Politik und Literatur in Musils "Mann ohne Eigenschaften"

Josef Strutz: Politik und Literatur in Musils "Mann ohne Eigenschaften". Am Beispiel des Dichters Feuermaul. Königstein/Ts.: Hain 1981

2.7.4. „Beschreibung einer kakanischen Stadt“: lmperialismus als Ursache für Nationalismus

Am Beispiel der Stadt "B." (Brünn)1 sollten ursprünglich jene Probleme – das Verhältnis von gesellschaftspolitischer Wirklichkeit und ideologischer Motivatron von Handlungen2 – illustriert werden; sie erschienen im Begriff Kapitalismus zentral erfaßt.

Die Illustration bringt, soweit sie am Nachlaß nachvollzogen werden kann, zutage, daß die Demokratisierung, die Suche nach der kollektiven Identität (im Sinne der „Systematik des Zusammenlebens“, NM II/8, S. 233), als verschütteter Kampf um die Basis aller Reflexion, als Rivalität von Schichten – und damit verschränkt, von Nationen – um Eigentums- und Bildungsprivilegien erkennbar wird. Ein Auszug aus einer Kapitelstudie Musils kann diese Situation veranschaulichen und zugleich zeigen, wie stark der Zusammenhang der Eigentumsproblematik mit dem Gesamtplan des Mann ohne Eigenschaften (zeitweise) war:

„(…) 25 Germanisierung als Folge von Besitz u Bildung. (Diese gemäßigte Stadt war der Schauplatz erbitterter Kämpfe) (Krankheitsherd, der dem Ausland Lust zum Eingriff macht) (Diese Stadt konnte zwischen der Ehre wählen der Herd des Weltkriegs oder der Geburtsort Feuermauls zu sein) Wie kommt man eigentlich zu so etwas?

Nach 24 Beilage 1) Die Deutschen als Edelrasse 2) Der Mensch koitiert bloß, aber die Geschichte muß mit den Bevölkerungszahlen etwas anfangen. 3) Einfache Leute sollen nicht zuviel lernen. 4) Nationale Romantiker (Verlegung in Sünden- und Liebesböcke) Nach 25: 1) Als natürliche Folge von Besitz und Bildung. Der kolloidale Mensch nimmt die Form der Umstände an; Geschehenlassen u Gewähren. 2) Jedes [sic!] Kultur beruht darauf, daß man sich nicht über alles den Kopf zerbricht. (Arbeitsteilung – Soziale Disziplin). Es ist das kleinere Übel, daß der andere zu Schaden kommt. (Automobile u dgl.) Darum glauben die Deutschen nicht, daß den Tschechen Unrecht geschähe. 3) Die Tschechen nehmen dagegen einen dolus an. Nationen haben aber keine Absichten. (Aktuell: eine Nation guter Menschen kann grausam u tückisch sein.) Nationen haben einen unzurechnungsfähigen Geist. Richtiger: sie haben überhaupt keinen Geist. Wohl aber irgendetwas wie Vorbereitungen. Vergleich mit Irrsinnigen. 4) Es ist also falsch, daß die Nationen wollten. Aber sie taten einander. 5) Das Bedürfnis erregt u einseitig zu sein. 6) Damals nannte man so etwas noch Balkanisierung. Vergleich mit Blutrache führt darauf, daß die natürlichen Beziehungen durchIdeengespenster vertreten werden (…) Unterschied: die Idee lebt, ist in suspenso. (…) 7) Das gesunde Gefühl für Nation u ähnl. u. das ungesunde (fängt schon mit Familienliebe an). Das Problem ist identisch mit dem des richtigen Lebensgefühls. Mündend in 8) Forderung einer Systematik des Zusammenlebens. Psychotechnik der Kollektive. (…) Das wäre die atheistische u. bescheidenere Lösung. (…) Als Anfang einige Beziehungen zu den Ideen von Band I. Daraus vorderhand nur: Grundressentiment: Niemand findet den Sinn. – Warm u kalt Tun – das Zeitalter des Individualism. geht zu Ende, als Gegensatz zum Individual. Ulrichs und Agathes.

In dieser Stadt weiß Feuermaul nun nichts besseres als Menschenliebe. Er ist hinter dem Theater geboren, Ehrgeiz, Für – In im Leben eines Dichters.“

(NM II/8, S. 233: „Studienblatt Soz. Fragestellung“; dieser Text ist auch bei Frisé abgedruckt: GW, I, 1869)

In dieser Textstelle erscheint in komprimierter Form die ganze Fülle der Problemdimensionen, die den Komplex der Sozialen Fragestellung am Beispiel einer Kleinstadt, die als Sinnbild imperialistischer Verhältnisse und als fiktiver Geburtsort eines sich in Phrasen ergehenden Dichters als Romanpointe konzipiert wurde, aufrollen sollte.

