Notizbücher
Hier finden Sie eine Übersicht aller in der Edition publizierten Notizbücher Peter Handkes. Aktuell sind die ersten elf Notizbücher vollständig ediert und mit allen Funktionen zugänglich.
Hier finden Sie eine Übersicht aller in der Edition publizierten Notizbücher Peter Handkes. Aktuell sind die ersten elf Notizbücher vollständig ediert und mit allen Funktionen zugänglich.
Notizbuch 05.03.1976-15.03.1976 (NB 002) markiert eine Zäsur in Peter Handkes Arbeitsmethode und Werkgeschichte. Während alle davor entstandenen Notizbücher als Materialsammlung für jeweils ein Werk geführt wurden, versucht er hier erstmals, Wahrnehmungen, Gedanken oder Erinnerungen spontan und ohne vorgefasste inhaltliche und formale Ausrichtung aufzuschreiben. Dabei werden seine Notizen mitunter sehr persönlich. Sie erzählen vom Alleinsein, vom Zusammenleben mit seinem Kind und von der sich zunehmend verschlechternden Beziehung zu seiner Frau. Handke betitelt diese Aufzeichnungen "Eine Woche im März" und unterstreicht damit programmatisch die nunmehrige Zweckfreiheit des Notierens. Mit seinen datierten Einträgen ist dieses Notizbuch zudem das erste, das Handke konsequent als Journal führt.
Material
Das dunkelbraune, spiralgebundene Notizbuch der Marke Clairefontaine (Format: 11,8 x 7,4 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Im Beschriftungsfeld am Umschlag hat Peter Handke den Entstehungszeitraum der Aufzeichnungen notiert: "März 1976". Das Notizbuch umfasst 94 karierte Seiten, die Handke, entgegen seiner späteren Gewohnheit, noch nicht paginiert hat.
Aufenthaltsorte
Ein Großteil der Einträge entstand wahrscheinlich in Paris. Am vorderen Vorsatz des Notizbuchs vermerkte Handke als seine Kontaktadresse 77, Boulevard de Montmorency im 16. Arrondissement, Paris Auteuil, wo er von Dezember 1973 bis Juni 1976 mit seiner Tochter Amina und zeitweise auch mit seiner Frau Libgart Schwarz wohnte (vgl. Kepplinger-Prinz). Sonst werden in den Aufzeichnungen kaum Orte erwähnt, einmal Nanterre (ES. 36) und der nahe der Wohnung gelegene Vergnügungspark Jardin d’Acclimatation (ES. 72) sowie eine französische Landwirtschaftsmesse (ES. 90), die er besucht hat. Andere Ortsangaben sind vermutlich an Erinnerungen geknüpft, z.B. an Klagenfurt (ES. 9), Kronberg im Taunus (ES. 24), die Hamburger U-Bahn (ES. 49), Chartres (ES. 57), den Wallersberg in der Nähe seines Geburtsorts Griffen (ES. 87) oder Zell am See (ES. 94).
Themen
NB 002 markiert den Beginn einer neuen Schreibphase Peter Handkes, die in ihrer werkgeschichtlichen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Seine Aufzeichnungen sind von nun an nicht mehr bloß auf konkrete Schreibvorhaben ausgerichtet, sondern dienen einem "täglichen, zweckfreien Mitschreiben[] von Bewusstseinseindrücken" (Pektor a). Das möglichst unvermittelte Aufschreiben von Wahrnehmungen erhob Handke zur eigenständigen Schreibmethode. Im Vorwort zu seinem Journalband Das Gewicht der Welt, in dem 1977 auch die meisten der in Notizbuch NB 002 enthaltenen Aufzeichnungen veröffentlicht wurden, heißt es, je länger und intensiver er die "spontane Aufzeichnung zweckfreier Wahrnehmungen" betrieben habe, desto stärker habe er ein "Erlebnis der Befreiung von gegebenen literarischen Formen" gehabt und zugleich das Erlebnis der Freiheit in einer ihm "bis dahin unbekannten literarischen Möglichkeit" (DGW, S. 5). Der Unmittelbarkeit des Notierens kommt dabei ein wichtiger Stellenwert zu: "Ich übte mich nun darin, auf alles, was mir zustieß, sofort mit Sprache zu reagieren, und merkte, wie im Moment des Erlebnisses gerade diesen Zeitsprung lang auch die Sprache sich belebte und mitteilbar wurde […]. Einen Zeitsprung lang wurde der Wortschatz, welcher mich Tag und Nacht durchquerte, gegenständlich. Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem ‚Augenblick der Sprache‘ von jeder Privatheit befreit und allgemein." (DGW, S. 6) Solche "Augenblicke der Sprache", in denen zweckfreie Wahrnehmungen, Gedanken oder Erinnerungen im Moment des Sprachlichwerdens festgehalten werden sollen (vgl. Pektor b, S. 303ff.), erlebt Handke vor allem unterwegs. Die Notizen entstehen nicht im Rahmen von festgelegten schriftstellerischen 'Arbeitszeiten', das Notieren wird vielmehr zum fixen Bestandteil seines Alltags, wie Handke im bereits zitierten Vorwort zu Das Gewicht der Welt berichtet: "Die notwendige Fast-Gleichzeitigkeit der Reflexe und ihrer Aufzeichnung brachte es mit sich, daß sie in allen Lebenslagen gemacht wurden, nur nicht am Schreibtisch; bis in den Schlaf hinein zwang ich mich, sofort zu reagieren; zum Zustandekommen mancher Aufzeichnungen könnte man Geschichten erzählen, wie man sie erzählen hört zu Bildern, die jemand von einer Expedition mitbringt, nur vielleicht komischer." (DGW, S. 6f.)
In den Notizen hält Handke momentane Wahrnehmungen und Erfahrungen fest, er setzt sich aber auch intensiv mit der eigenen Vergangenheit auseinander, mit seinen Prägungen und Erinnerungen. Die Themen Herkunft und Familie werden ihn auch in den nachfolgenden Notizbüchern beschäftigen: Erinnerungen an Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit oder der frühesten Kindheit kommen ihm nicht nur unwillkürlich in den Sinn, Handke wird sich auch aktiv darin üben, seine Erinnerungsfähigkeit zu verbessern – im vorliegenden Notizbuch ist einmal die Rede von seinen "Erinnerungsruinen" (ES. 87): "Ich versuche, mich an die Einzelheiten von Orten zu erinnern, und es kommen nur Ruinen zustande" (ebd.).
In einem der frühesten Einträge dieses Notizbuchs vom 5. März 1976 unterstreicht Handke die sinnliche Dimension seiner Erinnerungen und bringt den ästhetischen Begriff der Gestalt ins Spiel. Er beschreibt das "Gefühl, als ob fast alles, was ich bis jetzt in der Vergangenheit gesehen + gehört habe, in mir sofort die Gestalt verliert, die ursprüngliche, weder unmittelbar beschreibbar durch Worte noch abbildbar durch Bilder mehr ist und sich in etwas völlig Gestaltloses verpuppt" (ES. 5f.). Das Schreiben solle "eine Erweckung der gestaltlos verpuppten Erlebnisse zu völlig neuen Gestalten" (ES. 6) sein, "die aber doch durch mein Gefühl immer noch eine Verbindung mit den ursprünglichen Erlebnissen behielten – zu diesen authentischen, tatsächlichen, bedeutungslosen DINGEN also die mythologischen BILDER meines Bewußtseins und meiner Existenz wären" (ES. 8). Die "Zukunftsarbeit", so Handke, bestünde darin, seine inneren "Zwischendinger[] zwischen Sachen und Bildern […] durchs Schreiben vorstellungs- und sprachfest zu machen + zu etwas still strahlendem Neuen, in dem das Alte aber geahnt ist, wie die Raupe im Schmetterling." (Ebd.).
Lektüren
Mit Ausnahme eines Zitats aus John Cowper Powysʼ Roman Wolf Solent (ES. 44) nennt Handke im vorliegenden Notizbuch keine rezipierten Bücher oder Kunstwerke. Erwähnt wird lediglich eine Fernsehsendung mit Alexander I. Solschenizyn (ES. 66ff.).
