Und genau in dieser Stadt verbrachte Robert Musil einen großen Teil seiner Kindheit und Jugend bis zu seiner Ausbildung an der deutschen technischen Hochschule, so daß er den tschechisch-deutschen Sprachenkonflikt schon in seiner Schulzeit aus der Perspektive des einer altösterreichischen Beamtenfamilie entstammenden Sprößlings miterlebt haben dürfte (obwohl Musil seinem Namen nach ebenfalls tschechische Wurzeln hat).
In einer Kapitelstudie zum MANN OHNE EIGENSCHAFTEN skizzierte Musil einige Überlegungen für eine „Beschreibung der Brünner“, in welcher seine eigentliche ,Heimatstadt‘ als ,eine der am vorbildlichsten gemischten Städte“ der Monarchie dargestellt werden sollte, da sie ihm als „Schauplatz erbitterter Kämpfe“ zwischen den dort ansässigen Nationalitäten geradezu wie ein Modellfall für die Nationalitätenproblematik im Gesamtreich der Österreichisch-Ungarischen Monarchie erschien und neben einigen anderen den sogenannten „Herd d. Weltkriegs“ bildete (MoE 1867). In einer anderen Nachlaßnotiz zur Konstellation der Nationalitätenfrage in Brünn wies Musil mit Hilfe einer Statistik über die Bildungseinrichtungen der beiden Volksgruppen ganz konkret auf die elementare Bedeutung hin, die der Sprachenfrage ud ihrer teilweisen Überlagerung mit sozialen und nationalen Konflikten in dieser Stadt tatsächlich zukam.
„Geschichte, Kern und Reichtum und Mehrheit und der ganze in ihr
eingelagerte Beamtenapparat dieser Stadt waren deutsch;
jeden Morgen holten aber die Sirenen der Fabriken aus den Dörfern der Umgebung
Scharen von tschechischen # bäuerlichen # Arbeitern herein, und verstreuten sie
zwar abends wieder über das Land, aber im Laufe der Jahrzehnte blieb davon doch
immer mehr in der Stadt hängen und machte (…) das schon vorhandene
Kleinbürgertum kräftig nach oben wachsen.
:: 71% Tschechen 29% Deutsche
1529 Volksschulen 677
7 Gymnasien 14
3 Realschulen 15 ::
Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon
ein gewisses Maß von Kultur, so hätte sich hier eine besondere österreichische
Kultur entwickelt, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder
tschechisch noch deutsch, sondern ein selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen,
was die Tschechen irrtümlich später Germanisierung nannten. Man stand in Kkanien
damals noch auf dem Standpunkt, daß es nicht gut sei, wenn die einfachen Leute
zuviel lernen. […] Es stak ein Stück altösterreichischer Überlieferung darin,
den Menschen nur mit Bedacht das Vorwärtskommen zu erleichtern, wenn sie nicht
schon aus Kreisen stammten, zu deren Rechten es gehörte. De Tschechen haben das
Germanisierung genannt u. Umschichtung der europäischen Macht (…). Die Zahl der
Schulen entsprach diesem Verhältnis nur auf der untersten Stufe, an höheren
Bildungsanstalten hatten dagegen die Deutschen doppelt soviel und die Tschechen
um die Hälfte zu wenig, als ihnen der Zahl nach zugekommen wäre."
(NM
VII/1/61; Hervorhebung: F.B.)
Musil problematisiert hier die Koinzidenz zweier Parameter der kollektiven Identitätsbildung – nämlich nationale Zugehörigkeit und Sozialerfolg –, die beide durch die Verwendung von Sprache vermittelt sind. Vordergründig scheint es, als ob die nationalen und sozialen Gegensätze zwischen den beiden Volksgruppen durch den Gebrauch einer gemeinsamen Mischsprache miteinander versöhnt würden, da mit ihr die Verständigungsbereitschaft prinzipiell aufrechterhalten bleibt. Zudem ist eine solche regionale Ausgleichssprache, die sich durch eine Einebnung der Dialektunterschiede auszeichnet, das Resultat einer langen Entwicklung, die darauf schließen läßt, daß die beiden Volksgruppen schon vor Jahrhunderten eine enge Kommunikation pflegten. Jedenfalls sah Musil in der Brünner Mischsprache, welche die sprachliche Kluft zwischen dem Deutschen und dem Tschechischen überbrückt, indem sie syntaktische Anleihen und semantische Entlehnungen aus beiden Sprachen zu einem intermediären Sprachsystem kombiniert, eine Erscheinung, die aufgrund ihrer Übernationalität noch eher „eine besondere österreichische Kultur“ (NM VII/1/61) genannt zu werden verdient, als das sture Beharren beider Seiten auf einen – womöglich nationalistisch motivierten – deutschen oder tschechischen Sprachpurismus. Betrachtet man die Beziehungen zwischen Sprache, Bildung und Sozialerfolg aber im Detail, so stellt sich bald heraus, daß zwischen diesen gesellschaftlichen Komponenten ein ursächlicher Zusammenhang besteht, der sich ungefähr in folgendes Ursache-Wirkung-Schema fassen läßt.
