Material
Das Notizbuch (Format 12 x 7,5 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich
am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Auf der Vorderseite des blauen, glänzenden Kartonumschlags klebte ursprünglich ein Papierstreifen mit eh. Datierung
("Febr. 1977"); er ist nach Anfertigung der Scans abgefallen und liegt dem Original nun bei. Auf dem hinteren Umschlag sind diverse Nummern notiert, deren Bedeutung unklar ist – möglicherweise
handelt es sich um Währungsumrechnungen. Das spiralgebundene Notizbuch hat einen Umfang von 90 karierten, unpaginierten Seiten, wobei nur 22 davon beschrieben sind. Auf die Innenseiten der
Kartonumschläge schrieb Handke ebenfalls diverse Adressen, unter anderem jene von Michael Roloff (ES. 2), seinem Übersetzer ins Amerikanische; auf der hinteren Umschlaginnenseite stehen
Zahlenkolonnen, die vermutlich einen Spielstand zwischen Amina und Peter Handke dokumentieren (ES. 93) – über den Zahlenreihen stehen die Initialen "A." und "P.". Auf der letzten Notizbuchseite
vermerkte Handke Namen und Telefonnummern einiger Filmteammitglieder von Die linkshändige Frau – die Verfilmung seiner Erzählung erfolgte unter seiner Regie, Drehbeginn war Mitte März 1977 (ES. 92).
Aufenthaltsorte
Für die Notizen während seiner offiziellen Reise nach Israel im Februar 1977 benützte Handke ein eigenes Notizbuch und unterbrach damit die Aufzeichnungen in NB 011.
Gleich eine der ersten Reisenotizen lautet: "Nach Israel: [']Das ist das letzte Mal, daß ich in ein unbekanntes Land zu unbekannten Leute fliege.'" (ES. 4). Neben diesem Eintrag
findet sich eine weitere Notiz, die Aufschluss über einen konkreten Aufenthaltsort gibt: "Auf einer Holzbank im Vorort von Tel Aviv sitzend [...]" (ES. 6). Im Februar 1977 wurde
Handkes Stück Kaspar (UA 1968) von Asher Zerfati am Zavta Theater in Tel Aviv inszeniert (vgl. Levy 2005, hier S. 128) – der Grund für die Einladung nach Israel. Wahrscheinlich wohnte
Handke in der Residenz des damaligen österreichischen Botschafters Ingo Mussi in Herzliya. Die Diplomatin Barbara Taufar schreibt in ihrer Autobiographie Die Rose von Jericho (1994):
"Handke würde in der Residenz des Missionschefs, nahe dem Meer, wohnen, und ich sollte ihm und seinem Kind Jerusalem zeigen." (Taufar 1994, S. 174). Sie habe "im Hotel 'Intercontinental'
am Ölberg in Jerusalem [...] zwei Zimmer reserviert [...]" (Ebd., S. 175). Jerusalem erwähnt Handke im Notizbuch zwar nicht explizit, ein Eintrag vom 22. Februar 1977 lässt aber auf einen
Hotelaufenthalt dort schließen: "Sich durch die Korridore bewegen mit der Würdelosigkeit eines Hotelgasts" (ES. 8). Dass Handke am 22. Februar tatsächlich in Jerusalem war – und anscheinend
auch in Bethlehem (das im Notizbuch ebenfalls nicht erwähnt wird) – belegt eine Ansichtskarte mit dem Motiv "Jerusalem – Mt. of olives", die er am 22. Februar 1977 an Hermann und Hanne Lenz
schrieb: "Lieber Hermann, liebe Hanne, seit drei Tagen bin ich mit Amina in Israel und hab es schwer mit mir hier. Ich merke, daß ich mich zwingen muß, etwas wissen zu wollen. Aber die Altstadt
von Jerusalem und Betlehem heute früh, das war schön, und ich fühlte mich zeitweise sogar unauffällig einbezogen. Was will man mehr? Natürlich will man mehr." (Handke / Lenz 2006, S. 109). Der
letzte Eintrag dieses Notizbuchs, datiert auf den 28. Februar 1977, dürfte bereits nach seiner Rückkehr in Clamart entstanden sein; Handke notierte sich eine Aussage – vermutlich von seiner
Tochter Amina – (vgl. ES. 18f.), und fügte in Klammer hinzu: "(A., 28.2., vor dem In-die-Schule-Gehen)" (ES. 19). Die beiden kehrten wahrscheinlich bereits am Vortag zurück, denn ab 27. Februar
schrieb Handke wieder in NB 011 (vgl. NB 011, ES. 63) weiter.
