkeit zurückgeschlagen, von der ich oben sprach. [U]nd ich bin noch nicht so stark gewesen, mich ganz aufzuraffen und dem Leben wieder ins Auge zu schauen. An einem besseren, klareren Tage des Mai mag es gewesen sein, als ich Ihnen jenen Brief schrieb, dessen Antwort vor mir liegt. Er war ein heller Moment innerhalb meines Dunkels. Und nun – damit kehre ich wieder zu der Darstellung [m]eines geistigen Lebens zurück und bringe sie zum Abschluße – ist seit jeher meine Arbeit aufs innigste mit meiner Seelenstimmung verquickt. Alles was ich schreibe, ist von Tag und Stunde abhängig, und darum arbeite ich so schwer, so unzusammenhängend, so ungleich. Jene himmlische Gelehrtenruhe, wie sie DF. Strauß in seinen letzten Lebensjahren umgab, ist mir ein unerreichbares [I]deal. So bin ich entstanden, so bin ich, so lebe ich! Wenn die Menschen wirklich mit dreißig Jahren fertig sind, so bin ich bald fertig und muß dann den Rest meines Lebens so bleiben! Sei’s! Seit 5 Tagen bin ich der militärischen Kleidung ledig und athme wieder auf. Es ist eine Qual, die Sie nicht [k]ennen. Man wird während solcher vier Wochen ganz dumm. Außerdem sind mir meine Ferien ganz verdorben und ich hätte gerade heuer ausgiebige Luftveränderung nöthig gehabt. So gehe ich blos (circa am 15.) nach Vöslau zu Minor, dann zu meinem Bruder nach Brunn und endlich zu den Eltern nach Wien. Am 13. Oct. muß ich hier sein und die Mühle beginnt.
Laßen Sie mich daher heute von litterarischen Plänen und Arbeiten schweigen; habe ich doch auch bemerkenswerte Fortschritte nicht zu berichten. Ihre Geduld aber habe ich in so starkem Maße mißbraucht, daß es Zeit ist, das Tintenfa[ß] zu schließen. Vergelten Sie nicht Gleiches mit Gleichem und laßen Sie mich, wo immer der Brief Sie treffe, mit ein paar Zeilen wißen, wie es Ihnen gehe.
Erich Schmidts Exodus nach Berlin scheint verschoben zu sein. Haben Sie nicht Aussicht nach Zürich. Ich werde mich wol um die Bedingungen [er]kundigen; hingehen aber möchte ich nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Treulichst Ergebener
Sauer

Graz 4. Sept. 1884
Sparbersbachgasse 45.

Sehr geehrter lieber Herr College!

Noch nie vielleicht im Leben habe ich einem [Me]nschen so beschämt gegenüber gestanden als heute Ihnen. Ich schreibe Ihnen nach mehrjähriger brieflicher Bekanntschaft einen aus dem geschäftlichen Verkehr herausgehenden, warm angehauchten Brief, wie ich ihn längst im Sinne trug, weil Sie mir unter den Fachgenossen, die mir nicht längst zu Freunden angehören, am meisten lieb und wert geworden waren. Sie weisen meine Bitte um ausführlichere Nachricht nicht von sich. Sie schreiben mir einen langen, freundlichen Lebensbrief, wenn [i]ch so sagen darf, Sie legen mir den Entwickelungsgang Ihrer Studien dar, schildern mir Ihren Umgang, Ihre Arbeitsweise. Und dieser Brief regt mich aufs tiefste an und auf. Ich erkläre mir alles im Zusammenhange, was mir bisher einzeln an Ihnen entgegengetreten war; ich stelle Vergleiche an zwischen meinem Lebens und Studiengange und dem Ihrigen; ich entwerfe eine An[tw]ort rasch und ausführlich – in Gedanken. Und doch vergehen Monate, ohne daß diese Antwort an Sie gelangt; die Ferien kommen heran, deren Anfang sonst zum Abschluß privater Angelegenheiten zu drängen pflegt. Ich aber schweige. Ich muß mir gestehen, daß ich mir über den bald vergangenen Sommer selbst schwer Rechenschaft geben kann; ich habe ihn in frevelhaf[ter] Schwäche und Unthätigkeit hingebracht und wieder einmal dem Spruche Bauernfelds alle Ehre angethan: Zu unsern Unarten
Gehört zumeist das Warten:
So wird der Tag verprasst
So wird das Jahr verpasst.

