Die Stadt und der Krieg

Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" (=Musil-Studien, Bd. 25). München: Fink 1995

In der Beschreibung Kakaniens gewinnen also die bislang untersuchten historischen Determinanten einer generationenspezifischen und einer psychischen Desintegration zusätzliche gesellschaftliche Konkretheit. Kakanien und sein hoher Grad an sozialer Anomie (H. Böhme) wird zum Ausgangsmaterial und erzählerischen Anlaß, die Auswirkungen fortgeschrittener Arbeitsteilung auf die psychischen Strukturen der Individuen und ihrer narrativen Repräsentanten, der Charaktere darzustellen. Den umgekehrten Weg ging bemerkenswerter Weise einmal Sigmund Freud, der in seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse die Topik des psychischen Apparats, seine Ordnung und mehr noch seine Unordnung – mit Kakanien verglich:

„Ich imaginiere ein Land mit mannigfaltiger Bodengestaltung, Hügelland, Ebenen und Seenketten, mit gemischter Bevölkerung – es wohnen darin Deutsche, Magyaren, und Slowaken, die auch verschiedene Tätigkeiten betreiben. Nun könnte die Verteilung so sein, daß im Hügelland die Deutschen wohnen, die Viehzüchter sind, im Flachland die Magyaren, die Getreide und Wein bauen, an den Seen die Slowaken, die Fische fangen […]. Es ist aber wahrscheinlich, daß sie weniger Ordnung und mehr Vermengung finden, wenn sie die Gegend bereisen. Deutsche, Magyaren und Slowaken leben überall durcheinander, im Hügelland gibt es auch Acker, in der Ebene wird auch Vieh gehalten.“ (StA 1, 510)

Kakanien vertritt hier das Zusammenspiel der drei psychischen lnstanzen, das als Substruktur der ebenfalls zur Dreizahl reduzierten Völkerökumene zugrundegelegt wird. lm Gegenzug gewinnt das Theoriemodell mit seiner reinlichen Trennung von Über-Ich, Ich und Es durch den Vergleich mit dem Nationalitätenproblem, das auch den zeitgenössischen Hörern zu Beginn der dreißiger Jahre noch vertraut war, eine Qualität, die Kakanien im Übermaß zu bieten hatte: die der Inkonsequenz und Unordnung. Die nur in der analytischen Idealisierung klar zu differenzierenden Faktoren der Psyche befinden sich realiter stets in jener diffusen Kombination und Kooperation, wie sie dem kakanischen Durcheinander und seiner Philosophie des Fortwurstelns entsprechen. Auch hier gibt es arbeitsteilige Zuordnungen von Akteuren, Tätigkeiten und Regionen. Doch wir finden in Freuds wie in Musils Porträt des kakanischen Gemeinwesens nicht das reibungslose Ineinandergreifen spezialisierter Funktionen, welches die Vision der „überamerikanischen Stadt“ in Reinkultur vorführte.

Musils Erzählmodell einer kakanischen Stadt, das als textinterne Replik auf diese Szenerie fordistischer Effizienz zu lesen ist, gibt den ökonomischen, politischen und ethnischen Spannungen Kakaniens ein ungleich größeres Erzählgewicht, als sie es in der Darstellung der Wiener Atmosphäre erhielten. Vorbild dieser (nur in Vorstufen und Kapitelentwürfen des Romans explizit benannten) Stadt ist Brünn, das aufgrund topographischer wie auch historischer Details als Vorlage zu identifizieren ist. Für die Erzählkonstruktion sollte dieses Stadtporträt in zweierlei Hinsicht bedeutsam werden. Zunächst ist Brünn, als Vaterstadt Ulrichs, Schauplatz der nach dem Ableben des alten Herrn in dessen Haus wiederaufgenommenen Beziehung zur Schwester, die zu den Heiligen Gesprächen und Wundersamen Erlebnissen der zweiten Romanhälfte führt. Der Tod des Vaters, von diesem selbst noch telegraphisch vorweggenommen – eine kaiserliche Botschaft, die ihren Adressaten erreicht –, zwingt mit dem letzten väterlichen Schreiben Ulrich am Ende des ersten Hauptteils in den Bann der Familie zurück, wie ihn dessen erster Brief am Ende der Einleitung in die Sphäre der Hofburg und der Parallelaktion eingeführt hatte (vgl. auch Kap. 6.1.). Die Ankunft Ulrichs in Brünn eröffnet das zweite Buch des Romans, wie das „nach jahrelanger Abwesenheit“ (MoE 9) wiedergefundene Wien das Eingangsportal des Romans abgegeben hatte.