Themen
Der Großteil der Notizen steht in Zusammenhang mit Handkes Israelreise, konkrete Hinweise auf Orte oder Personen finden sich im Notizbuch abgesehen von einigen israelischen Adressen (ES. 88, 90)
allerdings keine. Zwei Notizen lassen sich mit der Tel Aviver Inszenierung von Kaspar in Verbindung bringen: "Ein eigenes Theaterstück sehen: lernen, die Schuld gelassen zu ertragen" (ES. 8f.);
"Ruhig fahren wir an einem in der Vorstadt brennenden Haus vorbei (keine Sirenen gellten), auf das Theater zu: drehten uns nur manchmal nach den Flammen um" (ES. 18).
Barbara Taufar erzählt in ihrer Autobiographie von wenig harmonischen Erlebnissen mit Handke und erkennt sich in einer Notiz aus Das Gewicht der Welt (1977) (vgl. DGW, S. 310) wieder
(vgl. Taufar 1994, S. 177f.), die im vorliegenden Notizbuch zu finden ist: " Die Frau mit der Siamkatze (Foto der Katze auf dem Nachttisch): sie hat im Gespräch mit Leuten dieses jähe,
gemachte Grimassenlächeln (es ergreift schlagartig das ganze Gesicht), das Menschen haben, wenn sie mit Tieren oder ganz kleinen Kindern sprechen: vor allem das Falten der Nase als Lächelnstütze
(kalte, kalte Welt)" (ES. 8). Handkes Notizen reflektieren aber auch seinen zum Teil rauen Umgang mit anderen: "statt daß ich den gerechtfertigten Vorwurf vertiefte, führte ich immer weiter andere
Vorwürfe auf, bis eben immer mehr falsche darunter waren und am Schluß ich im Unrecht war" (ES. 10); "[j]emanden erst kränken müssen, um seine Einsamkeit in sich zu fühlen" (ES. 10; vgl. dazu auch Pektor).
Im Zusammenhang mit der Inszenierung von Kaspar erwähnt Taufar in Die Rose von Jericho (1994) die ausführliche Berichterstattung der israelischen Zeitungen. Die Schauspieler*innen hätten
Handke noch vor der Premiere bei ihr treffen wollen und die Botschaft habe "einen Theaterabend nur für ihre exklusiven Gäste gekauft, die nach der Vorstellung den berühmten Österreicher
kennenlernen konnten." (Taufar 1994, S.174). Im Notizbuch finden sich darauf keine konkreten Hinweise, genauso wenig wie auf ein Abendessen in Jerusalem, das die Diplomatin "mit Handkes
Einverständnis [...] mit Schauspielern, Journalisten und dem Übersetzer seines Theaterstücks arrangiert" hat (Taufar 1994, S. 175). Dagegen thematisieren viele Notizen diese Art offizieller
Anlässe, reflektieren seine 'Rolle' als Schriftsteller und Person von öffentlichem Interesse sowie den Umgang mit ihm unbekannten Leuten. In diesen Eintragungen kommt ein tiefes Unbehagen zum
Ausdruck: "Von manchen Leuten, die mich nur ruhig anschauen, ohne zu kennen, was ich bis jetzt gemacht habe, komme ich mir mehr geachtet vor als von Leuten, die alles von mir gelesen haben und
beteuern, wie begeistert sie davon sind und doch gleichzeitig zu meinen scheinen, daß ich mich auch noch darüber hinaus jetzt vor ihnen beweisen müßte, in ihrer (vielleicht tatsächlichen) Begeisterung
ist kein Funken Zuneigung oder auch nur Verständnis" (ES. 9); "[b]ei manchen Gesprächen mit Fremden dazwischen immer wieder die Vorstellung, daß einer von uns, je hektischer und beflissener das Reden wird,
plötzlich aufgeben und schreiend weglaufen oder den andern zusammenschlagen würde" (ES. 13); "[v]or Nervosität pflegte ich in eine tiefe Somnambulität zu verfallen (meine letzte Rettung)" (ES. 18) und:
"Selbstmordursache: er wurde zu sehr geachtet" (ebd.). Abgesehen von solchen kritischen Notizen, drehen sich viele der aufgeschriebenen Überlegungen um das Schreiben und um Fragen der Ästhetik; so
reflektierte er "auch wiederholt über das sich täglich neu zu erarbeitende Sprachbewusstsein und die Bemühung um eine umfassende Aufmerksamkeit" (Pektor).
