Nachlass, Beschreibung einer kakanischen Stadt: Säbelbürokratie und Geschichtsbildentzündung

Fanta, Walter: Nachlass, Beschreibung einer kakanischen Stadt. Säbelbürokratie und Geschichtsbildentzündung. In: Plener, Peter / Wolf, Burkhardt (Hgg.): Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum „Mann ohne Eigenschaften. Zweiter Band: Aktenzeichen MoE – Bürokratie. Berlin: Vorwerk 8. S. 98–102.
Säbelbürokratie und Geschichtsbildentzündung

Musil führte das Programm weiter, die Kriegsausbruchsstimmung von 1914 mit den aktuellen Vorgängen im Deutschen Reich zu synchronisieren. Möglicherweise löste der Aufenthalt in der Tschechoslowakei zur Abfassungszeit im Frühjahr 1933 die Reminiszenz an die Stadt der Jugend aus und bildete die Anregung für die Ausleuchtung der Nationalitätenkämpfe in der Stadt B. im ironisch verklärenden Licht. Nach Kapitel 8, 98, 107–109 im Ersten Buch setzt sich das Kakanien-Thema mit der Tendenz fort, die kakanische Vergangenheit gegen den ungebremsten nationalstaatlichen Chauvinismus der Schreib-Gegenwart auszuspielen.

Apostrophierungen wie »traulich-kakanische Gegend«, der »überall ein wenig« fehlt, »so daß sie im Ganzen weder so noch so war«, gehören ebenso dazu wie die Feststellung einer »weisen Mäßigung Kakaniens« in der Schulpolitik, dass sie z. B. kritische Gegendarstellungen in »den nichtdeutschen Schulen« gegen den Ethnozentrismus der dominierenden deutschen Volksgruppe zumindest nicht unterbunden habe. Die Zuschreibung ethnischer Toleranz an Kakanien provoziert unausgesprochen die Gegenassoziation zur ethnischen Intoleranz der Nachfolgestaaten. Der Erinnerungsfluss des Erzählers gerät im Sog euphemistischen Sprechens in die Bahn einer rückwärtsgewandten Idealvision. Der weise und sogar weiseste Staat Kakanien ist definitiv kein Gegenstand der Satire mehr; konkrete Szenarien zur Dekuvrierung nationaler Ideologie werden ausgespart; jetzt wählt Musil nur mehr die Totale als Einstellung. Als utopischer Möglichkeitsstaat, in dem die Konflikte der Bevölkerungsgruppen in institutionalisierter Form »durchgreifend ausgetragen« würden, wäre Kakanien-Weltösterreich das Modell für eine globale Friedensordnung der Zukunft, es liegt aber in der verlorenen Vergangenheit. Es scheint unmöglich, den Entwurf nicht vor dem Hintergrund des eben erfolgten Exodus Musils aus dem nationalsozialistisch gewordenen Deutschen Reich zu lesen; unmöglich, in ihm nicht die Konträrimagination zur Praxis der Nationalstaatsideologie auf dem Boden der ehemaligen Donaumonarchie zu erkennen.

Nicht bloß institutionalisierte Konfliktregelung zwischen den Nationen, auch staatliche Eingriffe zur Mäßigung der Klassengegensätze werden angedeutet. »In Kakanien aber wurde wohl viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte nichts werden.« Die kakanische Sozial- und Wirtschaftsordnung als eine mit freimarktwirtschaftlichem Rahmen und eingebauten kalmierenden Instanzen, die krasse Ausbeutung ver hindern, erscheint als in die Vergangenheit projizierter idealer Mittelweg zwischen christlich-sozialen und sozialdemokratischen Vorstellungen der Zwischenkriegszeit. Insgesamt deckt sich die rückwärtsgewandte Utopie exakt mit Magris’ Begriff des habsburgischen Mythos, für den die 1930er Jahre die Plattform zur vollen Entfaltung bilden. Nicht nur bei Musil kann die vergangene Monarchie als der »sanfteste aller Staaten« erscheinen, der »in manchem seiner Zeit heimlich vorausstürmte«. In der Antizipation des späteren Übels, das in der kakanischen Sanftheit erst keimhaft enthalten ist, aber auch in der Verfügbarkeit einer Hoffnungsspur ist Kakanien ein Zukunftsstaat. Mehrfach setzt Musil an, Gleichnisse zu bilden, mittels derer Kakanisches sich als Vergangenes und, die Gegenwart überspringend, zugleich Zukünftiges oder durch die Gegenwart verhindertes Zukünftiges ausdrückt, so in der Leugnung des Militarismus der ersten Säbel-Stelle, es »hätte sich der Säbel vielleicht in Kakanien zu einer geistigen Waffe entwickelt.«