[Da]nn freilich kam die Waffenübung vom 1–28 August, die mir zu irgend etwas Geistigem weder Zeit noch Kraft ließ. Sie aber hat mich doch aus dieser Lethargie aufgerüttelt und einer der Beweise daß es wieder besser mit mir geht, ist dieser Brief, in dessen Verlaufe sich auch der Grund meiner Stimmungslosigkeit enthüllen dürfte.
Wenn ich Ihnen einen Umriß meiner äußeren und inneren Entwicke[l]ung zu geben versuche, so müßte ich wol zuerst Neu-Oesterreich Ihnen schildern, wie es seit 48, 59 und 66 sich herausgestaltet hat. Ich müßte dabei aber betonen, daß das Wesen dasselbe geblieben ist, daß überstürzte Reformen nicht über Nacht alles das ändern und bessern konnten, was Jahrhunderte vernachlässigt haben, daß wir ganz in der alten Haut noch stec[k]en, unseren Charakter nicht verleugnet haben und wol nie verleugnen werden und daß wir daher wenn auch nicht mehr um ganze so gewiß noch um halbe Pferdelänge hinter dem übrigen Deutschland zurückstehen. Neben diesem einen Vorsprung haben Sie noch einen andern: Sie sind aus akademischen Kreisen hervorgegangen; Sie haben die gelehrte Luft von Kindheit an eingesogen, sind wol auch systematisch zu einem gelehrten Berufe herangeleitet worden. Wie ganz anders bei mir. Meine Familie stammt aus Deutsch-Böhmen u. ist seit 3 Generationen in Wien angesiedelt. Der Urgroßvater soll Schullehrer bei Leitmeritz gewesen sein. [Der] Großvater war Kaufmann u. das ist mein Vater, der sich später dem Versicherungswesen zu wandte, eigentlich auch gewesen. Meine Mutter, die zweite Frau meines Vaters, starb, als ich zwei Jahre alt war, und als 5 Jahre später eine Stiefmutter zu uns 3 Jungens ins Haus zog, war ich in der Gunst meines Vaters schon zu sehr befestigt, als daß Ihre oft wol berechtigte Strenge mich jemals hätte aus dem Sattel werfen können. Vertrat mein Vater altbürgerliche Principien, so [k]am durch die Mutter eigentlich ein bäuerliches Element in die Familie und dadurch wurde ein Zwiespalt geschaffen, der bis zum heutigen Tage nicht ganz ausgeglichen ist. Das eine aber ist ihr Verdienst. Wir mußten lernen so viel als möglich und in späterer Zeit wurde es ihr Ideal, aus mir einen Juristen zu bilden[,] davon sie einige in ihrer Bekanntschaft hatte. In mir aber wallte frisches, heißes sinnliches Wiener Blut. Nur die Fröhlichkeit und Heiterkeit des Wieners habe ich nicht ganz geerbt: diese stellt sich immer erst langsam bei mir ein als die Blüte längeren inneren Zufriedenseins. Mein Vater war ein leidenschaftlicher Theaterfreund. Jahre lang war er ständiger Besucher des Burgtheaters, mit dessen älteren Mitgliedern [er] in persönlicher Verbindung stand. Theater und Musik war von Kindheit auf mein Lebenselement. Eine Vorstellung von Raimunds Alpenkönig und Menschenfeind ist meine älteste Theatererinnerung. Wagners Don Carlos die erste Gestalt, die [m]ir am Burgtheater entgegentrat; mein erster eigener Versuch war eine Nachahmung des Don Carlos. In meines Vaters Bücherkasten standen neben Schiller & Goethe: Grillparzer, Halm und Raimund. Und wenn es mir je gelingt, den Plan einer Geschichte der deutschen Litt. in Österreich auszuführen, dann darf ich sagen, daß ich mein Lebensziel erreicht habe. Die Vorliebe fürs Theater wurde durch meine enge Verbindung mit [ M]inor, die bis in unser 12 Jahr zurückreicht, in mir bestärkt. Minor wollte Schauspieler werden, besaß ein seltenes Talent, das leider durch ein Hals und Ohrenleiden geschädigt wurde. So las ich im Gymnasium alle modernen Dramatiker von Kotzebue bis Benedix mit Eifer durch, fraß sie so z[u] sagen mit Haut und Haar auf; denn Vollständigkeit war mir schon damals ein Herzensbedürfnis. Dazu kam Prof. Maretas sorgliche Anleitung bei unserer Privatlectüre im Obergymnasium; mit einem Worte: ohne je einen Universitätsprofessor gekannt, ja nur gesehen zu haben, stand es gegen den Willen meiner Eltern u. gegen den des Arztes (ich hatte mich damals überarbeitet) am [E]nde des Gymnasiums bei mir fest, Germanist zu werden und dadurch hauptsächlich der öst. Lit. Gesch. ein Retter zu sein. Ich trieb nun in Wien durch vier Jahre Philologie bei Vahlen und Hartel, Geschichte bei Lorentz und Büdinger, Deutsch bei Tomaschek und Heinzel, [Ro]manisch bei Mussafia, Englisch bei Zupitza. Den ungünstigsten Einfluß hat Büdinger auf mich genommen. Die querköpfige Art, mit der er aus Herodot und Polybius tausenderlei Dinge herauszulesen meinte, die den trefflichen Griechen nie in den Sinn gekommen waren, entfremdete mich der class. Philologie; die egoistische Methode, mit der er mich alte Salzrechnungen aus der Zeit Ferdinand II und III im