Zeitgleich mit Handke befand sich anlässlich des Parteitages der Arbeitspartei im Februar 1977 auch Bruno Kreisky in Israel, (vgl. Mussi 2016, S. 10). Ingo Mussi veranstaltete für ihn ein Essen
in der Residenz, zu dem auch Handke eingeladen war (vgl. Mussi 2016, S. 10, 24) – jedoch findet man auch hierauf im Notizbuch keine Hinweise.
Lektüren
Notizen in NB 010 dokumentieren Handkes Fortsetzung seiner bereits in früheren Notizbüchern belegten Lektüre von Heimito von Doderers Roman Die Wasserfälle von Slunj. Neben zwei Zitaten aus dem
Text (ES. 10, 12f.) notierte er auch eine Bemerkung über Doderer, die sich auf eine Stelle des Romans bezieht: "Zeichen eines großen Schriftstellers (Doderer): man nimmt von ihm auch praktische
Ratschläge für den Alltag an (wie man mit einem ins Wasser gefallenen Kind umgeht)" (ES. 12). Ein weiteres Lektürezitat, stammt aus den Tagebüchern von Robert Musil (ES. 7), in dem Handke einen
Konnex zur eigenen täglichen "Anstrengung des Sich-Durchdringens" (ebd.) gesehen haben dürfte: "Es erscheint mir nicht ausgeschlossen, daß ein vollkommen adäquates Register der Gedanken eines ganzen
Lebens, scheinbar einheitslos wie es ist, von erschütternder Kunstwirkung wäre. Aber es ist eine physische Unmöglichkeit, es ist eben etwas, das man nie wirklich versuchen kann. Doch kann man an solche
Möglichkeiten denken und Wirkungen suchen, die sich ihnen, so gut es uns gegeben ist, annähern" (R. Musil, Tagebücher).
Schreibprojekte
Das Notizbuch ist keinem Schreibprojekt zugeordnet und enthält auch keine projektorientierten Notizen. Lediglich eine Notiz auf ES. 4 über den "vollkommene[n] Schauspieler" erinnert, so Katharina
Pektor, "an Handkes Theorie des Wahrspielens oder Wahrspielers, auf die er Jahre später im Theaterstück Das Spiel vom Fragen von 1989 (DSF 24ff.) zurückgekommen ist: 'Ein vollkommener Mensch müßte
auch ein vollkommener Schauspieler sein, der Schauspieler der Wahrheit (andere Bedeutung des Wortes: 'ein guter Schauspieler'[)]" (Pektor). Einzelne Notizbucheinträge wurden von ihm in sein erstes
Journal Das Gewicht der Welt (1977) übernommen.
