Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik

Stefan Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils (=Musil-Studien, Bd. 9). München: Fink 1984
6.18. Friedel Feuermaul – expressiver Pazifist
6.18.1. Herausbildung der Figur

Musil hat sich mit keinem zeitgenössischen Schriftsteller, abgesehen von Thomas Mann, so stark beschäftigt wie mit Franz Werfel. Schon 1913 vermerkt er in einer kulturkritischen Bestandesaufnahme:

“Kunst und Religion hingen zusammen. Als die Religion unmöglich wurde, hatte die Kunst die Führung übernehmen müssen. (oder ein ähnliches) Welche Kunst? S. Notizen zu Drama. Uneinheitlich-dämmernde Reaktion usw. usw. Die Umbildung des relig. Erlebnisses blieb aus.

Albernheiten in der Kunst zb Werfel

Dh. <

Philosophismus wie bei Eucken

(Tb II, 980)

Franz Werfel hatte damals gerade seine ersten zwei Gedichtbände veröffentlicht. Später lernte ihn Musil im Kriegspressequartier persönlich, wenn auch flüchtig, kennen. (432 Siehe Frisé, Tb ll, 205, Anm. 149) Während der Novemberrevolution 1918 in Wien erscheint ihm der agitatorisch tätige Werfel als höchst komische Figur: als einer, der im Geiste des Expressionismus für den friedlichen Umsturz zu wirken vermeine und dabei von Anarchisten bloß vorgeschoben werde (Tb I, 343). Musil hat in der Folge diesen illusionären Geist des Expressionismus mit der von Leonhard Frank geprägten Kurzformel ,Der Mensch ist gut!’ bezeichnet. (433 Siehe Tb l, 412; 544; sowie Frisé, Tb ll, 262f., Anm. 324, wo die entsprechenden Stellen im 'Mann ohne Eigenschaften' nachgewiesen sind.) Den

darin wirksamen ethischen Impuls begreift Musil in späteren Notizen seinerseits als Ausdruck einer politischen Stimmungslage:

"Eine andere Komponentö des Erlebnisses [des 1. Weltkriegs, sh] war die Extase des Altruismus. Dieses Gefühl, zum erstenmal mit dem Mitdeutschen etwas gemeinsam zu haben. Ein Teil des militanten Nationalismus war nichts anderes als Pazifismus. Das ist in die Brüche gegangen. Darf man dann wie Werfel, Rubiner u auch der Bolschewismus u Kommunismus eine Regeneration in Weltausmass erwarten? Ist der Mensch gut? (denn das verstehen sie doch unter Güte) Er ist das und vieles andere." (Tb I,544)

Bereits im Panama-Komplex vermerkt Musil Werfel als Beispiel eines aktiven Kriegsgegners (Tb I, 586). In einer ersten Spion-Konzeption hat er ganz vage vorgesehen, einige Literaten in den Diotima-Kreis einzuführen (Tb II, 1068). Offenbar unter dem Einflus der Auseinandersetzung mit Werfel entsteht aber schon auf dem Blatt B 99 eine Figurenkonzeption, in der die pazifistische Weltanschauung des einzuführenden Dichters in den Vordergrund gerückt wird:

“Der junge jüdische Dichter Gottlieb Friedel? Feuermaul gehörte zu jenen, die teils aus Ängstlichkeit (Minderwertigkeitskomplex), teils einer neu aufkommenden Mode der Güte und des Vertrauens in die unverdorbene Menschennatur folgend, […] der Menschheit am liebsten dort hinein gekrochen wären, wo sie am wärmsten ist. […] Pazifismus und Humanitarismus […] warme Predigt des Optimismus […]

(Strutz 1981, 54f., unvollständig bei Frisé, Tb II, 1077)

Eine solche Weltanschauungsliteratur hat Musil immer mit Misstrauen betrachtet. Werfel erscheint denn auch in den späten Notizen stereotyp als Beispiel eines unechten und unverdient erfolgreichen Literatentums, am prägnantesten wohl zusammengefasst in einem Satz von 1930:

“Meine Schwierigkeit: Was habe gerade ich in einer Welt zu bestellen, in der ein Werfel Ausleger findet!" (Tb I, 813)

Wenn Werfel das Hauptmodell für Feuermaul darstellt (434 Siehe auch Tb I, 641; 617; 691; 730; 831; 885; 892; 938; Tb II, 971. ln seiner 'Erinnerung an Robert Musil' bemerkt Wolfdietrich Rasch: “Von Werfel sprach er des öfteren, bestätigte auch, dass er mit dem Dichter Feuermaul in seinem Roman gemeint sei." (Rasch 1967, 19) Dieser Behauptung steht die Tatsache entgegen, dass Rasch Musil zum letztenmal Ende 1932 besucht und von ihm damals den gerade ausgelieferten zweiten Band des 'Mann ohne Eigenschaften'erhalten hat: da Feuermaul darin zum erstenmal erwähnt wird, hat Musil mit Rasch kaum vorher über ihn gesprochen. Am Vorbildcharakter Werfels kann dennoch kein Zweifel bestehen.), so sind in die Figur weitere Vorbilder eingegangen, die Musil als Beispiele fal-

schen Schriftstellertums ansieht, etwa Anton Wildgans. (435 Siehe Strutz 1981, 15f.) In Feuermaul verdichten sich Musils Abneigungen gegen einen seiner Meinung nach auf völlig falschen Werten aufbauenden Kulturbetrieb. Schon im Erlöser-Entwurf heisst es deshalb von Anders:

“Er besass den Tatsachensinn, der die Naturwissenschaft unsrer Zeit gross gemacht hat, und liebte seinetwegen die Hartgeldseele eines Kaufmanns eigentlich mehr als die des grossen zeitgenössischen Lyrikers Friedel Feuermaul.” (GW I, 1989)

6.18.2. Menschengüte und schöne Worte

lm 'Mann ohne Eigenschaften' erscheint Feuermaul erst sehr spät, aber an entscheidender Stelle. (436 Dass Feuermaul allerdings als Figur im zweiten Buch eine “zentrale Stellung" einnehmen soll (Strutz 1981 ,12), ist denn doch übertrieben.) Nach Monaten ergebnisloser Beratungen der Parallelaktion kann General Stumm Ulrich eines Tages verkünden:

“Das von allen erwartete Ereignis beginnt jetzt zu entstehn!"

(GW I,931)

Das Ereignis besteht vorerst einmal darin, dass Diotima eine ernsthafte Konkurrenz im Salon der Frau Drangsal erwachsen ist, die mit Vehemenz den Dichter Feuermaul propagiert. (437 ln Frau Drangsal hat Musil Alma Mahler-Werfel porträtiert, die Witwe Gustav Mahlers und spätere Frau Franz Werfels; siehe Frisé, Tb ll, 761f., Anm. 91; sowie Strutz 1981, 92.) Stumms Bericht verkürzt Feuermaul jenseits aller ästhetischen Verdienste, die ihm sogar Ulrich zuerkennt, auf die expressionistische Formel 'Der Mensch ist gut' (GW I, 932). Die politische Theorie dieser Haltung ist der Pazifismus. Dessen aktuelle Bedeutung bestätigen Diotima (GW I, 935), Stumm (GW I, 976; 1010) sowie Tuzzi (GW I, 1000f.), wobei zugleich deutlich gemacht wird, wie das Interesse daran nicht zuletzt aus Intrigen der schöngeistigen Gesellschaft erwächst (GW I, 1002).