An gleichfalls exponierter Stelle sollte auch die zweite und weitaus umfangreichere Beschreibung Brünns plaziert werden, im später verworfenen Nationen-Kapitel (MoE 1442ff.), durch das Musil die während der Geschwister-Episoden des zweiten Buches vernachlässigten Handlungsfäden der Parallelaktion zum bevorstehenden Kriegsausbruch zusammenzuziehen gedachte. Als aktueller Anlaß der Erwähnung Brünns war eine von General Stumm kolportierte Zeitungsmeldung vorgesehen: „In B. haben große Demonstrationen gegen die // stattgefunden!“1 (MoE 1442) Zum längeren Austausch über diese Stadt zwischen den Geschwistern und dem General sollte sodann die Figur des aus Brünn gebürtigen Dichters Friedel Feuermaul Gelegenheit geben, der in der Kapitelsequenz "Ein großes Ereignis ist im Entstehen“ (MoE 994ff.) bei den Sitzungen der Parallelaktion erstmals aufgetreten war.2 In den Entwürfen zur Beschreibung Brünns im Konvolut der Nachlaßmappe 73 wird durch die Simultaneität von Haupttext und Marginalien (in der Transkription durch :: gekennzeichnet und abgesetzt) ein doppelter narrativer Diskurs sichtbar, der zugleich auf der Ebene erzählter Handlung wie auch auf der ihrer strategischen Integration in die Gesamtkonstruktion operiert.

„Fm. war in der Spinn- u Webstadt B.::B. nennen; paßt zu der Art der Beschreibung!:: (Tuch- u Garnstadt) als der Sohn eines reichen ::Zunächst zielt das auf Kknien. Dann Kknien, das den Weltkrieg entfesselt hat.:: Tuch#händlers#\kommissionärs| geboren; aus irgendwelchen Gründen verdienten diese Zwischenhändler mehr als die Fabrikanten \selbst|, u. die Fm‘s. gehörten zu den reichsten Leuten, obgleich der alte Fm. damit zurückhielt.“ (NM 7/01/052)

Industrie und Ökonomie der Spinn- und Webstadt rücken in den Vordergrund; deutlich erkennbar bereits bei der Erwähnung des Tuchhändlers Feuermaul senior ist die Absicht sozialer Typisierung (eine spätere Version schildert ihn als Besitzer ungarischer Phosphorwerke, deren Arbeiter durch berufsbedingte „Knochennekrose“ zu Tode kommen – MoE 1018). Im Fortgang wird die Schichtung sozial und historisch gegensätzlichster Arbeits- und Lebensformen im Stadtbild herausgearbeitet:

„Dieses Br. war um das Jahr 1890 herum, wo der junge Fm. geboren wurde, ::\Tschech-Deutsche-Pazif. via Theater usw. | Das franzisko-josephinische B.:: eine sonderbare Stadt. Um eine alte, häßliche aufeinem Berg liegende Festung herum, #die# \der Kasematten| *in der 1. Hälfte des* \*von der Mitte des 18. bis zu der des*| 19 Jhrdts. als Staatsgefängnis gedient hatten u. berüchtigt waren, lag ein alter, wenn auch längst vermauerter Stadtkern, von dem nicht allzu zeitgemäßen ::? U. zu Gn. Es ist ihm ein Genuß real zu re-den.:: Geschäftsbetrieb wohlhabender Bürger erfüllt; um diesen Kern breiteten sich im Ring die Fabriksviertel, große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, aufgefädelt #ein# längs einiger gewundener, breiter, schlecht gehaltener Straßen u. einem Gewirr von Nebengäßchen, #von Fla# #gekrönt vom# hohe graue Kamine ragten als traurige Flaggenmaste darüber weg; \u| wo sich das #dann# ins Land verlor, begann \unvermittelt| schwarzbraune fette #Erde# fruchtbare Erde, geduckte Dörfer, in einer Zeile die Landstraße begleitend u. in den Farben des Regenbogens angestrichen, ::(auch das ist so ein Nebeneinander, wie für Kken typisch!):: fremd reizvolles Bauernland, aus dem die Fabriken ihre Arbeiter, Männer u Frauen sogen, u. weites Rübenland, das Großgrundbesitzern gehörte.“ (NM 7/01/052)

