Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge

Ernst Cassirer: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (=Studien der Bibliothek Warburg. Hg. v. Fritz Saxl. Bd. XXIV). Leipzig-Berlin: B. G. Teubner 1932

Die Gnade ist das Vorrecht der höheren Natur, die aus ihrer eigenen Fülle heraus sich an andere mitteilen und von ihrem Überfluß spenden muß. Sie weiß von keinem Zwang, und sie bindet sich nicht an willkürliche, von außen auferlegte Beschränkungen. Gnade kann nicht schlechthin verdient, noch kann sie erzwungen werden; sie ist ein ursprünglicher Liebesakt und ein freier Liebesstrom, der alle Dämme durchbricht und alle Schranken, die zwischen den Einzelwesen aufgerichtet sind, überflutet. Hier sind wir weit ab von jeglicher dogmatischen Verengung und Verhärtung und weit erhaben über alle jene Distinktionen, gemäß denen die scholastische Logik die Gnade als gratia praeveniens und gratia subsequens, als gratia excitans und gratia adjuvans, als gratia sufficiens und als gratia efficax, als gratia operans und cooperans unterschieden hatte. In Portias Worten über die Gnade spricht eine religiöse Grundempfindung, wie sie so stark und so unmittelbar wohl nirgends sonst bei Shakespeare hervorbricht – aber diese Religiosität ist so weit und so frei, daß sie über alle dogmatischen Schranken hinausgreift. Sie kann Antikes und Christliches, sie kann den Begriff der gratia gratis data und den griechischen Eros-Begriff in sich vereinen und in sich versöhnen. Jegliches Sein – so hatte auch Plotin gelehrt – besteht nur dadurch, daß es zugleich anderes sein an sich teilnehmen läßt. Wie die Sonne in sich verbleibt, und doch, ungeachtet dieses Verharrens in sich selbst, alles andere um sich herum mit einem Glanze erfüllt, der stets aufs neue aus ihr geboren wird: so lassen alle seienden Dinge aus sich Wirkungen ausströmen, die ihre Kraft bezeugen und von ihrer Kraft abhängen.1 Eine solche Denkart konnte Shakespeare als Ausdruck seines eigenen Wesens empfinden, das völlig im Zeichen solcher schöpferischen Hingabe und solcher königlichen Verschwendung steht, das seine Kraft bewahrt und erhöht; indem es sie ständig ausströmen und überströmen läßt.

