2.7.4. „Beschreibung einer
kakanischen Stadt“
: lmperialismus als Ursache für
Nationalismus
Am Beispiel der Stadt "B."
(Brünn)1 sollten ursprünglich jene Probleme – das Verhältnis von gesellschaftspolitischer
Wirklichkeit und ideologischer Motivatron von Handlungen2 – illustriert werden; sie erschienen im Begriff Kapitalismus
zentral erfaßt.
Die Illustration bringt, soweit sie am Nachlaß nachvollzogen werden kann, zutage, daß
die Demokratisierung
, die Suche nach der kollektiven Identität
(im Sinne der „Systematik des Zusammenlebens“
, NM II/8, S.
233), als verschütteter Kampf um die Basis aller Reflexion, als Rivalität von Schichten – und damit verschränkt, von Nationen – um Eigentums- und Bildungsprivilegien erkennbar wird. Ein Auszug
aus einer Kapitelstudie Musils kann diese Situation veranschaulichen und zugleich
zeigen, wie stark der Zusammenhang der Eigentumsproblematik mit dem Gesamtplan des
Mann ohne Eigenschaften
(zeitweise) war:
„(…) 25 Germanisierung als Folge von Besitz u
Bildung. (Diese gemäßigte Stadt war der Schauplatz erbitterter Kämpfe)
(Krankheitsherd, der dem Ausland Lust zum Eingriff macht) (Diese Stadt konnte
zwischen der Ehre wählen der Herd des Weltkriegs oder der Geburtsort Feuermauls
zu sein) Wie kommt man eigentlich zu so etwas?
Nach 24 Beilage 1) Die Deutschen als
Edelrasse 2) Der Mensch koitiert bloß, aber die Geschichte muß mit den
Bevölkerungszahlen etwas anfangen. 3) Einfache Leute sollen nicht zuviel lernen.
4) Nationale Romantiker (Verlegung in Sünden- und Liebesböcke) Nach 25: 1) Als
natürliche Folge von Besitz und Bildung. Der kolloidale Mensch nimmt die Form
der Umstände an; Geschehenlassen u Gewähren. 2) Jedes
[sic!] Kultur beruht darauf, daß man sich nicht über
alles den Kopf zerbricht. (Arbeitsteilung – Soziale Disziplin). Es ist das
kleinere Übel, daß der andere zu Schaden kommt. (Automobile u dgl.) Darum
glauben die Deutschen nicht, daß den Tschechen Unrecht geschähe. 3) Die
Tschechen nehmen dagegen einen dolus an. Nationen haben aber keine Absichten.
(Aktuell: eine Nation guter Menschen kann grausam u tückisch sein.) Nationen
haben einen unzurechnungsfähigen Geist. Richtiger: sie haben überhaupt keinen
Geist. Wohl aber irgendetwas wie Vorbereitungen. Vergleich mit Irrsinnigen. 4)
Es ist also falsch, daß die Nationen wollten. Aber sie taten einander. 5) Das
Bedürfnis erregt u einseitig zu sein. 6) Damals nannte man so etwas noch
Balkanisierung. Vergleich mit Blutrache führt darauf, daß die natürlichen
Beziehungen durch
Ideengespenster vertreten werden (…) Unterschied: die Idee lebt,
ist in suspenso. (…) 7) Das gesunde Gefühl für Nation u ähnl. u. das ungesunde
(fängt schon mit Familienliebe an). Das Problem ist identisch mit dem des
richtigen Lebensgefühls. Mündend in 8) Forderung einer Systematik des
Zusammenlebens. Psychotechnik der Kollektive. (…) Das wäre die atheistische u.
bescheidenere Lösung. (…) Als Anfang einige Beziehungen zu den Ideen von Band I.
Daraus vorderhand nur: Grundressentiment: Niemand findet den Sinn. – Warm u kalt
Tun – das Zeitalter des Individualism. geht zu Ende, als Gegensatz zum
Individual. Ulrichs und Agathes.
In dieser Stadt weiß Feuermaul nun nichts besseres als
Menschenliebe. Er ist hinter dem Theater geboren, Ehrgeiz, Für – In im Leben
eines Dichters.“
(NM II/8, S. 233: „Studienblatt Soz. Fragestellung“; dieser Text ist auch bei Frisé abgedruckt: GW, I, 1869)
In dieser Textstelle erscheint in komprimierter Form die ganze Fülle der
Problemdimensionen, die den Komplex der Sozialen Fragestellung
am Beispiel einer Kleinstadt, die als Sinnbild imperialistischer Verhältnisse und
als fiktiver Geburtsort eines sich in Phrasen ergehenden Dichters als Romanpointe
konzipiert wurde, aufrollen sollte.