Dies ist eines der wenigen Textfragmente des Romans, das Industrialisierung und Klassengegensätze konkret in den Blick zu nehmen, im alltäglichen Erscheinungsbild einer kakanischen Stadt zu beschreiben versucht4. Handel, Industrie und Agrikultur sind in konzentrischer Topographie dem bürgerlich-wohlhabenden Stadtkern, dem Ring von Fabrikarealen und dem umliegenden Bauernland zugeordnet, eine Reihenfolge, die zugleich der ökonomischen und sozialen Hierarchie entspricht. Die Optik der Stadtbeschreibung erfaßt Gegensätzliches auf verschiedenen sozialen Achsen: Besitzbürger versus Bauern, die zu Lohnarbeitern werden; landwirtschaftliche Prosperität gegenüber industrieller Tristesse; schließlich, im Kontrast zwischen Festung und fremdem Bauernland nur angedeutet, die kulturellen und ethnischen Konflikte. Das Brünn dieser Entwürfe variiert nicht nur das – hier um die Phänomene des Industrialismus ergänzte – Grundthema des Kakanien-Kapitels von Arbeitsteilung und sozialer Stratifikation, sondern verknüpft dieses mit den Spuren österreichischer Geschichte, deren wichtigste Etappen, sofern nicht bereits der geographischen Lage Brünns und seinen Baudenkmälern ablesbar, auf der Dialogebene der Narration durch zusätzliche Recherchen (in einem von Ulrich konsultierten Nachschlagewerk) eingeflochten werden.

„Diese Stadt bildete […] die nördliche Spitze einer deutschen Sprachinsel u. war eine #alte deutsche# |von Deutschen kolonisierte| Stadt \seit dem 13 Jhdt. | in die Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in den Schulen […] dieser Stadt *lernen* \*erfahren*|, daß hier #Kapistran# \#ei#| der Türkenprediger Kapistran gegen die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit wo gute Österreicher #noch# \auch| in […] Neapel \noch| geboren werden konnten; daß #hier# die \#mittelalterlich#| Erbverbrüderung zw. den Häusern Habsburg u Ungarn, die \1364| den Grund zur öst. ung. Monarchie \ge| legt#e# \hat|, nirgends anders \ab| geschlossen worden *war* \*sei|, als hier; daß die Schweden im 30j. Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang #vergeblich# belagert hatten \ohne sie erobern zu können|, u.\#ebenso# noch weniger hatten das| die Preussen im 7jähr. Krieg vermocht. M.a.W. es war eine gute kakanische Stadt#.# \,l u. man sah es ihr auch an.“ (Ebd.)

Brünn wird als Front- und Festungsstadt eines den Wechselfällen der Geschichte unterworfenen Grenzgebiets situiert, ist als gute kakanische Stadt Schauplatz des Gründungsmythos der Doppelmonarchie und kriegserprobte Bastion deutscher Kultur auf vorgeschobenem Posten. Hatte die überamerikanische Stadt mit der Vision einer umfassenden Modernisierungsoffensive den historischen Grenzwert Alt-Österreichs vorgestellt, die Schwelle seiner Integration in die Weltgesellschaft des 20. Jahrhunderts, so markiert das deutsche Kolonisationsprodukt Brünn ein geographisch-ethnisches Randgebiet Kakaniens. Damit folgt der Entwurf zum einen der Argumentation des Anschluß-Artikels von 1919, die dem staatstragenden Konstrukt einer österreichischen Kultur immer engere Grenzen gezogen hatte, um es zuletzt auf die der Wiener Zentralperspektive eigene Kurzsichtigkeit zu reduzieren. Zum zweiten aber weist dieser vorgeschobene Posten auf ähnliche Grenzlanderfahrungen hin, die Musil bei seinen Kriegseinsätzen in Südtirol und an der Isonzofront machen konnte. Die prekäre Balance der deutschösterreichischen Kulturträger zwischen Ökumene und Diaspora, Kooperation und Isolation, in der Novelle Grigia für das norditalienische Grenzgebiet des Reiches beschrieben (vgl. Kap.3.2.), wird auch in den retrospektiven Brünn-Schilderungen der Entwürfe stets im Wissen um den kommenden Krieg ausgelotet. Deshalb hat Musil es vermutlich vorgezogen, die Widersprüchlichkeit Kakaniens nicht am Wiener Beispiel zu illustrieren, bei dessen Sozioskopie der Erste Bezirk, die Residenzstadt, erzählerisch privilegiert wird, was zwar dem k.u.k.-Traditionalismus und der Erstarrung der politischen Formen zu leerer Repräsentation gerecht zu werden vermag, nicht aber den Auflösungserscheinungen des Vielvölkerreiches von den Rändern her. Das zentrale Problem Kakaniens jedoch war seine Peripherie; gerade darum konnte das auf einer deutschen Sprachinsel gelegene Brünn zum Repräsentanten des gesamten Imperiums werden, war dessen historisches Dilemma hier stellvertretend erzählerisch zu bearbeiten.