Musil hatte die Absicht, die einzelnen Punkte, die er sich im zitierten Abschnitt notiert, breit darzustellen. Ich möchte dies am Punkt 24, Beilage 3 belegen. Dieser lautet: „Einfache Leute sollen nicht zuviel lernen.“ (NM II/8, S. 233) Am Nachlaßblatt NM VII/1., Seite 61 werden die Schulen der beiden Volksgruppen, welche in Brünn leben, zahlenmäßig verglichen. Dadurch ist es möglich, daß der nationale Konflikt, der nicht nur bis 1914 in den Gebieten der heutigen Tschechoslowakei den Alltag beherrschte, in seiner sozialen Bedingtheit einsichtig wird. Die ursprünglich größtenteils von deutschen Bürgern bewohnte Stadt wird im Zuge der Industrialisierung zunehmend vom tschechischen Proletariat und in weiterer Folge von Tschechen, die kleinbürgerliche Berufe ausübten, besiedelt, d. h., die billigen tschechischen Arbeitskräfte ließen sich in der Stadt nieder, ohne daß allerdings diese neue Bürgerschaft den Lebensstandard erreichen kann, den die deutschsprachigen Brünner halten. Im folgenden Zitat deutet Musil an, daß er diese Sachlage nicht als Historiker berichten will, sondern „Von einem beliebigen jungen Menschen gesehen“ (NM VII/1, S. 58 f. wird dieser junge Mann, Schüler der „deutschen technischen Hochschule“, Biermaul genannt);3 mit dieser Verschiebung will Musil das Bewußtsein eines deutschsprachigen Brünners, der Musil selber auch war, beleuchten. Es heißt nun in der genannten Passage:

„Geschichte, Kern und Reichtum und Mehrheit und der ganze in ihr eingelagerte Beamtenapparat dieser Stadt waren deutsch; jeden Morgen holten aber dieSirenen der Fabriken aus den Dörfern der Umgebung Scharen von tschechischen [durchgestrichen: bäuerlichen, siehe Anm. 177] Arbeitern herein, und verstreuten sie zwar abends wieder über das Land, aber im Laufe der Jahrzehnte blieb davon doch immer mehr in der Stadt hängen und machte (…) das schon vorhandene Kleinbürgertum kräftig nach oben wachsen.

:: 71% Tschechen 29% Deutsche

1529 Volksschulen 677

7 Gymnasien 14

3 Realschulen 15 ::

Wenn man sagen dürfte, zwei Sprachen nicht zu sprechen, sei schon ein gewisses Maß von Kultur, so hätte sich hier eine besondere österreichische Kultur entwickelt, denn die kleinen Leute dieser Stadt sprachen weder tschechisch noch deutsch, sondern ein selbsterfundenes Gemisch aus deren Teilen, was die Tschechen irrtümlich später Germanisierung nannten. Man stand in Kkanien damals noch auf dem Standpunkt, daß es nicht gut sei, wenn die einfachen Leute zuviel lernen. Man legte auch nicht zuviel Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich gut gehe. Steckte etwas Tüchtiges in einem Menschen, so ränge es sich schon durch, und es ist gar nicht zu gut, ihm das zu leicht zu machen; es gab 2 oder 3 wohlhabende Männer in Kkanien und einen hohen Staatsbeamten, welche die Richtigkeit dieses Grundsatzes bewiesen, außerdem hatten es mehrere Söhne von Feldwebeln zu Obstltnts. gebracht. Es stak ein Stück altösterreichischer Überlieferung darin, den Menschen nur mit Bedacht das Vorwärtskommen zu erleichtern, wenn sie nicht schon aus Kreisen stammten, zu deren Rechten es gehörte. Die Tschechen haben das Germanisierung genannt u. Umschichtung der europäischen Macht (…) Die Zahl der Schulen entsprach diesem Verhältnis nur auf der untersten Stufe, an höheren Bildungsanstalten hatten dagegen die Deutschen doppelt soviel und die Tschechen um die Hälfte zu wenig, als ihnen nach ihrer Zahl zugekommen wäre.“ (NM VII/1, S. 61)

