Orte/Schauplätze

Walta Fanta: Orte/Schauplätze. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Red. Harald Gschwandtner. Berlin-Boston: De Gruyter 2016, S. 48-53

3. Roman-Topografie: Die kakanische Stadt B.

Festgelegt sind zwei Städte als Schauplätze des Romans: die Hauptstadt Kakaniens, in der Ulrich lebt, das durchstrichene Wien – im Folgenden Stadt A. – und die kakanische Provinzstadt, in die Ulrich zum Begräbnis seines Vaters reist und wo er Agathe wiederbegegnet – im Folgenden Stadt B.. Diese zweite Stadt des Romans, ein Nebenschauplatz, wird dadurch aufgewertet, dass in ihr nicht nur die Geschwisterhandlung beginnt, sondern außerdem das, was Musil über historische Vorgänge zeigen will, zumindest in seinen Planungen dorthin projiziert wird. Es ergibt sich im Romanplan generell eine Verlagerungsbewegung vom Zentrum in die kakanische Peripherie – nach B, nach Italien, Galizien usw. Diese Verschiebung wird besonders in den Nachlasstexten sichtbar, sowohl in der nie ausgeschriebenen Reise Ulrichs und Agathes ans Meer als auch in den Fassungen des sogenannten Nationen-Kapitels (1928; 1932;1933/34), wo der Romanschauplatz Stadt B. deutlich ausgebaut wird. Die Stadt B., die in den Kapitelentwürfen Beschreibung einer kakanischen Stadt (Kapiteltitel, KA, M I/8/2) an das mährische Brünn erinnert, ist durch Hyperterritorialität (Eigenschaftslosigkeit) als "Nichtheimat" (Thöming 1995, S. 132) stilisiert. Das Spiel des Erzählers mit der zwiespältigen Antwort der nach der Schönheit ihrer Heimat befragten Bewohner gehört dazu. Dass diese Stadt für jeden Bewohner halb Wunsch-, halb Unwunsch-Ort ist, hängt mit ihrer Binationalität zusammen. Jeder ihrer Bewohner betrachtet sie aus nationalen Gründen zur Hälfte nicht als seine Heimat. An einer Stelle des Entwurfs verwendet Musil das Adjektiv anheimelnd – und tilgt es wieder; es bezieht sich auf die Sprache der Bewohner von B.: „Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses Maß von Kultur, so hätte sich hier eine ö[sterreichische] K.[ultur] entwickelt, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder tschechisch noch deutsch, sondern ein selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen“ (KA,M VII/1/61). Die lokale (= österreichische) Kultur, das Lokalkolorit, entwickle sich aus dem Weder/Noch der vorhandenen Sprachen. Gemischtsprachigkeit erscheint im Unterschied zu Mehrsprachigkeit freilich häufig als Defizit, gemischtsprachige Bevölkerungen tragen das Manko, keiner der Sprachgemeinschaften regulär zugerechnet zu werden. Von einem Rest des alten Österreich etwa, der zweisprachigen Bevölkerung im Süden Kärntens, wird behauptet, sie hätte keine Sprache, sondern spräche ein deutsch-slowenisches Gemisch. Musil erwähnt die mythische Mischsprache nicht nur im Nachlass-Entwurf, sondern auch im gedruckten Roman. Beim Ausflug auf die Schwedenschanze begegnen Ulrich und Agathe dem Philemon-und-Baucis-Paar der Schäfer, die dieses Gemisch sprechen, das auch von Ulrich „dunkel […] noch erinnert wurde“ (MoE, 738).

