Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. General Stumm von Bordwehrs militärwissenschaftliche Konzepte

Walter Fanta: Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. General Stumm von Bordwehrs militärwissenschaftliche Konzepte. In: Fleck, G, Feigl, W, Hamersky, U (Hg.): Robert Musil. Der Mann mit Eigenschaften. Offizier, Literat, Psychologe, Ingenieur. (= Schriftenreihe Bibliotheksinitiativen) Wien: PROverbis 2014, S. 75-87. 2015, S. 77-79
Unvereinbare Logiken

Worin besteht eigentlich der Witz dieser pseudo-militärwissenschaftlichen Zugehensweise des Rittmeisters bzw. des Generals auf den „Zivilverstand“ mit Hilfe der Aufmarschpläne? In Notizen von 1927 legt Musil fest, dass Anders´ epistemologische Kritik am Apparat der Wissenschaft zur Erkenntnis führt: „Die höchste Ordnung ist eine rein formale“ . Aus der Konfrontation mit dem ärarischen Ordnungsdenken des Rittmeisters ergibt sich der satirische Effekt. Meines Erachtens besteht er darin, dass das Ordnungsdenken des Militärs einer Logik gehorcht, die von völlig anderen Prämissen ausgeht als die Logik von Zivilisten, also zum Beispiel von Forschern in unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen, oder von Kunst- und Kulturschaffenden, wie sie als Vertreter des Zivilverstandes in Diotimas Salon erscheinen. Die Logik des Militärs ist auf einen Zweck gerichtet, auf den Ernstfall, den Krieg, die gewaltsame Auseinandersetzung, ihre positive (siegreiche) Bewältigung. Die wissenschaftlichen Logiken der Zivilisten sind zwar teilweise auch auf einen Zweck gerichtet, zum Beispiel die der Medizin auf Heilung. Doch sie haben eine andere, nicht auf einen fertigen Zweck gerichtete Seite, mit dem Instrument der Induktion Wirklichkeit, im Fall der Medizin den menschlichen Körper, erfahrbar zu machen. Die Logik in der zivilen Ordnung von Wissenschaft, Philosophie, Kunst und Kultur erscheint dem Rittmeister bzw. General unverständlich, fremd, ja als feindliches Terrain. Doch das ist auch umgekehrt der Fall.

Es scheint, dass die beiden Ordnungen, die des Militärs und die der zivilen Gesell-schaft, völlig unverbunden nebeneinander existieren, wie zwei getrennte Kreis-laufsysteme in einem Organismus, also zum Beispiel das Blut- und das Lymph-Kreislaufsystem im menschlichen Körper. Verbunden sind sie durch das tertium comparationis im vergleichenden Diskurs zwischen dem General und Ulrich, dem Begriff der 'Ordnung', und dem Begriff der 'Logik', der in Musils Schreiben in eine merkwürdige, ironische Verbindung mit dem der 'Logistik' tritt, repräsentiert durch die Hauptfigur des Romans. Ulrich in der Endfassung des 'Mann ohne Eigenschaften' ist ja Mathematiker von Beruf. Seine Vorgänger Achilles und Anders in den diversen Vorstufen des Romans aber sind Dozenten der Philosophie, Spezialgebiet Logik, noch genauer Logistik. Nun sage ich nichts Neues, wenn ich auf die Doppelbedeutung des Begriffes Logistik verweise: "Die Logistik sorgt für die Sicherstellung der Verfügbarkeit insbesondere von Gütern, Ressourcen und Informationen" . Heute wird der Begriff vor allem in der Wirtschaft angewendet, ("Logistik ist Steuerung des Warenflusses"), damals, zu Musils Zeit, war Logistik vor allem ein wichtiger ärarischer Begriff. Heute noch definiert sich militärische Logistik als "Lehre von der Planung, der Bereitstellung und vom Einsatz der für militärische Zwecke erforderlichen Mittel und Dienstleistungen zur Unterstützung der Streitkräfte und/oder die Anwendung dieser Lehre" . In ihrer Ableitung von Logik bezeichnete Logistik in der Philosophie oder Wissenschaftstheorie aber - zu Musils Zeit, heute nicht mehr - auch das praktische Instrument der Wissenschaftslogik, wie in der Sprachphilosophie von Rudolf Carnap grundgelegt, etwa in dem Buch 'Abriss der Logistik' (1929), welches Musil sorgfältig studierte. Musil selbst hatte also mit beiden Logistiken zu tun gehabt, mit der militärischen als Offizier im Krieg, und mit der zivilistischen in seinen philosophischen Studien. Das Gemeinsame der beiden Logistik-Begriffe liegt in der Deduzierung der Logik auf einen praktischen Zweck innheralb eines kohärenten Ordnungsgefüges, im Militär auf die Erfordernisse des Krieges, in der Philosophie auf die Erfordernisse des Denkens. Mit dem ihm eigenen Sinn für die ironische Ausleuchtung von Doppelbedeutungen und mit autobiographischer Ironie überschreibt er den ambivalenten Logistik-Begriff auf die Romanfigur Ulrich [...].

Der General wird ein General

Am Ende also hebt sich alles im Sinne des Generals auf, in der Mobilmachung für den Ersten Weltkrieg. Mit dieser endet der Roman. Musil hat das Finale zwar nie ausgeschrieben, aber in einem detaillierten Plan, der auf Frühjahr 1936 zu datieren ist, genau festgelegt, und Notizen und Entwurfsskizzen dazu angefertigt. Am Ende geht das Bedürfnis nach Ordnung wirklich in Totschlag über, die "Staatsmaschine geht durch" , so notiert Musil. Eine "spätere Wandlung" befördert das für ihn bisher unerreichbare 'eigentliche' Ziel seiner "Surrogatbefriedigungen" (Messersammeln, Besuche im Theater und Museum, Besuche in Diotimas Salon) wieder an den Tag. "der General wird ein General": "Nun verwandelte sich der General allmählig in einen General zurück" steht in den Notizen Musils. Er räumt mit dem pazifistischen Lyriker Feuermaul auf, der sich in die Parallelaktion eingeschlichen hat, verhindert einen Weltfriedenskongress, den man abhalten will, und setzt sich für das "Prinzip der Eingeistigkeit" ein, mit dem Musil auf die nationalsozialistische Gleichschaltung der Jahre 1933 und 1934 im Deutschen Reich anspielt.


Zitiervorschlag
Walter Fanta: Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. General Stumm von Bordwehrs militärwissenschaftliche Konzepte. In: Fleck, G, Feigl, W, Hamersky, U (Hg.): Robert Musil. Der Mann mit Eigenschaften. Offizier, Literat, Psychologe, Ingenieur. (= Schriftenreihe Bibliotheksinitiativen) Wien: PROverbis 2014, S. 75-87. 2015, S. 77-79, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-fanta_ordnung_2014/methods/sdef:TEI/get