Die Reaktion auf die Auswirkungen der Rivalität um die Lebenschancen war aber, so betont Musil immer wieder, nicht die situative politische Forderung nach Gleichstellung, sondern die "Verlegung in Sünden- und Liebesböcke" (II/8, S. 233 u. ö.). Der Zugehörige zur anderen Volksgruppe wird der "Sündenbock": die Emotionen werden auf ganze Nationen und Rassen ausgedehnt (vgl. auch NM VIII/1, S. 52). Die soziale Ungerechtigkeit führt aufgrund einer solchen "Nationalen Romantik" (II/8, S. 233 u. ö.) zum Nationalismus, zu "nationale(r) Liebe" und "nationale(m) Haß", beides sind emotionale Fehlinvestitionen, von Musil der „Schutt des vergeblich Gefühlten (GW I, 1038) genannt.

Das „Stück altösterreichischer Überlieferung“ (NM VII/1, S. 61), die Aussperrung breiter Gesellschaftsschichten von der höheren Bildung, hat seine bürokratische Entsprechung in der „altösterreichische(n) Maxime, daß der Staatsbürger nicht über alles nachdenken soll“ (GW I, 415), deren Vertreter Tuzzi ist.

Es wäre für Musil innerhalb seines Romankonzepts ein Novum gewesen, wenn er nun tatsächlich diese kakanische Stadt in ihrer soziologisch-historischen Struktur dargestellt hätte. Ein Grund, daß er dieses Nationen-Kapitel doch aus dem Konzept ausschied, war vielleicht der, daß er den Roman aktuell halten wollte, anders gesagt, daß er das Zeitromanhafte stärker akzentuieren wollte. Seine Abneigung gegen direktes Berichten zeigt auch, daß er die Figur Biermauls zwischen sein persönliches Anliegen (Musil ist in Brünn aufgewachsen und hat wie Biermaul die Realschule und die Technische Hochschule besucht, vgl. Musil-Kommentar 78) und die geschichtlichen Prozesse, deren Augenzeuge er zum Teil selbst war, einschieben wollte.4 Er zeigt schließlich nicht historisch-soziologische Prozesse, sondern deren Spiegelungen in den Figuren und im quasi-kulturellen Geschehen. Feuermauls Verkündigung von Menschenliebe in B. ist parallel zu sehen mit der Abhaltung eines Weltfriedenskongresses angesichts angespannter politischer Verhältnisse.

Musil führt die Probleme von Nationalismus, die soziale Frage u. a. auf die Grundfrage des richtigen Lebensgefühls" (NM II/8, S. 233, Hervorhebung von J. S.) zurück. Er handelt dieses an verschiedenen anthropologischen Konstanten ab, wie an den Bedingungen der Hierarchie, des Eigentums, der Bildung, des Generationskonflikts, des Kulturbetriebes, und vor allem der Geschlechterbeziehung. Die Geschlechterbeziehung scheint für die "Systematik des Zusammenlebens" das Hauptmodell abzugeben. Der andere Zustand ist insofern als Versuch zu nehmen, die Konturen des "richtigen Lebensgefühls" zu fassen (hier ist der Einfluß des Symbolismus5 wichtig).

Allerdings ist die Gesellschaftlichkeit der Geschlechterbeziehung in der Darstellung von Ulrichs Liebe zu Agathe überspielt (sie schließen sich von der Welt fast hermetisch ab). Nicht so bei den übrigen Figuren des Mann ohne Eigenschaften: es ist also nach der Differenz zu suchen, die hinsichtlich der Gesellschaftlichkeit zwischen Ulrich und Agathe einerseits und Arnheim-Diotima, Rachel-Soliman, Hans Sepp-Gerda, Walter-Clarisse usw. zum anderen besteht. Die These, daß Eigentum und Bildung den notwendigen Rahmen einer geglückten Interaktion, eines Einheit stiftenden Wirklichkeitsbezuges abgeben, sei wiederholt. Die Darstellung von Fehlverhalten, von Fehlformen des Bewußtseins6 soll gerade dieses Scharnier beachten, das Selbstbewußtsein und Gesellschaftlichkeit verbindet.


Fußnoten


Zitiervorschlag
Josef Strutz: Politik und Literatur in Musils "Mann ohne Eigenschaften". Am Beispiel des Dichters Feuermaul. Königstein/Ts.: Hain 1981, in: Musil Online, hrsg. v. RMI/KLA und ÖNB, Klagenfurt und Wien 2021, Version 0.1, März 2022. URL: https://edition.onb.ac.at/musil/o:mus.rt-strutz_politik_1981/methods/sdef:TEI/get