Daß nämlich diese sprachliche Völkerverständigung nur auf der unteren sozialen Ebene stattfand, zeigt nicht nur der Umstand, daß der Gebrauch des Dialekts mit zunehmendem Sozial- und Bildungsniveau kontinuierlich abnimmt, sondern auch die Tatsache, daß „die kleinen Leute dieser Stadt“ (NM VII/1/61) gerade aufgrund ihrer mangelnden Beherrschung der (deutschen) Geschäfts- und Verwaltungssprache vom sozialen Erfolg und Wohlstand der deutschsprachigen Bevölkerung weitgehend ausgeschlossen geblieben waren. Diese Ausgrenzung mit Hilfe der Sprache war ganz im Sinne des Grafen Leinsdorf, der die zynische Meinung vertrat: „an einer Bildung ist das wichtigste das, was sie dem Menschen verbietet“ (MoE 846). Hinter der österreichischen Sprachenpolitik, die das Deutsche trotz der Minderzahl ihrer Sprecher zur allgemein verbindlichen Standardsprache erhob, verbarg sich der (lange Zeit erfolgreiche) Versuch einer sozialen und nationalen Deregulierung, mit deren Hilfe die österreichischen Machthaber verhindern wollten, daß „die einfachen Leute“, welche in der Mehrzahl der tschechischen Volksgruppe zugehörig waren, „zuviel lernen“, weil sie nämlich sonst zu befürchten gehabt hätten, diese könnten mit ihrem neuerworbenen Wissen womöglich eine „Umschichtung der europäischen Macht“ (NM VII/1/61) zugunsten ihrer eigenen Nation betreiben. So gesehen lag der Gebrauch der Brünner Mischsprache durchaus im Interesse der deutschsprachigen Machthaber, da ihr Fortbestand auch weiterhin den Ausschluß eines Großteils der tschechischen Bevölkerungsgruppe aus den gesellschaftlichen Machtpositionen zementierte, so daß die soziale Spaltung zwischen Armen und Reichen mit einer nationalen Benachteiligung der Tschechen weitgehend identisch war und daher von diesen als „Germanisierung“ (NM VII/1/61) interpretiert werden mußte. Das ordnungspolitische Instrument, mit dem die österreichische Regierung in ihren Kron- und Erbländern eine gezielte Germanisierungspolitik betrieben hatte, war aber weniger – wie die Tschechen offenbar glaubten – die Favorisierung der deutschen Sprache an sich, sondern vielmehr deren Etablierung zur Schlüsselfunktion für den Einlaß in Bildungsinstitutionen wie (höhere) Schulen und Universitäten, mit deren Toren sich in den meisten Fällen zugleich auch der Zugang zu sozialem Erfolg eröffnete.
Die soziale Kluft, welche die Bevölkerung Böhmens und Mährens in eine überwiegend reiche deutsche und in eine tendenziell arme tschechische Nationalität schied, war jedoch in Wirklichkeit nicht so sehr eine direkte Folge der Dominanz der deutschen Sprache in allen gesellschaftlichen Bereichen, als viel eher ein Produkt der damit verbundenen ungleichen Bildungschancen, die sich nicht zuletzt gerade darin manifestierten, daß sich die Zahl der höheren Bildungseinrichtungen umgekehrt proportional zum Bevölkerungsanteil der deutschen bzw. tschechischen Volksgruppe verhielt. Die (höhere) Bildung war also überwiegend den Angehörigen der deutschsprachigen Bevölkerung vorbehalten (Bildung durch Sprache), die somit wiederum durch die bessere Ausbildung ihrer (deutsch)sprachlichen Fähigkeiten (Sprache durch Bildung) die besten Chancen hatten, gesellschaftliche Macht- und Schlüsselpositionen zu besetzen (Besitz durch Bildung der Sprache der Bildung) – und in Anlehnung daran stellt sich nunmehr die von den Tschechen kritisierte „Germanisierung als Folge von Besitz u Bildung“ (MoE 1867; vgl. MoE 98ff) dar. Insofern die (deutsche) Sprache als Mittlerin zwischen „Besitz und Bildung“ auftritt und neben den nationalen Unterschieden auch soziale Diskrepanzen markiert, ist Graf Leinsdorf daher tatsächlich der richtige Adressat für die Demonstration in Brünn, auch wenn sich der Unmut der beiden Volksgruppen an einer Sprachenverordnung entzündet, mit der er persönlich auf den ersten Blick gar nichts zu schaffen hat.