Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem

Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. Leipzig: C. G. Naumann 1888. 6. und 7. Tausend Leipzig: C. G. Naumann 1899 (=Nietzsche’s Werke. Erste Abtheilung. Band VIII), S. 1-51

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— Ich habe erklärt, wohin Wagner gehört — nicht in die Geschichte der Musik. Was bedeutet er trotzdem in deren Geschichte? Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik: ein capitales Ereigniss, das zu denken, das vielleicht auch zu fürchten giebt. In Formel: Wagner und Liszt. — Noch nie wurde die Rechtschaffenheit der Musiker, ihre Echtheit gleich gefährlich auf die Probe gestellt. Man greift es mit Händen: der grosse Erfolg, der Massen-Erfolg ist nicht mehr auf Seite der Echten, — man muss Schauspieler sein, ihn zu haben! — Victor Hugo und Richard Wagner — sie bedeuten Ein und Dasselbe: dass in Niedergangs-Culturen, dass überall, wo den Massen die Entscheidung in die Hände fällt, die Echtheit überflüssig, nachtheilig, zurücksetzend wird. Nur der Schauspieler weckt noch die grosse Begeisterung. — Damit kommt für den Schauspieler das goldene Zeitalter herauf, — für ihn und für Alles, was seiner Art verwandt ist. Wagner marschirt mit Trommeln und Pfeifen an der Spitze aller Künstler des Vortrags, der Darstellung, des Virtuosenthums; er hat zuerst die Kapellmeister, die Maschinisten und Theatersänger überzeugt. Nicht zu vergessen die Orchestermusiker: — er erlöste diese von der Langenweile … Die Bewegung, die Wagner schuf, greift selbst in das Gebiet der Erkenntniss über: ganze zugehörige Wissenschaften tauchen langsam aus jahrhundertealter Scholastik empor. Ich hebe, um ein Beispiel zu geben, mit Auszeichnung die Verdienste Riemann‘s um die Rhythmik hervor, des Ersten, der den Hauptbegriff der Interpunktion auch für die Musik geltend gemacht hat (leider vermittelst eines hässlichen Wortes: er nennt‘sPhrasirung). — Dies Alles sind, ich sage es mit Dankbarkeit, die Besten unter den Verehrern Wagner‘s, die Achtungswürdigsten — sie haben einfach Recht, Wagnern zu verehren. Der gleiche Instinkt verbindet sie mit einander, sie sehen in ihm ihren höchsten Typus, sie fühlen sich zur Macht, zur Grossmacht selbst umgewandelt, seit er sie mit seiner eignen Gluth entzündet hat. Hier nämlich, wenn irgendwo, ist der Einfluss Wagner‘s wirklich wohlthätig gewesen. Noch nie ist in dieser Sphäre so viel gedacht, gewollt, gearbeitet worden. Wagner hat allen diesen Künstlern ein neues Gewissen eingegeben: was sie jetzt von sich fordern, von sich erlangen, das haben sie nie vor Wagner von sich gefordert — sie waren früher zu bescheiden dazu. Es herrscht ein andrer Geist am Theater, seit Wagner‘s Geist daselbst herrscht: man verlangt das Schwerste, man tadelt hart, man lobt selten, — das Gute, das Ausgezeichnete gilt als Regel. Geschmack thut nicht mehr noth; nicht einmal Stimme. Man singt Wagner nur mit ruinirter Stimme: das wirkt dramatisch. Selbst Begabung ist ausgeschlossen. Das espressivo um jeden Preis, wie es das Wagnerische Ideal, das décadence-Ideal verlangt, verträgt sich schlecht mit Begabung. Dazu gehört bloss Tugend — will sagen Dressur, Automatismus, Selbstverleugnung. Weder Geschmack, noch Stimme, noch Begabung: die Bühne Wagner's hat nur Eins nöthig — Germanen! … Definition des Germanen: Gehorsam und lange Beine … Es ist voll tiefer Bedeutung, dass die Heraufkunft Wagners zeitlich mit der Heraufkunft des Reichs zusammenfällt: beide Thatsachen beweisen Ein und Dasselbe — Gehorsam und lange Beine. — Nie ist besser gehorcht, nie besser befohlen worden. Die Wagnerischen Kapellmeister in Sonder-heit sind eines Zeitalters würdig, das die Nachwelt einmal mit scheuer Ehrfurcht das klassische Zeitalter des Kriegs nennen wird. Wagner verstand zu commandiren; er war auch damit der grosse Lehrer. Er commandirte als der Unerbittliche Wille zu sich, als die lebenslängliche Zucht an sich: Wagner, der vielleicht das grösste Beispiel der Selbstvergewaltigung abgiebt, das die Geschichte der Künste hat (— selbst Alfieri, sonst sein Nächstverwandter, ist noch überboten. Anmerkung eines Turiners).


Zitiervorschlag
Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. Leipzig: C. G. Naumann 1888. 6. und 7. Tausend Leipzig: C. G. Naumann 1899 (=Nietzsche’s Werke. Erste Abtheilung. Band VIII), S. 1-51, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-nietzsche_fallwagner_1888/methods/sdef:TEI/get