4. Exterritorialität: Topografie der Heimatlosigkeit

Thöming identifiziert die Stadt B. des MoE mit dem Brünn des jungen Musil und die Fremdheits- und Exterritorialitäts-Erfahrung im Roman mit der Erfahrung des Autors: „Als Fremder lebte Musil in Brünn, in Wien, in Berlin, in der Schweiz.“ (Thöming 1995, S. 131) Welchem Wir fühlt sich der Schweizer, Wiener, Berliner, Brünner Musil jeweils verbunden? Eine Stelle im Entwurf eines Curriculum Vitae (1931) erteilt Aufschluss:

[I]ch erinnere mich, daß in seiner Weise der Eindruck nicht unbedeutend war, den ich dadurch empfing, daß ich aus der alpischen Natur kam, die Landschaft und Menschen in Steyr eigentümlich war, und mich sowohl in der sanften und etwas melancholischen Landschaft Mährens fand wie zwischen Menschen, die mir beinahe noch fremder vorkamen, wenn sie Sudetendeutsche waren, mit denen ich sprach, als zu den Tschechen gehörten, neben denen wir ohne Berührung herlebten. (KA, M II/1/63)

Das Fremdheitsgefühl ist nachträglich konstruiert. Fest steht, dass Musil in der Brünner Zeit wie in den Jahren der Militärerziehung eine Sozialisation erfährt, die man als altösterreichisch bezeichnen kann und die vom Leben in einer polyglotten Umgebung bestimmt ist. In den fiktionalen Texten schlägt sich dies in der Gestaltung von Liebesbeziehungen deutschsprachiger männlicher Protagonisten zu exotisch-anderssprachigen Frauen nieder, wie zu Bozena im Törleß und zu den Drei Frauen: Grigia, Portugiesin, Tonka. Es liegt nahe, dass Musil in den mehrfach abgebrochenen Ansätzen zur Beschreibung einer kakanischen Stadt (KA, MI/8/2) Autobiografisches thematisiert: Jugenderlebnisse, Mischsprache, Heimat.

Wenn Musil 1928 mit der „Einschaltung über die Stadt B.“ (KA, M II/8/97) einen Beitrag zum Diskurs über die Nation in seinem Roman vorzubereiten beginnt, ist er dabei auch von persönlicher Fremdheits- und Heimatverlust-Erfahrung bestimmt. Er greift die von heutigen Interpreten fallweise als jüdisch analysierte Thematik der Entfremdung auf und schreitet seinerseits zur verfremdenden Darstellung und zum Angriff auf die in seinen Augen zu kurz gegriffenen Strategien zur Aufhebung der Entfremdung: Er weist den Deutschnationalismus, den Tschechoslowakismus und Kosmopolitismus (universelle Menschenliebe) in einem zurück. Die Verfremdung der südmährischen Welt ins Kakanisch-Utopische ist damit auch von der biografischen Erfahrung des persönlichen nationalen Identifikationsverzichts des Autors geprägt. Er macht deutlich, weshalb Mitteleuropa nicht verbessert werden kann:

Trotzdem haben Menschen damals in K[a]k[a]nien gelebt, die noch heute, in der seither verbesserten Welt leben; ja sie machen nach wie vor ihre Geschäfte oder reiten ihre Steckenpferde; dazwischen aber haben sie Weltgeschichte gemacht, sind einem Weltgericht unterworfen worden, das ihre Nationen hob u[nd] senkte, u. es bleibt eine ungemein fesselnde, ja sogar eine eminent moralische Frage, wie man eigentlich zu so etwas kommt. (KA, M VII/1/58)

Musil vermag diese Frage nur in Ansätzen zu beantworten, er bricht ab. „Nationen haben“, formuliert er noch, „überhaupt keine Absichten“. Das Gefährliche, die Bereitschaft der mitteleuropäischen Nationen zum Genozid, mag sich eben daraus eröffnen: „Eine Nation kann aus den reizendsten Privatcharakteren bestehen u. im ganzen einen grausamen u[nd] tückischen Charakter haben. Eine Nation kann 100 Jahre lang als ein Volk der Träumer erscheinen u. dann wieder 100 Jahre lang als ein Volk von Attilas. Nationen haben einen schlechthin unzurechnungsfähigen Geist.“ (KA, M VII/1/56)


Zitiervorschlag
Walta Fanta: Orte/Schauplätze. In: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Red. Harald Gschwandtner. Berlin-Boston: De Gruyter 2016, S. 48-53, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-fanta_orteschauplaetze_2016/methods/sdef:TEI/get