Musil hatte die Absicht, die einzelnen Punkte, die er sich im zitierten Abschnitt
notiert, breit darzustellen. Ich möchte dies am Punkt 24, Beilage 3 belegen. Dieser
lautet: „Einfache Leute sollen nicht zuviel lernen.“
(NM II/8,
S. 233) Am Nachlaßblatt NM VII/1., Seite 61 werden die Schulen der beiden
Volksgruppen, welche in Brünn leben, zahlenmäßig verglichen. Dadurch ist es möglich,
daß der nationale Konflikt, der nicht nur bis 1914 in den Gebieten der heutigen
Tschechoslowakei den Alltag beherrschte, in seiner sozialen Bedingtheit einsichtig
wird. Die ursprünglich größtenteils von deutschen Bürgern bewohnte Stadt wird im
Zuge der Industrialisierung zunehmend vom tschechischen Proletariat und in weiterer
Folge von Tschechen, die kleinbürgerliche Berufe ausübten, besiedelt, d. h., die
billigen tschechischen Arbeitskräfte ließen sich in der Stadt nieder, ohne daß
allerdings diese neue Bürgerschaft den Lebensstandard erreichen kann, den die
deutschsprachigen Brünner halten. Im folgenden Zitat deutet Musil an, daß er diese
Sachlage nicht als Historiker berichten will, sondern „Von einem
beliebigen jungen Menschen gesehen“
(NM VII/1, S. 58 f. wird dieser junge
Mann, Schüler der „deutschen technischen Hochschule“, Biermaul genannt);3 mit dieser Verschiebung will Musil das Bewußtsein
eines deutschsprachigen Brünners, der Musil selber auch war, beleuchten. Es heißt
nun in der genannten Passage:
„Geschichte, Kern und Reichtum und Mehrheit und der ganze in ihr
eingelagerte Beamtenapparat dieser Stadt waren deutsch; jeden Morgen holten aber
die
Sirenen der Fabriken aus den Dörfern der Umgebung
Scharen von tschechischen [durchgestrichen: bäuerlichen, siehe Anm. 177]
Arbeitern herein, und verstreuten sie zwar abends wieder über das Land, aber im
Laufe der Jahrzehnte blieb davon doch immer mehr in der Stadt hängen und machte
(…) das schon vorhandene Kleinbürgertum kräftig nach oben wachsen.
:: 71% Tschechen 29% Deutsche
1529 Volksschulen 677
7 Gymnasien 14
3 Realschulen 15 ::
Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon
ein gewisses Maß von Kultur, so hätte sich hier eine besondere österreichische
Kultur entwickelt, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder
tschechisch noch deutsch, sondern ein selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen,
was die Tschechen irrtümlich später Germanisierung nannten. Man stand in Kkanien
damals noch auf dem Standpunkt, daß es nicht gut sei, wenn die einfachen Leute
zuviel lernen. Man legte auch nicht zuviel Wert darauf, daß es ihnen
wirtschaftlich gut gehe. Steckte etwas Tüchtiges in einem Menschen, so ränge es
sich schon durch, und es ist gar nicht zu gut, ihm das zu leicht zu machen; es
gab 2 oder 3 wohlhabende Männer in Kkanien und einen hohen Staatsbeamten, welche
die Richtigkeit dieses Grundsatzes bewiesen, außerdem hatten es mehrere Söhne
von Feldwebeln zu Obstltnts. gebracht. Es stak ein Stück altösterreichischer
Überlieferung darin, den Menschen nur mit Bedacht das Vorwärtskommen zu
erleichtern, wenn sie nicht schon aus Kreisen stammten, zu deren Rechten es
gehörte. Die Tschechen haben das Germanisierung genannt u. Umschichtung der
europäischen Macht (…) Die Zahl der Schulen entsprach diesem Verhältnis nur auf
der untersten Stufe, an höheren Bildungsanstalten hatten dagegen die Deutschen
doppelt soviel und die Tschechen um die Hälfte zu wenig, als ihnen nach ihrer
Zahl zugekommen wäre.“
(NM VII/1, S. 61)
Die Reaktion auf die Auswirkungen der Rivalität um die Lebenschancen war aber, so
betont Musil immer wieder, nicht die situative politische Forderung nach
Gleichstellung, sondern die "Verlegung in Sünden- und
Liebesböcke"
(II/8, S. 233 u. ö.). Der Zugehörige zur anderen Volksgruppe
wird der "Sündenbock"
: die Emotionen werden auf ganze Nationen
und Rassen ausgedehnt (vgl. auch NM VIII/1, S. 52). Die soziale Ungerechtigkeit
führt aufgrund einer solchen "Nationalen Romantik"
(II/8, S.