So als Exponent des Zeitgeistes eingeführt, kann Feuermaul endlich selbst in die Gespräche und Beratungen der Parallelaktion eingreifen. Der Reihe nach bemächtigt er sich Arnheims (GW I, 1004), des Kriegsministers (GW I, 1018) und gerät schliesslich an Hans Sepp (GW I, 1031). Der Zusammenstoss expressiver Menschenliebe mit dem militanten Antisemitismus zeitigt überraschend einen gemeinsamen Beschluss (438 Siehe oben, s. 331.):

“Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!" (GW I, 1035)

Feuermaul lässt in diesem Kompromiss zwar die bisher von ihm ausgeschlossene Gewalt zu, indem er ihr Macht über die eigene Person einräumt. Aber er weist den Anspruch einer sich überordnenden Vergesellschaftungsstruktur zurück. Insgesamt bedeutet der Beschluss die Favorisierung eines, wie auch immer formal verstandenen, Individualismus gegenüber jeglichem Kollektivismus; deshalb wird der Beschluss von dem auf Mobilisierung drängenden Kriegsministerium unterdrückt. (439 Strutz interpretiert den Beschluss höchst ungenau: “Die in ihr [der Formel des Beschlusses, sh] enthaltene humanitäre Tendenz – in Sinne einer der Situation jeweils völlig inadäquaten, visionären Lösungsmöglichkeit – stellt das Scheitern und Versagen vieler Kulturkritiker und Pazifisten gegenüber der radikaleren ldeologie dar." (Strutz 1981, 29) Weder die “humanitäre Tendenz", noch die Formel selbst, “stellt das Scheitern dar". lm Beschluss setzt sich im Gegenteil Feuermauls lndividualismus gegenüber der “radikaleren ldeologie" tendentiell durch; erst die Durchführung des Beschlusses scheitert an den Machtverhältnissen. Pikanterweise führt Strutz als Beleg für seine Kritik an Feuermaul ein Nachlassblatt an, auf dem Anders gegen Feuermaul zum Verteidiger einer, völlig inhaltsleer gelassenen, “Autorität" und zum Rechtfertiger der Todesstrafe für Moosbrugger wird (Strutz 1981, 30).)

Feuermauls Menschenliebe wird von Musil dennoch einer zweifachen Kritik unterzogen. Erstens lässt er schon Ulrich die individualpsychologische These vertreten, dass Feuermauls menschenfreundliches Literatentum aus einer Opposition zum Vater zu erklären sei (GW I, 1019). Dieser Erklärungsansatz wird von Musil verallgemeinert und zu einer kleinen Theorie der Funktion von “Sündenböcken" und “Tugendböcken" ausgebaut (GW I, 1033)(440 Siehe oben, s. 322.): Feuermauls Menschenliebe wird damit zur Kompensation fehlender personenbezogener Liebe. (441 Siehe G. Graf 1969,226.)

Diesen Ansatz meint Musil, wenn er in einem Nachlassblatt von 1932 zu Feuermaul notiert:

“vorziehen als Pendant zu: Man kann nur seine Schwester lieben. (Der Mensch möchte lieben, wenn er bloss könnte.)" (GW I, 1857)

Feuermauls satirisiertes Beispiel soll also das Experiment der Geschwister als Kontrastbild nochmals legitimieren.

Der individualpsychologische Ansatz geht zweitens über und wird ergänzt durch einen gesellschaftstheoretischen. (442 lhn pointiert vor allem Strutz, dem Feuermaul zum Paradebeispiel der scharfen Kritik Musils an einer beschränkten bürgerlichen Kulturauffassung wird.) Schon die Opposition zum Vater hat gesellschaftliche Bedeutung. Feuermaul verdrängt durch seine abstrakte Menschengüte die konkrete Ausbeutung,