Finanzarchiv abschreiben ließ, um [dar]aus selbst Schlüße auf die politischen Verhältnisse zu ziehen, entfremdete mich der Geschichte. Ich erklärte eines Tages meinen Austritt aus dem hist. Seminar und widmete mich ganz der Germanistik. Tomaschek, der Vertreter der neueren Lit. Gesch., war ein für s. Fach begeisterter Mann, ein Jünger Schillers in allem u jedem und in dieser grenzenlosen Verehrung hat er uns aufgezoge[n]. Aber er wußte eigentlich sonst sehr wenig, seine Vorträge konnten wir bald auf ihre Quellen zurückführen u. als solche ergaben sich bei Goethe Hettner u. die Einleitungen der Hempelschen Ausgaben. Bei aller persönlichen Liebenswürdigkeit, bei allem Wolwollen war er nicht im Stande Schüler zu erziehen oder auch nur Themen zu stellen. Er hat mir in alle[m] Ernste: J. W. v. Brawe als passendes Thema für eine Dissertation angegeben u. als ich ein halbes Jahr später die dürftigen Resultate mühsamsten Nachforschens ihm vorlegte, fragte er mich: Haben Sie schon bei Jördensnachgesehen? !!! Heinzel war damals noch Anfänger als akademischer Lehrer. – [Ei]ntönig, stotternd, manchmal wie theilnahmslos, trug er s. Sachen vor, er gab sich keine Mühe uns kennen zu lernen, trat einem jedes Mal kälter und abstoßender entgegen und ich bin bis heute nicht im Stande mit Heinzel auch nur eine Viertel Stunde lang ein zusammenhängendes Gespräch zu führen. Die Vorträge, die er ganz aus eigenem schöpfte, so ein 2stünd. Publ. [ü]ber Tristan, waren meist eine geistreiche Verkehrtheit, wie Müllenhoff von seinen Sachen zu sagen pflegte. Zum Glück gab er wenig eigenes, sondern es waren wörtlich & buchstäblich Scherers Collegien, die er uns mittheilte u. so bin ich indirect vom ersten Semester an Scherers Schüler gewesen. Und er erfüllte uns mit solchem Enthusiasmus zu seinem gleichaltrigen, [b]egabteren Freunde, sprach mit solcher Ehrfurcht und doch wieder mit solcher Liebe und Hingebung von ihm und seinen Arbeiten, daß wir Scherer als den Mittelpunkt unserer Wissenschaft ansahen, uns auf alles stürzten, was aus seinem Munde kam und ihm uns mit Leib und Seele zu eigen gaben. Scherer persönlich kennen zu lernen, war das sehnsüchtigste Ziel meiner ganzen Studentenzeit; [die] Griechen können nicht erhabener von Delphi gedacht haben als ich damals von Strßbrg. Es war ein Fieber, an dem ich förmlich krank lag. Endlich kam die heiß erflehte Zeit. Ich stieg die Stufen zu seiner neu eingerichteten Wohnung in Berlin hinauf und stand vor ihm, [sch]eu, vor Freude und Schrecken sprachlos: ähnlich wie Grillparzer vor Goethe. In Berlin habe ich erst arbeiten gelernt. In wenigen Tagen war ich mir klar bewußt, daß ich trotz meinem Doctor weniger von Methode verstände als ein Schüler Scherers im dritten Semester. Ich habe von da ab Tag und Nach ! ununterbrochen gearbeitet und heute noch zehre ich von meinen Berliner Excerpten für die Periode Lessings u die folg. Zeit. Lücken aber lassen sich [ni]e ganz ausfüllen, versäumtes läßt sich nie ganz nachholen und so werden die Fehler und Schwächen, die meine bisherigen Arbeiten gezeigt haben, vielleicht nie ganz verschwinden; denn wurzeln in meiner ersten und längsten Bildungsepoche.
Über die Folgezeit kann ich mich kürzer fassen. Ein halbes Jahr in Bosnien, dann ein halbes Jahr in Wien während der Habilitation. Dieses Jahr war [ur]sprünglich noch für Berlin bestimmt gewesen: aber im Rathe der Götter war es anders bestimmt gewesen. Herbst 1879 zog ich nach Lemberg. Wenn ich die vier Jahre dieser Übergangszeit überblicke, in der ich alles gearbeitet habe, was von mir vorliegt, so kann ich sie nicht als günstig für meine Entwickelung ansehen. Ich war dem eigentlich wissenschaftlichen Leben völlig entfremdet. Ich mußte alles aus mir selbst heraufpu[mp]en; das ist schlecht für erst reifende Menschen, die der Anregung be- dürfen, wie dürres Gras eines Gewitterregens. Schädlicher aber sind die Jahre für mich als Menschen geworden. Als ich nach L. kam, war ich mit einer jungen [Wie]ner Dame verlobt. Das Verhältnis löste sich ein Jahr später unter schmerzlichen Kämpfen. Hatte ich mich das erste Jahr von der Gesellschaft zurückgezogen, weil ich auch in der Ferne nur mit der Geliebten lebte, so drängte mich das zweite Jahr noch mehr in mein Inneres zurück; denn ich haßte die Menschen und verachtete die Frauen, wie es solche Perioden bitterster Enttäuschung mit sich bringen. Alle Anlagen einer sensibeln Natur, die in mir seit Kindheit vorhanden sind, entwickelten sich unter solchen Umständen üppig. Nichts hinderte mich, daß ich mich meinen Stimmungen ganz hingab und so that ichs. Das Resultat ist ein höchst hypochondrischer Mensch, der nun unter andere Verhältnisse versetzt, nichts mit sich anzufangen weiß und einmal ein böses Ende nehmen kann.