Im Fortgang des zitierten Nachlaß-Entwurfs wird die landschaftliche Umgebung Brünns in dreierlei Bestandteile zergliedert: eine „sehnsüchtige“, nach Wien hin sich öffnende Ebene, die eingerahmt wird von „treudeutschem“5 Waldgebiet und „heroischem“ Weideland (NM 7/01/053)6.

Die geographische Situation „dieser ganz u gar kakanischen Landschaft“ (ebd.) weist somit bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Freuds Skizze eines dreigeteilten und von drei Volksgruppen besiedelten Landstriches auf – Analogien, deren Fundament weniger in einem (eher unwahrscheinlichen) intertextuellen Konnex als in der kakanischen Heterogenität selbst zu suchen sind.

Als repräsentativ für Geschichte und Sozialstruktur der Doppelmonarchie sollte schließlich auch das architektonische Erscheinungsbild der Stadt selbst gelten:

„Unter den großen Städten Kkniens hatte Brünn die zeitgemäßeste Architektur, ein reiches Bauwelsch, das die roten Türmchen Dächerchen #seiner Villen# u. schieferblauen Mansardendächer seiner Villen als Träger der Kultur in die Wälder #u. Felder# hineinschob, die es \auf einer Seite| umkränzten.“ (NM 7/01/052)

Das Metaphernfeld zur Lagebeschreibung einer ethnischen Diaspora ist hier am deutlichsten ausgebildet, in eine Stadttopographie transformiert, deren auf fremdes Gelände sich vorschiebende ästhetische Signatur sowohl den historisch von der Stadt ausgehenden Akkulturationsprozeß widerspiegelt wie auch eine präsumtive militärische Frontlinie absteckt. Am Modell der Architekturbeschreibungen laßt sich besonders gut erkennen, wie Musil einerseits die in den Essays (Denkmale, Stilgeneration) entwickelten Gedanken weiterführt, sie andererseits aber stärker in den Kontext einer politisch-historischen Argumentationslinie stellt. Ähnlich wie für die Ringstraße gezeigt, registriert der Blick auch in Brünn die Ungleichzeitigkeit der zu einem Weichbild versammelten Bauten und Stile, zusammenfassend als Bauwelsch charakterisiert (womit Konnotationen eines ethnisch-kulturellen Synkretismus aktiviert werden).

Sprachenvermischung und Sprachenverwirrung kennzeichnen die kulturelle Situation Brünns in den Vorkriegsjahren7 wie auch seine in der Architektur aufbewahrte Stadtgeschichte. Deren disparate Stile und Formen aber lassen sich als steingewordene Sprachen dennoch sehr viel leichter dem historischen Wandel und den Bedürfnissen der Nachgeborenen subsumieren als die fremden Stimmen seiner Bewohner. Das einträchtige Nebeneinander und Durcheinander der Baustile ergibt eine kul- turelle Synthese über historische Abgründe hinweg, während die soziale Heteroglossie ein Befremden auslöst, das Musil durch die Einführung einer hypothetischen Zeitdistanz zu veranschaulichen sucht, die das Verhältnis von Schreibgegenwart und rekonstruierter Vorkriegsgeschichte umkehrt: Die Stimmen der Gegenwart werden in diesem Gedankenexperiment selbst zum Objekt eines archäologischen Blicks, durch den Einsatz eines modernen, gleichwohl archaisch anmutenden technischen Mediums vom Ende der zwanziger Jahre in das dritte Jahrtausend transferiert.

„Merkwürdig, das wird ja anders werden; wenn dereinst unsere Stimmen von 192#8#\9| […] aus versenkten Grammophonplatten den #vorübereilenden# im Jahre 2179 vorbeieilenden Menschen ins Ohr rufen werden, #was u.# wie \u namentlich was| wir gesprochen haben, so werden #s#\d| ie erschreckt zusammenzucken! Das optische Grammophon der Baukunst hatte trotz der aufgewandten Steinmassen diese Wirkung ::Übriggeblieben: :: nicht erreicht. Wir haben uns niemals durch schöne alte Häuser *stören* \*abhalten| lassen, sie zu benützen, so wie wir sind. Das hatte seine Ursache freilich auch darin, daß #wir# die alte Bausprache viel lebendiger #fortgesetzt haben# \erhalten geblieben ist. | als die alte Schriftsprache u. Mundart, u. wenn ein ::\historisch unbefangener| :: Mensch die gotische Jakobskirche sah mit ihrem Nadelturm oder \vor| den barocken Brunnen am Krautmarkt \stand|, so konnte er #eigentlich nur dadurch# \nur dadurch| auf #die Erkenntnis# #kommen# ihr#es# Alter#s# kommen, daß #in die Gotik der Kirche keine Barockmuscheln u. Renaissanceeindrücke gemischt waren# er eigens eines der neueren Häuser seiner Vaterstadt anblickte, in deren Schauseiten sich dem Fortschritt der Zeit entsprechend, sowohl Gotik wie Barock wie Renaissance wie Romanik u. Empire gemischt hatten.“ (NM 7/01/052)

