Die Gnade ist das Vorrecht der höheren Natur, die aus ihrer eigenen Fülle heraus sich
an andere mitteilen und von ihrem Überfluß spenden muß. Sie weiß von keinem Zwang,
und sie bindet sich nicht an willkürliche, von außen auferlegte Beschränkungen.
Gnade kann nicht schlechthin verdient, noch kann sie erzwungen werden; sie ist ein
ursprünglicher Liebesakt und ein freier Liebesstrom, der alle Dämme durchbricht und
alle Schranken, die zwischen den Einzelwesen aufgerichtet sind, überflutet. Hier
sind wir weit ab von jeglicher dogmatischen Verengung und Verhärtung und weit
erhaben über alle jene Distinktionen, gemäß denen die scholastische Logik die Gnade
als gratia praeveniens und gratia
subsequens, als gratia excitans und gratia adjuvans, als gratia sufficiens
und als gratia efficax, als gratia
operans und cooperans unterschieden hatte. In
Portias Worten über die Gnade spricht eine religiöse Grundempfindung, wie sie so
stark und so unmittelbar wohl nirgends sonst bei Shakespeare hervorbricht – aber
diese Religiosität ist so weit und so frei, daß sie über alle dogmatischen Schranken
hinausgreift. Sie kann Antikes und Christliches, sie kann den Begriff der gratia gratis data
und den griechischen Eros-Begriff in sich
vereinen und in sich versöhnen. Jegliches Sein – so hatte auch Plotin gelehrt – besteht nur dadurch, daß es zugleich anderes sein an sich
teilnehmen läßt. Wie die Sonne in sich verbleibt, und doch, ungeachtet dieses
Verharrens in sich selbst, alles andere um sich herum mit einem Glanze erfüllt, der
stets aufs neue aus ihr geboren wird: so lassen alle seienden Dinge aus sich
Wirkungen ausströmen, die ihre Kraft bezeugen und von ihrer Kraft abhängen.1 Eine solche
Denkart konnte Shakespeare als Ausdruck seines eigenen Wesens empfinden, das völlig
im Zeichen solcher schöpferischen Hingabe und solcher königlichen Verschwendung
steht, das seine Kraft bewahrt und erhöht; indem es sie ständig ausströmen und
überströmen läßt.
Aber die Höhe der Renaissance-Kultur in England bedeutete zugleich ihr nahendes Ende.
Die Schwächen, an denen sie zugrunde gehen sollte, sind schon zu Anfang des 16.
Jahrhunderts von den edelsten und tiefsten Geistern der Epoche klar erkannt und
scharf bezeichnet worden. Colet, Erasmus und Thomas Morus weisen immer von neuem auf
die schweren sittlichen Schäden der Zeit hin – sie dringen auf eine
ethisch-religiöse Neugestaltung des Daseins als die notwendige Ergänzung und als die
unumgängliche Voraussetzung der Erneuerung des wissenschaftlichen und künstlerischen
Geistes. Die soziale Reform, die Thomas Morus in der Utopia fordert, wurzelt in
dieser Gesinnung. Die Utopia will kein weltenfernes Ideal zeichnen und kein
bloß-erträumtes Nirgendwo
schildern. Die literarische Form,
die sie wählt, ist nur eine leichte Hülle für die scharfe und schneidende Kritik,
die hier an der Gegenwart, an dem politischen und gesellschaftlichen Zustand des
damaligen England geübt wird.2 Die Schuld
an diesem Zustand wird der herrschenden Klasse zugeschrieben, die in ihrem Streben
nach Macht und Reichtum jegliches Maß verloren und jegliche Schranke überschritten
habe. "Wenn ich alle unsere Staaten, die heute irgendwo in Blüte stehen, im
Geiste betrachte und darüber nachsinne, so stoße ich auf nichts anderes, so wahr
mir Gott helfe, als auf eine Art Verschwörung der Reichen, die den Namen und
Rechtstitel des Staates mißbrauchen, um für ihren eigenen Vorteil zu
sorgen."