Zwar bin ich am Wege der [B]esserung gewesen. Es hat sich mir in Lemberg vom zweiten Jahre angefangen eine Beziehung erschloßen, die die schönste meines Lebens war und es auch bleiben wird. Die Tochter des verstorbenen Hofburgschauspielers Ludwig Loewe, lebte dort seit mehr als 20 Jahren; zuletzt als die Wittwe eines Grafen Potocki allein, zurückgezogen, verbittert und kränklich. Selbs[t e]inst Schauspielerin gewesen, war sie als junges Mädchen diesem ihrem Berufe durch einen Beinbruch entzogen worden. Das mag wol mit die Veranlassung gewesen sein, daß Sie ! ihre Bildung weit tiefer anlegte, [als] es sonst bei Schauspielerinnen der Fall zu sein pflegte. Mit den besten Traditionen der Weimarer Dichtung und der romantischen Philosophie verknüpfte sich bei ihr der offene Wiener Sinn und die herzlichste Gemütlichkeit. Die geistreiche alte Dame, mit der mich meine Arbeit an der Raimund-Ausgabe zusammenführte, hatte sich die Theilnahme an allen Lebensfragen u. Litteraturinteressen in seltenen ! Maße bewahrt. Sie trat mir entgegen als die Verkörperung jener classischen Zeit Österreichs, an der ich seit meines Vaters Erzählungen hänge. Und sie nahm sich umgekehrt die Mühe sich in meinen Gefühls und Gedankenkreis zu versetzen; ich habe in diesen drei Jahren keine Zeile geschriebe[n], die ich ihr vor dem Drucke nicht vorgelesen habe, kein irgendwie bedeutendes Buch durchgearbeitet, das sie nicht mit mir genoßen hat. Im letzten Jahre war sie mein einziger Umgang. Ich kann Ihnen nicht im einzelnen darlegen, wie innig sie mit allen meinen Lebensinteressen verwoben war; ich gieng nie ohne Rath und Trost, nie ohne Freude und Dankbarkeit von ihr weg. Von dieser Seite war meine Abberufung [au]s Lemberg ein harter Schlag, wenn sie auch die erste war, die das Vor- theilhafte des Wechsels für meine Zukunft laut anerkannte. Aber sie hat sich stärker geglaubt, als sie innerlich war und hat die Rückkehr zur alten einsamen [Leb]ensweise nicht mehr ertragen. Ein altes Leiden stellte sich wieder ein und machte ihrem Leben vorschnell ein Ende. Im April stand ich am Sterbebette und Grabe der Dreiundsechzigjährigen. Der Briefwechsel mit ihr war mir im Winter ein Bedürfnis geworden, ohne welches der Tag seinen Abschluß nicht finden konnte. So bin ich denn seit meiner letzten Rückkehr aus Lemberg im Anfang Mai dieses Jahres in jene hypochondrische Einsamkeit zurückgeschlagen, von der ich oben sprach. [U]nd ich bin noch nicht so stark gewesen, mich ganz aufzuraffen und dem Leben wieder ins Auge zu schauen. An einem besseren, klareren Tage des Mai mag es gewesen sein, als ich Ihnen jenen Brief schrieb, dessen Antwort vor mir liegt. Er war ein heller Moment innerhalb meines Dunkels. Und nun – damit kehre ich wieder zu der Darstellung [m]eines geistigen Lebens zurück und bringe sie zum Abschluße – ist seit jeher meine Arbeit aufs innigste mit meiner Seelenstimmung verquickt. Alles was ich schreibe, ist von Tag und Stunde abhängig, und darum arbeite ich so schwer, so unzusammenhängend, so ungleich. Jene himmlische Gelehrtenruhe, wie sie DF. Strauß in seinen letzten Lebensjahren umgab, ist mir ein unerreichbares [I]deal. So bin ich entstanden, so bin ich, so lebe ich! Wenn die Menschen wirklich mit dreißig Jahren fertig sind, so bin ich bald fertig und muß dann den Rest meines Lebens so bleiben! Sei’s! Seit 5 Tagen bin ich der militärischen Kleidung ledig und athme wieder auf. Es ist eine Qual, die Sie nicht [k]ennen. Man wird während solcher vier Wochen ganz dumm. Außerdem sind mir meine Ferien ganz verdorben und ich hätte gerade heuer ausgiebige Luftveränderung nöthig gehabt. So gehe ich blos (circa am 15.) nach Vöslau zu Minor, dann zu meinem Bruder nach Brunn und endlich zu den Eltern nach Wien. Am 13. Oct. muß ich hier sein und die Mühle beginnt.
Laßen Sie mich daher heute von litterarischen Plänen und Arbeiten schweigen; habe ich doch auch bemerkenswerte Fortschritte nicht zu berichten. Ihre Geduld aber habe ich in so starkem Maße mißbraucht, daß es Zeit ist, das Tintenfa[ß] zu schließen. Vergelten Sie nicht Gleiches mit Gleichem und laßen Sie mich, wo immer der Brief Sie treffe, mit ein paar Zeilen wißen, wie es Ihnen gehe.
Erich Schmidts Exodus nach Berlin scheint verschoben zu sein. Haben Sie nicht Aussicht nach Zürich. Ich werde mich wol um die Bedingungen [er]kundigen; hingehen aber möchte ich nicht.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr
Treulichst Ergebener
Sauer