Die Gleichzeitigkeit der Stilrichtungen, in der sich auch einander bekämpfende historische Schulen zum Eklektizismus der Gegenwart zusammenfinden, gehört zu den „Eigentümlichkeiten Kks., in denen es vorbildlich war“, und „B. war in Kknien […] einer der am vorbildlichsten gemischten Orte.“ (NM 7/01/053) Mit diesen Beobachtungen hakt die Beschreibung der kakanischen Stadt in die Argumentationslinie des Kakanien-Kapitels im ersten Buch des Romans ein; war dort die Indifferenz gegenüber historisch fixierten Identitäten als fortschrittlichste oder zumindest zeitgemäßeste kakanische Eigenschaft hervorgehoben worden, so wird Brünn nun als Musterfall dieser Identitätsdiffusion vorgeführt. Die damit behauptete Äquivalenz von Brünn und Kakanien macht diese Stadt zum idealen Schauplatz der Suche nach dem „Staatscharakter Kkniens“: „Man könnte sagen, daß damit der Charakter dieser Stadt beschrieben sei, wenn #die# \in dieser| Beschreibung #bloß einen Charakter darstellte!# nicht noch etwas fehlte, \u| man wird kaum irren, wenn man annimmt, daß es \gerade| der Charakter #selbst# ist.“ (NM 7/01/054)


Fußnoten

  1. "//" war Musils Arbeitschiffre für die Parallelaktion.
  2. Eine explizite Identifizierung B.s mit der zu Beginn des zweiten Buches beschriebenen Vaterstadt der Geschwister erfolgt durch Ulrichs Rückblende: "Ein paarmal hatte er nach dem Tod seines Vaters dieses Viertel durchstreift" (MoE 1444).
  3. Da sich unter den von Frisé edierten Nachlaßfragmenten zwar ein "Studienblatt Soz. Fragestellung" befindet, das "aus dem Inhalt" (MoE 1867; NM 2/08/233) der Skizzen zur kakanischen Stadt stichwortartig referiert, nicht aber die entsprechenden Entwürfe zur III. Kapitelgruppe des zweiten Bandes selbst (NM 7/01/052-061), ist für die Analyse jener Textpassagen, von denen keine oder nur eine stark abweichende gedruckte Version vorliegt, ausführlicher von der Nachlaßtranskription Gebrauch zu machen. Erläuterung der Transkriptionszeichen: #Text# bezeichnet gestrichenen, \Text| eingefügten Text, ::Text:: bezeichnet Randbemerkungen, ::\Text|:: den vom Rand eingefügten Text, *Text* eine Alternativvariante, \*Text*| eine eingefügte Alternativvariante.
  4. Darauf hat besonders Josef Strutz 1981, S. 53 f., hingewiesen.
  5. Der von Frisé integrierte Entwurf fügt dieser Charakterisierung des "treudeutschen Waldhügelland[es" die Bemerkung hinzu: "aber gerade das war nicht die deutsche Seite" (MoE 1445f.; vgl. NM 1/08/006).
  6. Vgl. wiederum die ironische Relativierung des Typischen in der stärker durchgearbeiteten Version im gedruckten Nachlaß: "Also ließe sich zwar rühmen, daß diese traulich-kakanische Gegend, in deren Mitte die Stadt B. lag, sowohl bergig als auch eben, nicht weniger waldig als sonnig und ebenso heldisch wie demütig großartig war, aber es fehlte doch wohl überall daran ein wenig, so daß sie im ganzen weder so noch so war." (MoE 1446; NM 1/08/006).
  7. "Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses #Zeichen' \Maß| von Kultur, so #würde D.# \hätte sich| hier \eine| besondere #Funde zur a# ö K. #machen können.# entwickelt, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder tschechisch noch deutsch, sondern ein selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen" (NM 7/01/061).

Zitiervorschlag
Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" (=Musil-Studien, Bd. 25). München: Fink 1995, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-honold_stadtundkrieg_1995/methods/sdef:TEI/get