Kurze Zeit nach seiner Rückkehr aus Israel starteten die Dreharbeiten zu Die linkshändige Frau in Handkes Haus in Clamart. Auf dem hinteren Vorsatz notierte Handke Kontaktdaten des Filmteams (ES. 24),
darunter eine Telefonnummer, die wahrscheinlich Margrit Schriber zuzurechnen ist, deren Erstlingsroman Aussicht gerahmt 1976 erschien. Schriber hatte ihrem Debüt ein Zitat aus Handkes Erzählung
Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) als Motto vorangestellt: "Auch du kommst mir vor, als ob du die Umwelt nur an dir vorbeitanzen läßt. Du läßt dir Erfahrungen vorführen, statt dich
hineinzuverwickeln. Du verhältst dich, als ob die Welt eine Bescherung sei, eigens für dich." (DBA, S. 97) In einem Interview mit der Luzerner Zeitung, das sie 2019 anlässlich ihres 80. Geburtstages
führte, erzählte sie, dass sich Handke nach dem Erscheinen von Aussicht gerahmt bei ihr gemeldet habe, um ihr die Hauptrolle in seinem Film anzubieten: "Handke war damals gerade daran,
'Die linkshändige Frau' zu schreiben. Später gab es einen gleichnamigen Film dazu. Handke war sehr überrascht von meinem Buch, weil er darin die gleiche Thematik erkannte. Er trug mir die Filmrolle an,
weil er meinte, wenn ich ich selbst sei, treffe ich die Rolle perfekt. Ich war für ihn die linkshändige Frau." (Bossart / Schriber 2019).
Zeichnungen
Im Notizbuch sind nur wenige Zeichnungen enthalten. Neben Comictierköpfen (Z01/NB 010, ES. 4), von seiner Tochter gemalt oder für sie,
findet man zwei nicht näher identifizierbare Zeichnungen, bei denen ebenfalls unklar ist, von wem sie stammen. Eine ganzseitige Zeichnung,
die ein Flugzeugunglück vor einer Stadtmauer darstellt, kann jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit Handke zugeschrieben werden (Z03/NB 010, ES. 51).
(Anna Estermann und Johanna Eigner)
Literaturverzeichnis
Bossart, Pirmin / Schriber, Margrit: Schriftstellerin Margrit Schriber: "Aber ich lebe, das ist grandios". In: https://www.luzernerzeitung.ch/leben/aber-ich-lebe-das-ist-grandios-ld.1124011. [Online abgerufen: 23.05.2024]
Handke, Peter / Lenz, Hermann: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay von Peter Hamm. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2006.
Levy, Shimon: Von Schnitzler bis Turrini. Meilensteine auf dem Weg des österreichischen Theaters in Israel. In: Fraimann-Morris, Sarah (Hg.): Jüdische Aspekte Jung-Wiens im Kulturtext des 'Fin de Siècle'. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2005 (= Conditio Judaica, Band 52), S.123-132.
Mussi, Ingo: Israel und der Nahostkonflikt 1976-1981. Berichte des österreichischen Botschafters Dr. Ingo Mussi. Hg. von Rudolf Agstner und Rolf Steininger. Innsbruck: Innsbruck university press 2016 (= Monographs).
Pektor, Katharina: Ohne Titel. Notizbuch, 90 Seiten [davon 22 beschrieben], 17.12.1976 bis 28.02.1977. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/305. Online abgerufen: 23.05.2024.
Schriber, Margrit: Aussicht gerahmt. Frauenfeld: Huber 1976.
Taufar, Barbara: Die Rose von Jericho. Autobiographie. Wien: Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei 1994 (= Edition S).
gemeint, auf deren Einladung hin Handke die israelische Premiere seines Stücks Kaspar Kaspar
(1968) in Israel Israel
besuchte. Taufar schreibt in ihrer Autobiographie Die Rose von Jericho von ihren Erlebnissen mit Handke unter anderem: "Nachdem jedes freundliche Wort an ihn [Handke, Anm. d. Ed.] unbeantwortet geblieben war, widmete ich meine ganze Aufmerksamkeit seinem Kind. 'Sie reden mit dem Kind wie mit Ihrer Katze!' fauchte er plötzlich." (Taufar: Die Rose von Jericho. 1994, S. 175f. LV) Taufar fand diese Notiz in Handkes Journal Das Gewicht der Welt Das Gewicht der Welt
(1977) und bezieht sie ebenfalls auf sich (Vgl. Taufar: Die Rose von Jericho. 1994, S. 177f. LV) .