Aber die Höhe der Renaissance-Kultur in England bedeutete zugleich ihr nahendes Ende. Die Schwächen, an denen sie zugrunde gehen sollte, sind schon zu Anfang des 16. Jahrhunderts von den edelsten und tiefsten Geistern der Epoche klar erkannt und scharf bezeichnet worden. Colet, Erasmus und Thomas Morus weisen immer von neuem auf die schweren sittlichen Schäden der Zeit hin – sie dringen auf eine ethisch-religiöse Neugestaltung des Daseins als die notwendige Ergänzung und als die unumgängliche Voraussetzung der Erneuerung des wissenschaftlichen und künstlerischen Geistes. Die soziale Reform, die Thomas Morus in der Utopia fordert, wurzelt in dieser Gesinnung. Die Utopia will kein weltenfernes Ideal zeichnen und kein bloß-erträumtes Nirgendwo schildern. Die literarische Form, die sie wählt, ist nur eine leichte Hülle für die scharfe und schneidende Kritik, die hier an der Gegenwart, an dem politischen und gesellschaftlichen Zustand des damaligen England geübt wird.2 Die Schuld an diesem Zustand wird der herrschenden Klasse zugeschrieben, die in ihrem Streben nach Macht und Reichtum jegliches Maß verloren und jegliche Schranke überschritten habe. "Wenn ich alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, im Geiste betrachte und darüber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu sorgen."3 Ein Heilmittel für diese Schäden sieht Morus allein in der Beseitigung des Privateigentums, die schon Colet, in einer Erläuterung des Römerbriefes, im Prinzip gefordert hatte.4 Auch vor der königlichen Gewalt macht Morus‘ Kritik nicht Halt. Das Verderbliche der Kabinettskriege hat er unerschrocken aufgezeigt und das Prinzip der Volks-Souveränität hat er ausdrücklich verfochten. Das Volk wählt sich einen König um seinetwillen, nicht um des Königs willen: so ist es denn Pflicht des Fürsten, mehr das Wohl der Untertanen als sein eigenes zu bedenken, wie es auch Sache des Hirten ist, eher seiner Herde als sich selbst Nahrung zu schaffen.5 Als Morus diese Sätze schrieb, da war er sich bewußt, wie sehr sie dem herrschenden Geist in der englischen Politik widersprachen – und er hat das eigene Schicksal, das er im Dienste Heinrichs VIII. erfahren sollte, in der Utopia prophetisch vorausgesagt. Er sah den Keim des Verderbens, den die englische Renaissance-Kultur in sich trug, ohne ihm wehren zu können. Das neue England konnte nicht von oben her durch die absolute Königsgewalt oder durch die Macht des Adels und der Hochkirche erschaffen, sondern es mußte in hartnäckiger und geduldiger Arbeit von unten aufgebaut werden. Hier lag die Kraft und das Recht der puritanischen Bewegung. Indem sie all ihre Anstrengungen auf ein einziges religiöses und ein einziges politisches Ziel konzentrierte, mußte sie freilich auf die Weite und Freiheit des Renaissance-Geistes verzichten; aber eben in dieser Beschränkung entfaltete sich nun ihre ganze ungebrochene Energie. Die Religion wird auf das Bibelwort gestellt und mit ängstlicher Sorgfalt an ihm festgehalten. Wenn Whichcote in dem Briefwechsel mit Tuckney die These verficht, daß es innerhalb des Protestantismus keine unfehlbare religiöse Instanz gebe, daß hier vielmehr jedem das Urteil über Glaubenssachen freistehen müsse (cuilibet Christiano conceditur judicium discretionis), so wendet sein puritanischer Gegner, sofort ein, daß dieses Prinzip zwar gegenüber dem Papst gelte, aber niemals gegenüber der Bibel gelten könne. Der Glaube an die Bibel solle und müsse stets eine Art von Köhlerglauben (fides carbonaria) sein; er bedarf keiner Bestätigung von seiten der Vernunft, sondern verlangt ihre völlige Unterwerfung. Die gleiche Stimmung und Gesinnung tritt sodann auf allen andern Lebensgebieten zutage. Überall wird dem Leben als bloßem Leben mißtraut; werden seine rein natürlichen Kräfte hintangehalten. Die Liebe wird als ethisches Prinzip bestritten: denn jede Liebe, die sich direkt auf den Menschen richtet, statt ihn lediglich als Werkzeug in der Hand eines Höheren, als Organ des göttlichen Willens und des göttlichen Ruhmes zu nehmen, wäre bloße Kreaturvergötterung. Die Poesie wird – mit geringen Einschränkungen zugunsten der religiösen Poesie – verworfen; der Kampf gegen das Drama und gegen das Theater nimmt immer schärfere Formen an. Auch die freie theoretische Betrachtung, auch alle Wissenschaft, sofern sie nicht unmittelbar-praktischen Zielen dient, sieht der Puritaner zuletzt als eine Art von Zeitvergeudung an, und vor der Gefahr der weltlichen Bildung, insbesondere vor der Versenkung in die antik-heidnischen Quellen, wird immer wieder gewarnt. So hat sich im England des 17. Jahrhunderts ein Umschwung der Gesinnung vollzogen, der in allen Gebieten sichtbar wird und der zu einer Umkehrung aller Werte, zu einer Abkehr von den Grundidealen der Renaissance hinführt.


Fußnoten

  1. Cf. Plotin, Ennead. V., 1, Cap. 6.
  2. Über den Zusammenhang, der zwischen Thomas Morus‘ Darstellung und den Zuständen und Problemen seiner unmittelbaren Gegenwart besteht, vgl. bes. H. Oncken, Die Utopia des Thomas Morus und das Machtproblem in der Staatslehre (Sitzungsber. der Heidelberger Akad. d. Wissenschaften. Jahrg. 1922, Nr. 2).
  3. Morus, Utopia II, ed. Gerh. Ritter, S. 111.
  4. Vgl. Schirmer, Antike, Renaissance und Platonismus, S. 139.
  5. Utopia, Lib. I (ed. Michels u. Ziegler, p. 34).

Zitiervorschlag
Ernst Cassirer: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (=Studien der Bibliothek Warburg. Hg. v. Fritz Saxl. Bd. XXIV). Leipzig-Berlin: B. G. Teubner 1932, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-cassirer_renaissance_1932/methods/sdef:TEI/get