Zurück zur eigentlichen Frage: Wie
würde sich ein solcher Kommentar für den politischen Essay Die
Nation als Ideal und als Wirklichkeit darstellen lassen? Ich beziehe mich
zur Beantwortung dieser Frage, wie erinnerlich, auf das Vier-Ebenen-Schema: a)
Textgenese, b) Intratext, c) Intertext und Interdiskurs mit Musil, d) Interdiskurs
nach Musil. Ad a) Neben üblichen metatextuellen Informationen zu Zeit und Ort der
Veröffentlichung des Essays im sog. textgenetischen Dossier würde die Textvarianz in
den beiden erwähnten Fällen (andere
und Wage
) wie in der derzeit zugänglichen Online-Präsentation des MoE als
Mouseover direkt im Text angeboten. Ad b) Intratextuelle bzw. genau genommen:
werkinterne intertextuelle Verweise müsste der interdiskursive Kommentar unter
Angabe einer Begründung – die zugleich eine Verbindung zu c und d herstellt
(insofern die im Essay verhandelten Themen wie Nation/Nationalismus
, Rasse
, Staat/Organisation/Institution
und Idealismus
auf
umfassendere Diskursfelder wie Politikwissenschaft, Biologie, Soziologie und
Philosophie verweisen, an welchen sowohl Musil selbst und seine Referenzautoren als
auch die fachwissenschaftliche Rezeption partizipieren) – nicht nur an der Stelle
bieten, wo die KA unter Sommererlebnis
eine Sprungverknüpfung
zum Vorkriegsessay Europäertum, Krieg, Deutschtum aufweist. Hier gälte es vielmehr,
die Textkonstellation als solche zu repräsentieren (die den genannten Vorkriegsessay
wie auch die thematisch einschlägigen politischen Essays beinhaltet, in denen die
Frage der Nation
eine Rolle spielt, etwa Politik in Österreich von 1912, Buridans
Österreicher, Der Anschluß an Deutschland (beide
1919) sowie Geist und Erfahrung (1921) und Das hilflose Europa (1922), darüber hinaus entsprechende
Kapitel aus dem MoE sowie Stellen aus dem Nachlass). Dazu gehörte dann etwa auch ein
Verweis auf ein Exzerpt aus Wilhelm Sauers 1933 (in Heft 1 des Archivs für Rechts- und Sozialphilosophie, XXVII. Jg., S. 1-43)
erschienenem Aufsatz (von Bringazi fälschlicherweise als Buch bezeichnet) Schöpferisches Volkstum als national- und weltpolitisches
Prinzip mit dem Untertitel Zur Klärung der rechts- und
sozialphilosophischen Grundlagen der nationalsozialistischen Bewegung, das
Musil im vorerwähnten Schwarzen Heft 34 (weich) anfertigt: ,Rasse
ist nicht selbst ein Wert, sondern nur eine Wertvoraussetzung. Rasse ist nur
eine Bedingung für Kultur, freilich eine unerläßliche, früher nicht genügend
gewürdigte.‘
(KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Hefte/34) – und das Bringazi mit
der bereits zitierten Textpassage im Nation-Essay in
Verbindung bringt,1 wonach „der Begriff der Nation […] nicht institutiv
als etwas zu Bildendes zugegeben, sondern konstitutiv als etwas Vorhandenes
behauptet [wurde]“
(KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/Die Nation als Ideal und
[als] Wirklichkeit/1245). Eine wichtige Beobachtung, die der interdiskursive
Kommentar dem interessierten User nicht vorenthalten sollte. Bringazis Feststellung
hingegen, dass diese Position des eigenen Aussagen zufolge vom Nationalsozialismus
begeisterten Rechtswissenschaftlers Sauer (dennoch, ist man versucht zu sagen) mit
der Auffassung Musils korrespondiere,2
stellt ein interpretierendes Urteil über diesen intertextuellen Zusammenhang dar, zu
dem der User des Online-Kommentars allenfalls selbst gelangen mag – und zu dem er
gelangen können soll, aber nicht gelangen muss. Ad c) und d) In der erwähnten Passage im Schwarzen Heft 34 (Herbst – Ende 1933) exzerpiert Musil (im Übrigen keineswegs
unkommentiert, wie Bringazi behauptet;3
unmittelbar vor dem zitierten Exzerpt heißt es z. B.: „Anscheinend
ist die gotische Seele der heroische Mensch“
) nicht nur aus Wilhelm Sauers
Text, er verweist auch auf eine Schrift des Rechtssoziologen Julius (Gyula) Moór Über den Pazifismus (in einer Festschrift für Hans Kelsen),
Eric(h) Voegelins im selben Jahr erschienenes Buch Rasse und
Staat und paraphrasiert ein Zitat aus Hitlers Mein
Kampf, das er in Sauers Artikel findet. Die KA weist verdienstvoller Weise
die konkrete Intertextualität nach, soweit sie zwischen Musils Exzerpten,
Paraphrasen u. Ä. im Schwarzen Heft einerseits und Sauers Aufsatz andererseits
besteht, und bietet dem User sogar die von Sauer zitierte und von Musil erwähnte
Hitler-Stelle. Da sie allerdings auf die Etablierung jener für unser Konzept des
Online-Kommentars entscheidende Ebene (c) Intertext / Interdiskurs mit Musil
verzichtet, gelangt der Nutzer der KA ohne den von Bringazi in seiner
Forschungsarbeit gegebenen Hinweis auf die Verbindung zwischen Essay und Hefteintrag
nie in den Genuss dieser zum Verständnis des Nation-Essays
bedeutsamen Informationen über größere diskursive Zusammenhänge der darin
entwickelten Argumentation Musils, wenn er nur diesen Essay liest; und umgekehrt
gibt es für den User der KA keinen Weg und keine Brücke von der Lektüre der im
Schwarzen Heft 34 von Musil angefertigten Notizen zum Nation-Essay (oder anderen einschlägigen politischen Texten Musils).