Der Säbel symbolisiert staatliche Gewaltausübung. Der Staat bindet zur Etablierung des Gewaltmonopols einen Gutteil seiner Machtressourcen (die Polizei muss mit einer Hand ihre Säbel festhalten) und verschwendet enorme Energien darauf, das Machtmonopol gegen Angriffe von außen zu erhalten (kein Militarismus, da Kakanien eine multinationalnichtimperiale Ordnung verkörpert). Das Bild verlängert sich zur Zukunftsvision eines unbewaffneten Machtmonopols, zur Philosophenherrschaft, der zentralen Idee politischer Utopie seit Platons Politeia und Morus’ Utopia. In Utopia wird konsensuale Konfliktlösung praktiziert, die Machtfrage ist dauerhaft geregelt, geschichtliches Geschehen als Kriegsund Interessenkonfliktgeschehen zu einem Ende gekommen. Kämpfe bestehen als Ringen um geistige Organisation des Gemeinschaftslebens weiter, reale Machtgesichtspunkte sind zu realisierten Ordnungsgedanken mutiert.

Die Unterhaltung Stumms mit den Geschwistern holt die weit ins Spekulative entfernten Wenn-nicht-Konjunktive des Erzählers wieder ein. Das häufig anzutreffende Oszillieren zwischen Erzähler- und Figurenreflexion benützt Musil auch hier. Die Beschreibung der Stadt B. wird zwar als Produkt persönlicher Erinnerung ausgegeben, aber es ist nicht markiert, wie sich das Bild der Stadt B. in welchem der Köpfe Ulrichs, Agathes und des Generals zusammenbaut. Ulrich wird es »ein langentbehrter Genuß, sich in einer ganz alltäglichen Weise reden zu hören; und scheinbar ging es Agathe auch so.« Gemessen an der introspektiven Wahrheit, die die Geschwister in ihren ›Heiligen Gesprächen‹ gewinnen, ist das Gespräch mit Stumm Kolportage (die Demonstrationen in B. gegen Leinsdorf, die Herkunft Feuermauls, die alten Zeiten). Eine Kluft hat sich zwischen dem esoterischen inneren Weg in ein Tausendjähriges Reich und dem äußeren Gang der Geschichte – im Roman, aber auch im Driften der Umwelt des Autors in ein anderes Tausendjähriges Reich – aufgetan. Im Widerstreben der Geschwister, von etwas Gewöhnlichem wie der Stadt B. auf so alltägliche Art zu sprechen, drückt sich das Widerstreben in Musils Schreiben 1933 aus, sich auf das Gesellschaftliche und die Geschichte einzulassen. Wie die Beschreibung in ihrer synthetischen Machart ins suggestiv erzählerische Fließen übergeht, verliert sich das Widerstreben allmählich, Ulrich fühlt sich von der Umgebung der Stadt B. »heimatfeindlichangeheimelt «. Wo die Beschreibung die Sphäre der Historizität verlässt und in die Utopie eintritt, verschwindet das Geräusch alltäglichen Sprechens. Für einen Moment ersteht im Kakanien-Bild das (kollektiv gefasste) Gegenstück zur (individuell gefassten) imaginären Reise Ulrichs und Agathes: der ›Staat ohne Eigenschaften‹. Die Stelle, an der die Vision von Kakanien abbricht, wo Stumm das Wort an sich zieht, würde so, wenn Musil bei diesem Textverlauf geblieben wäre, einen großen Übergang im Roman markieren: Die Erinnerung an das Einst, eine kollektive Schau (alle drei Gesprächspartner haben gemeinsam teil), hat sich ins Utopische verloren. Die sich einschaltende Rede Stumms holt das Gespräch in die Realität zurück, mit der zweiten Säbel-Stelle: »daß nämlich die Priester eigentlich Säbel bekommen müßten«.