3 Ein Heilmittel für
diese Schäden sieht Morus allein in der Beseitigung des Privateigentums, die schon
Colet, in einer Erläuterung des Römerbriefes, im Prinzip gefordert hatte.4 Auch vor der königlichen Gewalt macht Morus‘ Kritik
nicht Halt. Das Verderbliche der Kabinettskriege hat er unerschrocken aufgezeigt und
das Prinzip der Volks-Souveränität hat er ausdrücklich verfochten. Das Volk wählt
sich einen König um seinetwillen, nicht um des Königs willen: so ist es denn Pflicht
des Fürsten, mehr das Wohl der Untertanen als sein eigenes zu bedenken, wie es auch
Sache des Hirten ist, eher seiner Herde als sich selbst Nahrung zu schaffen.5 Als Morus diese Sätze schrieb, da war er sich bewußt,
wie sehr sie dem herrschenden Geist in der englischen Politik widersprachen – und er
hat das eigene Schicksal, das er im Dienste Heinrichs VIII. erfahren sollte, in der
Utopia prophetisch vorausgesagt. Er sah den Keim des Verderbens, den die englische Renaissance-Kultur in sich trug, ohne ihm wehren zu können. Das neue
England konnte nicht von oben her durch die absolute Königsgewalt oder durch die
Macht des Adels und der Hochkirche erschaffen, sondern es mußte in hartnäckiger und
geduldiger Arbeit von unten aufgebaut werden. Hier lag die Kraft und das Recht der
puritanischen Bewegung. Indem sie all ihre Anstrengungen auf ein einziges religiöses
und ein einziges politisches Ziel konzentrierte, mußte sie freilich auf die Weite
und Freiheit des Renaissance-Geistes verzichten; aber eben in dieser Beschränkung
entfaltete sich nun ihre ganze ungebrochene Energie. Die Religion wird auf das
Bibelwort gestellt und mit ängstlicher Sorgfalt an ihm festgehalten. Wenn Whichcote in dem Briefwechsel mit Tuckney die These verficht,
daß es innerhalb des Protestantismus keine unfehlbare religiöse Instanz gebe, daß
hier vielmehr jedem das Urteil über Glaubenssachen freistehen müsse (cuilibet Christiano conceditur judicium discretionis), so
wendet sein puritanischer Gegner, sofort ein, daß dieses Prinzip zwar
gegenüber dem Papst gelte, aber niemals gegenüber der Bibel gelten könne. Der Glaube
an die Bibel solle und müsse stets eine Art von Köhlerglauben (fides carbonaria) sein; er bedarf keiner Bestätigung von seiten der
Vernunft, sondern verlangt ihre völlige Unterwerfung. Die gleiche Stimmung und
Gesinnung tritt sodann auf allen andern Lebensgebieten zutage. Überall wird dem
Leben als bloßem Leben mißtraut; werden seine rein natürlichen
Kräfte hintangehalten. Die Liebe wird als ethisches Prinzip bestritten: denn jede
Liebe, die sich direkt auf den Menschen richtet, statt ihn lediglich als Werkzeug in
der Hand eines Höheren, als Organ des göttlichen Willens und des göttlichen Ruhmes
zu nehmen, wäre bloße Kreaturvergötterung. Die Poesie wird – mit geringen
Einschränkungen zugunsten der religiösen Poesie – verworfen; der Kampf gegen das
Drama und gegen das Theater nimmt immer schärfere Formen an. Auch die freie
theoretische Betrachtung, auch alle Wissenschaft, sofern sie nicht
unmittelbar-praktischen Zielen dient, sieht der Puritaner zuletzt als eine Art von
Zeitvergeudung an, und vor der Gefahr der weltlichen Bildung, insbesondere vor der
Versenkung in die antik-heidnischen Quellen, wird immer wieder gewarnt. So hat sich
im England des 17. Jahrhunderts ein Umschwung der Gesinnung vollzogen, der in allen
Gebieten sichtbar wird und der zu einer Umkehrung aller Werte, zu einer Abkehr von
den Grundidealen der Renaissance hinführt.