Wohlgemerkt: Die Herstellung dieser Verbindung ist weder zwingend noch
verpflichtend, der Leser / User kann sich dem Musiltext auch ohne sie widmen; da sie
aber sowohl auf der Ebene (c) der Intertextualität mit Musil als auch der Ebene (d)
der Interdiskursivität nach Musil nachweislich besteht, sollte er die Möglichkeit
haben, bei Bedarf von dieser bereits erbrachten Editions- und Forschungsleistung auf
seine eigenständige Weise zu profitieren. Die politischen Essays Musils, der Aufsatz
Sauers, das Buch Voegelins und Hitlers Mein Kampf bilden
zusammen mit deren jeweiligen intertextuellen und Rezeptionskontexten sowie mit
weiteren, hier ausgesparten Texten und Autoren das interdiskursive Feld zum
Themenkomplex Nation
, in dem der Nation-Essay situiert ist und von dem her er seine textuelle Wirkung
entfaltet. Eine wesentliche Aufgabe im Rahmen des Kommentarprojekts besteht darin,
Anzahl und Thema derartiger Diskurskonstellationen zu eruieren und vorläufig
festzulegen, die einen maßgeblichen Aspekt des interdiskursiven Kommentars auf MUSIL
ONLINE bilden. Auch mit diesem Ansatz folgt das Projekt einem für Musils Schreiben
substanziellen Prinzip von sowohl philosophisch-theoretischer wie gleichsam
literarisch-praktischer Bedeutung, das mit der von Derrida wiederholt ins Treffen
geführten fehlenden Unschuld auch und gerade der Begriffe konvergiert: Dass die „Begriffe Rasse, Nation, Volk, Kultur“
, wie Musil im zwei
Jahre nach dem Nation-Essay verfassten Essay-Entwurf Der deutsche Mensch als Symptom schreibt, „Fragen [enthalten] und nicht Antworten“
(KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente
aus dem Nachlass/Der deutsche Mensch als Symptom), liegt ihm zufolge daran, dass sie
„nicht soziologische Elemente [sind], sondern komplexe
Ergebnisse“
(ebd.) – mit Hölderlins Hyperion
gesprochen: „von Kindheit, Unschuld haben wir keine
Begriffe.“
4 Diesem
Komplexitätsprinzip folgen auch Musils eigene Texte, und die polemisch gehaltenen
Passagen in ihnen zumal, insofern sie keine begrifflichen Gegebenheiten aufgreifen,
benennen oder darstellen, sondern komplexe Ergebnisse intertextueller wie
interdiskursiver Prozesse repräsentieren – auch dort, wo sie scheinbar nur
apodiktisch tönen. Der Indikativ ist angesichts dieser vielschichtigen Musil’schen
Vertextungsprozesse (Nübel) auch in den polemischen Texten kein hinreichender
Ausweis für Übereinstimmung zwischen dem, was da indikativisch behauptet wird, auf
der einen Seite und dem, was man dem auktorialen Ich, geschweige denn dem Autor
Musil, als dessen Ansicht unterstellen kann oder will, auf der anderen Seite. In
diese Falle, die vermeiden zu helfen der interdiskursive Kommentar ebenfalls dienen
mag, tappt m. E. ausgerechnet der sonst so akribisch vorgehende und Musil umfassend
und genau lesende Bringazi,5 wenn er, durch Fettdruck im Zitat hervorgehoben, als vermeintliche
Auffassung Musils ausgibt, was im Nation-Essay doch unter
der deutlichen Markierung als mögliche Einwendung („Man wird daher
einwerfen […]“
) gegen die zuvor geäußerte Feststellung steht, die Nation
sei „eine Einbildung, in allen Fassungen, die man ihr gab“
:
„Unabhängig davon, ob es eine Nation gibt oder nicht, hat die
Annahme, daß es sie gebe, einen Wert […]“
(KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/Die
Nation als Ideal und [als] Wirklichkeit/1244) Auch diese Aussage unterliegt, anders
als Bringazi insinuiert, dem Prinzip der konstruktiven Ironie, sie findet sich im
Essay genauso polemisch dekonstruiert, könnte man sagen, wie alle anderen,
vergleichsweise deutlicher, ja unmittelbar positiv oder negativ bezüglich des
Bestehens der Nation (nicht nur als Begriff oder Wert) Position beziehenden Theorien
– denn selbstverständlich käme ein solcher (gleichsam heuristischer) Wert auch der
gegenteiligen Annahme zu, dass es die Nation nämlich nicht gebe. Auf dem „Weg in der Richtung Ermöglichung der Urteilsbildung“
(so
Musil im Kontext einer Notiz zu Monarchismus und Anti-Monarchismus; KA/Lesetexte/Bd.