Die Kakanien-Illusion ist aufgehoben, ins Lächerliche gezogen. Der Schein der rückwärtsgerichteten kakanischen Utopie blitzt im Bild der Stadt B. erst auf, dann erlischt er. Auf den Schmierblättern und in den Randnotizen des Kapitelprojekts von 1933 deutet sich im Schreiben eine neue Lösung an: episch zu integrieren, wie »sich Kriege an Bildern entzünden«. Die Formel lautet: »Der Weltkrieg ist wegen eines Bildes entstanden (wie der Trojanische wegen einer Frau)«. Zur bildhaften Passage »Jeden Morgen erwachen Städte und Dörfer« ist am Rand angemerkt: »Wie kommt es, daß Dörfer und Städte friedlich unberührt leben, während sich das Historische ballt? Bilderbuchzustand der Welt ist das Entscheidende!« Mit dem »gleichen Recht auf Dasein, das ein Riesendampfer ausdrückt, der zwischen zwei Kontinenten unterwegs ist, fliegen kleine Vögel von einem Ast zum andern«. Der Riesendampfer steht für den Gang der Weltgeschichte mit ihrer politisch-militärischen Ereignishaftigkeit, die kleinen Vögel repräsentieren die Einzelexistenzen, deren kontingente Geschichten mehr oder weniger unverbunden dastehen. Beim Riesenschiff steht in einer Randglosse, es müsse alles »doch nach einem Gesetz geschehn, sonst führt es zu Katastrophen wie in B.« Musil baut auf Klassikern geschichtstheoretischer Reflexion auf; zum Moralprinzip in der Geschichte auf Nietzsche, zum Begriff der Strukturgeschichte etwa auf Max Weber. Menschliches Tun zeigt sich einerseits moralbestimmt, demnach werden geschichtliche Ereignisse als Moralfolgen gesehen (Männer machen Geschichte: Ereignisgeschichte). Andererseits erscheint das Einzelgeschehen als Folge sozioökonomischer Makrostrukturen (Umstände und Verhältnisse machen Geschichte: Strukturgeschichte). Das Fehlen von Struktur – »in einer hilflosen und seligen Fülle« – begründet die Katastrophe, nicht Wertezerfall wie bei Broch, sondern die Überhandnahme von Anomie.

Ein Anschein von Zufälligkeit bei allem stellt sich her, weil die Unzahl unverbundener Verlaufsformen keinen Sinn, kein Gesetz ergibt, wollte man nicht eines fingieren. Ursachen werden unsichtbar, der erklärende Zugang zu historischen Konfliktherden ist von Kontingenz verschüttet. Die Differenz zu Brochs Schlafwandlern (ab 1930) ist nicht zu übersehen. Dort macht das Böse Geschichte, die Welt stürzt in die Katastrophe, weil sie das Moralgesetz nicht mehr kennt; bei Musil kennt sie ihre Funktionsgesetze nicht. Einen medialen und ästhetischen Begleitumstand stellt der Film dar, dessen Bedeutung Musil richtig voraussieht. In der Gegenwart sind es fast ausschließlich Bilddokumente, die Medienkonsumenten Zeitgeschehen vermitteln und historische Kausalität fingieren. Die Historiographie operiert längst mit dem Gestaltungsvehikel der visuellen Exemplarität. Musil adaptiert die Praxis des Films und übernimmt dessen Bildsprache, wenn er, statt historisch-kausal zu erzählen und zu argumentieren, für den Herd des Weltkriegs ein Bild der Stadt B. einsetzen möchte. Freilich ist dieses nicht pseudodokumentarisch zu(recht)gerichtet, die Bild-Qualität des Sprachbilds von der Stadt B. orientiert sich am Kunstbild und nicht am Gebrauchsphoto.


Zitiervorschlag
Fanta, Walter: Nachlass, Beschreibung einer kakanischen Stadt. Säbelbürokratie und Geschichtsbildentzündung. In: Plener, Peter / Wolf, Burkhardt (Hgg.): Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum „Mann ohne Eigenschaften. Zweiter Band: Aktenzeichen MoE – Bürokratie. Berlin: Vorwerk 8. S. 98–102., in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-fanta_beschreibung_2020/methods/sdef:TEI/get