Ich schreibe Ihnen nach mehrjähriger brieflicher Bekanntschaft einen aus dem geschäftlichen Verkehr herausgehenden, warm angehauchten Brief, wie ich ihn längst im Sinne trug, weil Sie mir unter den Fachgenossen, die mir nicht längst zu Freunden angehören, am meisten lieb und wert geworden waren. Sie weisen meine Bitte um ausführlichere Nachricht nicht von sich. Sie schreiben mir einen langen, freundlichen Lebensbrief, wenn [i]ch so sagen darf, Sie legen mir den Entwickelungsgang Ihrer Studien dar, schildern mir Ihren Umgang, Ihre Arbeitsweise. [...] Wenn ich Ihnen einen Umriß meiner äußeren und inneren Entwicke[l]ung zu geben versuche, so müßte ich wol zuerst Neu-Oesterreich Ihnen schildern, wie es seit 48, 59 und 66 sich herausgestaltet hat.

Sauer würdigte Seufferts Offenheit und seine Ausführungen über seinen Werdegang. Er geht in seinem Antwortbrief umfangreich auf seine eigene Entwicklung ein, die er in den Kontext zeithistorischer und sozialer Entwicklungen einbettet. Der Brief hat einen Umfang von 22 Seiten.

Herbst 1879 zog ich nach Lemberg. Wenn ich die vier Jahre dieser Übergangszeit überblicke, in der ich alles gearbeitet habe, was von mir vorliegt, so kann ich sie nicht als günstig für meine Entwickelung ansehen. Ich war dem eigentlich wissenschaftlichen Leben völlig entfremdet. Ich mußte alles aus mir selbst heraufpu[mp]en; das ist schlecht für erst reifende Menschen, die der Anregung bedürfen, wie dürres Gras eines Gewitterregens.