16 Frühe Hefte/Heft 8/Mödling-Berlin, April 1920) sollte der interdiskursive
Kommentar den User unterstützen, nicht ihm vorauslaufen.
Dazu würde freilich noch ungleich
mehr und anderes gehören, als ich hier anführen kann. Ich formuliere als Fingerzeige
daher lediglich zwei m. E. besonders signifikante und wohl auch kontroverse
Beispiele aus dem Nation-Essay: (a) Müsste der
interdiskursive Kommentar nicht auch zu der – sich sonst gut ins Bild der erwähnten
Rede von den „komplexen Ergebnissen“
, welche Begriffe wie
Nation, Rasse etc. bilden, fügenden – Passage etwas sagen, die da lautet: „Wenn Rasse so ein einfaches Problem wäre wie ein Würfel“
? Und
wenn ja, was? Ist es mit der angesprochenen Passung zum oppositionellen Begriffspaar
Komplexität vs. Einfachheit getan, etwa in der Art: Rasse ist eben kein so einfaches
Problem wie ein Würfel? Oder müsste man nicht vielmehr fragen – und hätte
kommentarseitig ggf. zu (er-)klären –, warum bzw. in welcher Hinsicht ein Würfel
überhaupt ein Problem darstellt, und sei es ein einfaches? Welchem (Inter-)Diskurs
oder welchen (Inter-)Diskursen gehören Vergleiche wie dieser an – die sich häufig
bei Musil finden, Vergleiche zwischen gesellschaftlich-politischen Themen einerseits
und naturwissenschaftlich-mathematischen andererseits (Walter Fanta führt den
Vergleich mit der Kugel an)? Bekanntlich ist der Würfel eines der Lieblingsbeispiele
des Phänomenologen Edmund Husserl (mit dessen Denken Musil seit der Arbeit an seiner
Dissertation wohlvertraut war), wenn es darum geht, die Gegenstandskonstitution
überhaupt zu veranschaulichen. Und warum ist mit Bezug auf die Rassenfrage das
Vergleichsobjekt der Würfel, wo es doch zweifellos noch einfachere geometrische
Gebilde gibt als diesen? Darf der Kommentar der Versuchung nachgeben, hier eine über
die Assonanz Würfel – Werfel etablierte intratextuelle bzw. werkintern
intertextuelle Referenz auf die Figur Feuermaul im MoE in den Hyperraum zu stellen?
