Pazifistische Diskurse in den Texten Robert Musils

Pazifistische Diskurse in den Texten Robert Musils. In: Alexander W. Belobratow: Österreichische Literatur: Robert Musil und einiges mehr (Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg 9). Petersburg: Verlag „PETERSBURG. XXI VEK“ 2011, S. 68-90.

Durch eine Neuinszenierung des Erzählstrangs der Parallelaktion – Was denn zum Krieg führte – in den sogenannten Druckfahnenkapiteln von 1938 ersetzt Musil die erzählerische Substanz des Nationen-Kapitels schließlich. General Stumm berichtet in Kapitel 49 von dem Beschluss der Parallelaktion, "daß wir auf den Feuermaul künftighin verzichten, weil seine Ansichten zu unbrauchbar sind". Bereits in Notizen aus den Jahren 1934 ist der Entschluss dokumentiert, die Figur Feuermaul wieder aus dem Roman zu eliminieren. Der Grund liegt wohl in der Notwendigkeit, den Juden und Pazifisten Feuermaul angesichts der negativen Zeichnung im Romanteil von 1932 wegen der Verwechselbarkeit mit der nationalsozialistischen Hetze aus dem Schussfeld zu nehmen. Der Preis, der dafür bezahlt wird, liegt im Verlust an analytischer Schärfe bei der Inszenierung pazifistischer Diskurse in den Druckfahnen; die Gespräche zwischen Ulrich und dem General bleiben auf der symbolischen Ebene impliziter Anspielungen, was den Krieg und seine Ursachen betrifft.

Aus Musils Studium zeitgenössischer pazifistischer Diskurse geht die Lektüre des Buchs von Moór, Professor für Rechtsphilosophie in Budapest, in die späten Gestaltungsabsichten im Mann ohne Eigenschaften ein. Als zentralen Gedanken nimmt Musil aus Moórs historisch und rechtsphilosophisch angelegter Darlegung auf, dass Pazifismus eine auf das Zwischenstaatliche bezogene Sonderform des Anarchismus bleibt, solange nicht mit militärischer Gewalt ausgestattete internationale Institutionen einen gerechten Frieden sichern. Vom institutionalisierten, militarisierten, dem gerüsteten Pazifismus ist in späteren Notizen zum Roman auch noch die Rede. In Anwendung auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kehrt Musil in einer Notiz von 1937 das rationale Argument der militärischen Friedenssicherung allerdings um: „Zeitbedürfnis, irrationaler Zug der Zeit. Wozu Rüstungen, Ziele, Muskeln, wenn man sie nicht unmittelbar gebraucht. Der gerüstete Pazifismus als Form der Unentschiedenheit.“ Das Moór-Exzerpt liegt im Nachlass übrigens in einer Mappe mit den vorbereitenden Notizen und Fassungen des Pariser Vortrags auf dem Kongress zur Verteidigung der Kultur vor dem Faschismus und der Rede Über die Dummheit. In den Notizen stellt er eine Spielart der Dummheit fest, die „mit der natürlichen Liebe zum Frieden und seinen Werken streng umspringt”. Er stellt fest, „wer diese Weltanschauung nicht liebt, muß gegen seine natürliche Liebe überhaupt vorsichtig sein”, und setzt hinzu: „Ich habe dieses Beispiel nur gewählt, um anzudeuten, wie lang der Weg der Wahrheit ist und wie kurz der des Gefühls”. In der Endfassung der Rede, die 1937 publiziert wird, fehlt die Passage über das Verhältnis zwischen Friedensliebe und Dummheit, als hätte die besagte Vorsicht es geboten, sie fallen zu lassen.

Musils Pazifismus-Reflexion der 1930er Jahre und die geplante Umsetzung im Mann ohne Eigenschaften wird politisch denkende Leser nicht unbedingt zufriedenstellen. Das vereinigende Rausch-Erlebnis von 1914 bleibt eine unantastbare Größe, von pazifistischer Emotion getragenes Engagement hingegen wird als ideologisch punziert der Ironie ausgesetzt und abgesetzt. Ein legitimer Pazifismus müsste den Bedingungen hochgradiger Reflektiertheit und machtpolitischen Voraussetzungen standhalten, deren Erfüllbarkeit nicht zu erwarten ist, das heißt, er fällt in den Bereich der Utopie.


Zitiervorschlag
Pazifistische Diskurse in den Texten Robert Musils. In: Alexander W. Belobratow: Österreichische Literatur: Robert Musil und einiges mehr (Jahrbuch der Österreich-Bibliothek in St. Petersburg 9). Petersburg: Verlag „PETERSBURG. XXI VEK“ 2011, S. 68-90., in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-fanta_pazifistische_2011/methods/sdef:TEI/get