233 u. ö.) zum Nationalismus, zu "nationale(r) Liebe"
und "nationale(m) Haß"
, beides sind emotionale Fehlinvestitionen,
von Musil der „Schutt
(GW I, 1038) genannt.des vergeblich
Gefühlten
”
Das „Stück altösterreichischer Überlieferung“
(NM VII/1, S.
61), die Aussperrung breiter Gesellschaftsschichten von der höheren Bildung, hat
seine bürokratische Entsprechung in der „altösterreichische(n) Maxime, daß der Staatsbürger nicht über alles nachdenken
soll“
(GW I, 415), deren Vertreter Tuzzi ist.
Es wäre für Musil innerhalb seines Romankonzepts ein Novum gewesen, wenn er nun
tatsächlich diese kakanische Stadt
in ihrer
soziologisch-historischen Struktur dargestellt hätte. Ein Grund, daß er dieses Nationen-Kapitel
doch aus dem Konzept ausschied, war
vielleicht der, daß er den Roman aktuell halten wollte, anders gesagt, daß er das
Zeitromanhafte stärker akzentuieren wollte. Seine Abneigung gegen direktes Berichten
zeigt auch, daß er die Figur Biermauls zwischen sein persönliches Anliegen (Musil
ist in Brünn aufgewachsen und hat wie Biermaul die Realschule und die Technische
Hochschule besucht, vgl. Musil-Kommentar 78) und die geschichtlichen Prozesse, deren
Augenzeuge er zum Teil selbst war, einschieben wollte.4 Er zeigt schließlich nicht historisch-soziologische Prozesse, sondern deren
Spiegelungen in den Figuren und im quasi-kulturellen Geschehen. Feuermauls
Verkündigung von Menschenliebe
in B.
ist
parallel zu sehen mit der Abhaltung eines Weltfriedenskongresses
angesichts angespannter politischer
Verhältnisse.
Musil führt die Probleme von Nationalismus, die soziale Frage u. a. auf die
Grundfrage des „richtigen
Lebensgefühls"
(NM II/8, S. 233, Hervorhebung von J. S.) zurück. Er
handelt dieses an verschiedenen anthropologischen Konstanten ab, wie an den
Bedingungen der Hierarchie, des Eigentums, der Bildung, des Generationskonflikts,
des Kulturbetriebes, und vor allem der Geschlechterbeziehung. Die
Geschlechterbeziehung scheint für die "Systematik des
Zusammenlebens"
das Hauptmodell abzugeben. Der andere
Zustand
ist insofern als Versuch zu nehmen, die Konturen des "richtigen Lebensgefühls"
zu fassen (hier ist der Einfluß des
Symbolismus5 wichtig).
Allerdings ist die Gesellschaftlichkeit der Geschlechterbeziehung in der Darstellung
von Ulrichs Liebe zu Agathe überspielt (sie schließen sich von der Welt fast
hermetisch ab). Nicht so bei den übrigen Figuren des Mann ohne
Eigenschaften
: es ist also nach der Differenz zu suchen, die hinsichtlich
der Gesellschaftlichkeit zwischen Ulrich und Agathe einerseits und Arnheim-Diotima,
Rachel-Soliman, Hans Sepp-Gerda, Walter-Clarisse usw. zum anderen besteht. Die
These, daß Eigentum und Bildung den notwendigen Rahmen einer geglückten Interaktion,
eines Einheit stiftenden Wirklichkeitsbezuges abgeben, sei wiederholt. Die
Darstellung von Fehlverhalten, von Fehlformen des Bewußtseins6 soll gerade dieses Scharnier beachten, das Selbstbewußtsein und
Gesellschaftlichkeit verbindet.