Müsste er das nicht vielleicht sogar, um auch anderen bei schriftstellerischen
Vertextungsprozessen mit im Spiel seienden Mechanismen Rechnung zu tragen, und
handle es sich dabei auch um möglicherweise unbewusste? (b) Gilt nicht
Vergleichbares eventuell auch für die Stelle „Proletarier,
Kapitalisten, Ichthyologen, Maler und so weiter, das sind schon heute die
natürlichen Weltverbände […]“
? (KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/Die Nation als
Ideal und [als] Wirklichkeit/1246f.; die KA liefert zu Ichthyologen
übrigens freundlicherweise eine Begriffserklärung.) Es
handelt sich dabei um die teils wörtliche Wiederaufnahme einer früher im Text
vorfindlichen Formulierung, die Birgit Nübel in ihrem Handbuch
-Artikel heranzieht, um zu belegen, dass und wie Musil im Nation-Essay "das großdeutsch-emphatische
,Wir Deutsche‘ als ,Fiktion‘ entlarvt“
6. Diese frühere Stelle lautet: „Das
wahre Wir ist: Wir sind einander nichts. Wir sind Kapitalisten, Proletarier,
Geistige, Katholiken … und in Wahrheit viel mehr in unsere Sonderinteressen und
über alle Grenzen weg verflochten als untereinander.“
(KA/Lesetexte/Bd. 12
Essays/Die Nation als Ideal und [als] Wirklichkeit/1243) Woher kommen bei der
Wiederaufnahme der Aufzählung die Ichthyologen? Ist das eine berechtigte Frage,
eine, die eine Stellungnahme durch den interdiskursiven Kommentar erfordert? Ist es
Rechtfertigung genug zu sagen, ich
bin bei meiner Lektüre des
Essays darüber gestolpert? Natürlich kann man Argumente dafür finden, dass die Wahl
der Ichthyologen rein zufällig sei und ihre Außergewöhnlichkeit im Vergleich mit den
auf sie folgenden Malern nur die Beliebigkeit dieser Wahl unterstreiche, welche dazu
diene, den ganzen Satz, die ganze Passage als ironisch zu markieren. Andererseits
ist es womöglich nicht insignifikant festzustellen, dass im Vergleich mit der ersten
Aufzählung bei der zweiten, während Kapitalisten und Proletarier lediglich die
Plätze tauschen, an die Stelle der Geistigen nunmehr die Ichthyologen treten und an
die Stelle der Katholiken die Maler. Warum nicht die Ichthyologen an die Stelle der
Katholiken, angesichts der Ubiquität und allgemeinen Bekanntheit der christlichen
Fisch-Metaphorik? Hat die Isotopie Geistigkeit – Ichthyologie (wenn sie denn
besteht) eine besondere Bedeutung? Spricht diese Beobachtung im Gegenteil für die
Beliebigkeit der Wahl und Irrelevanz jeglicher Befassung mit der Parallelität der
Stellen, oder motiviert sie uns zur Suche nach anderen Erklärungsansätzen? Etwa
demjenigen, dass sich hinter der doch recht exklusiven Wahl der Ichthyologie auf
verschlungene Weise wiederum ein ganzer intertextueller und interdiskursiver Kontext
verbirgt, den zumindest anzudeuten dem Online-Kommentar gut anstünde? Neben der
Feststellung, dass die Ichthyologie aparter Weise mit den im Kapitelkomplex
Parallelaktion im Rahmen der Zweiten Genfer Fortsetzungsreihe bei der Beschreibung einer kakanischen Stadt genannten „Fischinspektoren“
(GA 5, S. 183) in sachlicher Beziehung
steht, wäre vielleicht auch an einen durch den Inhalt des Nation-Essays, sofern auch in ihm das Verhältnis des Einzelnen und der
Gemeinschaft, von Individuum und Nation diskutiert wird, naheliegenden, hier wie im
obigen Beispiel über die lautliche Ebene vermittelten Zusammenhang zu Musils
Beschäftigung mit Mach und dessen auf die Parole von der Unrettbarkeit
des Ichs komprimierbarer Kritik am Subjekt der Erkenntnis zu
denken (Diskurskonstellation I, Literatur-Wissenschaft / Erkenntnistheorie, was
zugleich mit dem ersten Beispiel vom Würfel-Vergleich korrelierbar wäre). Möglich
wäre ebenso eine intratextuelle (werkintern intertextuelle) Referenz zu anderen, im
Zusammenhang mit der Nationenproblematik niedergeschriebenen Texten Musils über die
offene Frage des Ichs, wie z. B. der folgenden Nachlassnotiz: „Was
bin ich? Einer unter mehr als 40 Millionen Deutschen. Die ich nicht kenne. Dir
mir daher bis auf verschwindend wenige vollkommen wurst sind. Mit denen mich so
leblose Beziehungen verbinden wie Staatszusammengehörigkeit, Patriotismus.“
(KA/Transkriptionen und Faksimiles/Nachlass/Heft 29, 8 und 9) Von der möglichen
Zugehörigkeit dieser Ichthyologie
zum weiten Diskursfeld der
Philosophie des deutschen Idealismus ganz abgesehen (die freilich, worauf auch Nübel
hinweist, im Nation-Essay eine nicht unbeträchtliche Rolle
spielt). Ich will nicht verhehlen, dass die graphematisch-druck- (bzw.
satz-)technische Kontingenz, die es bedingt hat, dass in der Rowohlt-Ausgabe des
Essays die Worttrennung just zwischen Ich
- und thyologen
erfolgt (vgl. GW 8, S. 1073f.), mich zu solchen
Überlegungen angestiftet hat; deren Beurteilung überlasse ich dem Leser – bzw. sie
bliebe, so jene denn in irgend einer Form im interdiskursiven Online-Kommentar
realisiert werden sollten, dem User überlassen.