Schreibprojekte
Beim Notieren ist Handkes Fokus nicht mehr auf bestimmte, aktuell in Arbeit befindliche Werke gerichtet, er schreibt vielmehr auf, was ihm gerade in den Sinn oder in den Blick gerät. Diese Öffnung der Schreibmethode aufs Unbestimmte hin verwandelt die Notizbücher in Speichermedien für Erzählmaterial. Manche der hier festgehaltenen Erinnerungen tauchen Jahre später in literarischen Werken von Handke auf, ohne dass sie im Notizbuch selbst bereits konkrete Werkzusammenhänge erkennen ließen. Handke erwähnt etwa das "Warten in der Nacht nach der Aufnahmeprüfung im Internat, an einer Obus-Haltestelle in St. Peter bei Klagenfurt, im Regen, die Zusammengehörigkeit plötzlich mit der Mutter, und wie wir hinten im Auto mitgenommen wurden von jemanden, und das Auto hatte keine Rücksitze, sodaß wir auf dem Autoboden saßen" (ES. 9). Diese erinnerte Begebenheit kommt als Szene in der 1986 erschienenen Erzählung Die Wiederholung vor (DW 30f.). Die Notiz: "Meine Schwester will ein Geschäft aufmachen und will Geld dafür [...]" (ES. 3) –, fließt in die Figurenkonzeption von Sophie, der Schwester von Gregor im dramatischen Gedicht Über die Dörfer (1981) ein (ÜD 11, 56f., vgl. Pektor a).
Obwohl Handke im März 1976 das Typoskript seiner Erzählung Die linkshändige Frau (1976) überarbeitete (vgl. Pektor c), enthält das Notizbuch nur einen dem Werk explizit zugeordneten Eintrag: "'für die Unbekannte, die mir in einer Gasse entgegenkam und seitdem immer + nirgends' (Die linkshändige Frau)" (ES. 18f.). In der publizierten Fassung der Erzählung ist diese Widmung nicht enthalten, viele Aufzeichnungen und Reflexionen in NB 002 spiegeln aber Themen der Linkshändigen Frau wider, etwa die Frage nach der Vereinbarkeit von Schreiben und Familie (vgl. dazu auch Pektor c).
Die meisten Einträge dieses Notizbuchs wurden von Handke in bearbeiteter Form in sein erstes Journal Das Gewicht der Welt (1977) übernommen, darunter ist auch jene Notiz, die vermutlich "den Titel des Journals mitbestimmt hat" (Pektor a): "Was es noch vor 10 Jahren (66) für Einschüchterungen gab: 'Die konkrete Poesie', 'Andy Warhol', und dann Marx & Freud – und jetzt sind all diese leeren Frechheiten verflogen, und nichts soll irgendeinen mehr erschüttern als das Gewicht der Welt" (ES. 16).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält viele Zeichnungen und Kritzeleien, die sich motivisch und stilistisch von Zeichnungen aus Handkes Hand unterscheiden; sie dürften entweder im Spiel mit seiner damals sechsjährigen Tochter Amina entstanden sein, oder überhaupt von ihr stammen. Nur eine Zeichnung kann eindeutig Peter Handke zugeschrieben werden (Z09/NB 002, ES. 94).
Literaturverzeichnis
DGW = Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977). Salzburg: Residenz 1977.
DW = Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986.
ÜD = Handke, Peter: Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973-1976). In: Handkeonline, https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 12.01.2023.
Pektor a = Pektor, Katharina: Eine Woche im März. Notizbuch, 92 Seiten, 05.03.1976 bis 15.03.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/269. Online abgerufen: 13.02.2023.
Pektor b = Pektor, Katharina: "Wartet nur – ich bin jemand, der sich organisiert!" Peter Handkes Projekt des Notierens. In: Atze, Marcel / Kaukoreit, Volker (Hg.): "Gedanken reisen, Einfälle kommen an". Die Welt der Notiz. (= Sichtungen, 16./17. Jg.) Wien: praesens 2017, S. 300-323.