die sein Vater in seinen Phosphorwerken pratiziert. (443 Siehe Strutz 1981, 85. Strutz überzieht aber an dieser Stelle, wie durchgehend, die Reflektiertheit und Präzision von Musils kritischer Darstellung. Die Tatsache der Ausbeutung wird in den ersten beiden veröffentlichten Büchern des Bomans in zwei knappen Sätzen erwähnt. Hinzu kommt ein Nachlassentwurf , in dem Feuermauls Vater zuerst sein Geld als Tuchhändler und dann als Munitionsfabrikant macht (GW l, 1443). Wie schon bei Arnheim (siehe oben, s. 290) unterscheidet Musil nicht zwischen lndustrie- und Handelskapital; gleiches gilt für Strutz, der Feuermauls Aversion gegen “industrielle Rationalität" umstandslos aus dessen “kaufmannsklugem Elternhaus" ableitet (Strutz 1981, 85).) Feuermauls Literatentum verschiebt alle gesellschaftlichen Probleme ins bloss Kulturelle. (444 Siehe Strutz 1981, 49.) Er unterschlägt die Widersprüche der Realität und arbeitet durch seine Ablehnung der Reflexion den irrationalistisch-gewalttätigen Strömungen zu. (445 Strutz formuliert: “Feuermauls Ablehnung der Reflexion unterstützt jene, die eine Autonomie des lndividuums ablehnen." (Strutz 1981, 45) Dieser Schluss ist nicht zwingend; siehe die folgenden Ausführungen zum Beschluss der Parallelaktion.) Dennoch ist Feuermauls expressiver Individualismus und illusionärer Pazifismus nicht vollständig instrumentalisierbar. Graf Leinsdorf beispielsweise rechnet mit Feuermaul zwar als dem “schönen Wort", welches die “starke Hand" legitimiere, aber er wird von ihm enttäuscht (GW I, 1017). Und der von Feuermaul provozierte Beschluss wird der Militärpartei sogar zum Hindernis. (446 Strutz suggeriert wiederholt, Feuermaul sei nicht nur Anlass, sondern die eigentliche Ursache des sich durchsetzenden Militarismus. Feuermauls Menschenliebe, formuliert er beispielsweise, “muss ihr eigenes Gegenteil erreichen" (Strutz 1981, 49). Unterschlagen wird in dieser deterministischen und mechanistischen Formulierung der tätige Eingriff der militaristischen Kräfte. Strutz beruft sich abschliessend für seine Beurteilung von Feuermauls Haltung als “illusionärer Pazifismus" auf eine Rede von Bundeskanzler Helmut Schmidt aus dem Jahre 1980 (Strutz 1981, 98 und 132, Anm. 232). Der bundesdeutsche Ex-Bundeskanzler, der die angebliche 'Raketenlücke' zur weiteren Aufrüstung erfunden hat, als Kronzeuge gegen den Pazifismus – angesichts solcher 'Realpolitik' erhält der noch so illusionäre Pazifismus historisch unbedingt recht. Das Elend dieser realpolitischen Position teilt Musil teilweise mit Strutz. Musil will Feuermauls Haltung als ahistorische, unzeitgemässe Wiederholung jüdisch-vorchristlicher Ethik entlarven. Zu diesem Zweck zieht er auch den Satz aus dem Buch Jesaja heran: “Die Schwerter werden zu Pflugscharen” (Strutz 1981, 121, Anm. 119). Bekanntlich ist dieser Satz in jüngster Zeit in der BRD wie in der DDR zu einem zentralen Slogan der neuen Friedensbewegung geworden. Daran zeigt sich, wie solche ,ahistorischen’, besser: ungleichzeitigen Theoreme zur politischen Kraft werden können, wenn sie die Massen ergreifen.) Gegen deren Machtmittel vermag er durch seine Konzentration aufs Kulturelle nichts auszurichten. In den 1938 nochmals überarbeiteten Druckfahnenkapiteln übernehmen das Kriegsministerium und das Ministerium des Äusseren einen geplanten Weltfriedenskongress und funktionieren ihn in eine militärische Machtdemonstration mit folkloristischen Verzierungen um, bei der der Pazifismus Feuermauls keinen Platz mehr findet (GW l, 1122).


Zitiervorschlag
Stefan Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. Untersuchungen zum Romanwerk Robert Musils (=Musil-Studien, Bd. 9). München: Fink 1984, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-howald_aesthetizismus_1984/methods/sdef:TEI/get