August Sauer reflektierte seine Erfahrungen, die er an der Universität Lemberg gemacht hatte.

Zum Glück gab er [Richard Heinzel] wenig eigenes, sondern es waren wörtlich & buchstäblich Scherers Collegien, die er uns mittheilte u. so bin ich indirect vom ersten Semester an Scherers Schüler gewesen. Und er erfüllte uns mit solchem Enthusiasmus zu seinem gleichaltrigen, [b]egabteren Freunde, sprach mit solcher Ehrfurcht und doch wieder mit solcher Liebe und Hingebung von ihm und seinen Arbeiten, daß wir Scherer als den Mittelpunkt unserer Wissenschaft ansahen, uns auf alles stürzten, was aus seinem Munde kam und ihm uns mit Leib und Seele zu eigen gaben. Scherer persönlich kennen zu lernen, war das sehnsüchtigste Ziel meiner ganzen Studentenzeit; [die] Griechen können nicht erhabener von Delphi gedacht haben als ich damals von Strßbrg. Es war ein Fieber, an dem ich förmlich krank lag.

Für August Sauer hingegen war Wilhelm Scherer ein großes Vorbild im Lauf seiner wissenschaftlichen Ausbildung. Bereits während seines Studiums in Graz kam er über die Vorlesungen bei Richard Heinzel in Kontakt mit Scherers wissenschaftlichen Arbeiten. Im Wintersemester 1877/78 sowie im Sommersemester 1878 studierte Sauer, ausgestattet mit einem Stipendium des österreichischen Unterrichtsministeriums, bei Scherer in Berlin.

Briefdaten

Schreibort: Graz
Empfangsort: Würzburg
Archiv: Österreichische Nationalbibliothek
Zustand: archivarisch einwandfreier Zustand, allerdings kleinräumige Textverluste durch nachträgliche Lochung
Signatur: Autogr. 422/1-44
Umfang: 22 Seite(n)

Status

Transkription mehrfach geprüft, Text teilweise getaggt

Zitiervorschlag

Brief ID-8283 [Druckausgabe Nr. 42]. In: Der Briefwechsel zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert 1880 bis 1926. Digitale Edition. Hrsg. von Bernhard Fetz, Hans-Harald Müller, Marcel Illetschko, Mirko Nottscheid und Desiree Hebenstreit. Wien: Österreichische Nationalbibliothek, Version 2.0, 2.7.2020. URL: https://edition.onb.ac.at/sauer-seuffert/o:bss.8283/methods/sdef:TEI/get

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