Pektor c = Pektor, Katharina: Entstehungskontext [DF]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1389. Online abgerufen: 13.2.2023.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554377 ]
Material: Notizbuch (Marke Clairefontaine), kariert, Spiralbindung
Format: 11,8 x 7,4 cm
Umschlag: Dunkelbrauner Kartonumschlag (Leinenoptik), Vorderseite: Markenlogo und eh. Datum in weißem Beschriftungsfeld (Kugelschreiber: blau), Rückseite: Markenlogo
Umfang: 94 Seiten; 101 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 94 unpag. Seiten, I*
Verwendete Schreibstoffe: Fineliner (schwarz, blau, rot, pink), Kugelschreiber (blau, rot), Bleistift, Filzstift (blau, grün), Füllfeder (schwarz)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Beschriftung im Seitenschnitt »PETER HANDKE« (Fineliner: schwarz)
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/269
Anzahl der erfassten Entitäten: 42
Im Aufzeichnungszeitraum von Notizbuch 15.03.1976-16.04.1976 (NB 003) hielt sich Peter Handke in Paris auf, wo er mit seiner Tochter Amina als alleinerziehender Vater lebte. Am 26. März wurde er mit Herzrhythmusstörungen, Brustschmerzen und Angstzuständen in ein Pariser Krankenhaus eingeliefert und blieb dort bis 1. April stationär in Behandlung. Ungefähr die Hälfte der Notizen entstand während dieses Aufenthalts. Die Erfahrungen von Krankheit und Todesangst bilden einen thematischen Schwerpunkt. NB 003 ist das erste einer Reihe von Notizbüchern, die Handke dem Schreibprojekt Ins tiefe Österreich zugeordnet hat. Das Arbeitsvorhaben stellt zu diesem Zeitpunkt eine vage Werkphantasie ohne scharfe Konturen dar. Im Lauf der Jahre werden mehrere Werke daraus hervorgehen, u.a. die Tetralogie Langsame Heimkehr (1979-1981). Keine der hier vorliegenden Eintragungen lässt sich indessen explizit einem dieser später entstandenen Werke zuordnen, Handke setzte schlicht die im vorangehenden Notizbuch (NB 002) neu etablierte Praxis des Notierens zweckfreier Wahrnehmungen fort.
Material
Das braune, spiralgebundene Notizbuch der Marke Clairefontaine (Format 14 x 8,7 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Im Beschriftungsfeld des Umschlags ist der Aufzeichnungszeitraum der Notizen vermerkt. Die 168 karierten Seiten des Notizbuchs wurden von Handke in den linken bzw. rechten oberen Ecken paginiert, wobei er die Zahlen 126 und 127 versehentlich doppelt vergeben hat; zwei Blätter fehlen. Das Blatt mit der Paginierung 135 und 136 (ursprünglich zwischen ES. 138 und 139) klebte Handke auf das Deckblatt seines Typoskripts von Das Gewicht der Welt. Es wird in der Sammlung Maximilian Droschl am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt (Signatur ÖLA 165/W1). Der Verbleib des zweiten fehlenden Blattes mit der Paginierung 167 und 168 (zwischen ES. 168 und 169) ist unklar.
Handke verwendet die Innenseite des hinteren Umschlags (hinteres Vorsatz) für Notizen und funktioniert stattdessen die letzte Notizbuchseite zum 'Vorsatz' um, wo er Adressen, eine Bankverbindung u.a. vermerkt. Die Innenseite des vorderen Umschlags (vorderes Vorsatz) enthält verschiedene Notizen: zwei Kontaktadressen – Handkes damalige Wohnadresse am Boulevard de Montmorency im Quartier Auteuil im 16. Arrondissement sowie die Adresse der österreichischen Botschaft in Paris. Darunter schrieb Handke zwei Versionen des Schreibprojekt-Titels, dem er die Notizen zuordnete: "Ins tiefe Österreich" und "Im tiefen Österreich". Es ist unklar, was der Vermerk "Notizen 2" bedeutet. Er könnte sich auf die Reihe der journalartig (und nicht länger projektbezogen) geführten Notizbücher beziehen, die Handke mit dem Vorgängernotizbuch (NB 002) etabliert hatte; ein Pendant mit dem Vermerk "Notizen 1" befindet sich jedenfalls "in keinem der öffentlichen Archive." (Pektor b)
Aufenthaltsorte
"Ins tiefe Österreich" begibt sich Handke zwischen Mitte März und Mitte April 1976 höchstens im übertragenen Sinn – in Gedanken und Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend –, hält er sich doch im Aufzeichnungszeitraum durchgehend in Paris auf. Die wenigen explizit genannten Straßen und Plätze befinden sich im 8. und im 16. Arrondissement sowie in den Vororten Villeneuve-St.-Georges und Neuilly-sur-Seine, wo Hildegard und Walter Greinert lebten, mit denen der Autor befreundet war.
Von 26. März bis 1. April wurde Handke in einem Krankenhaus in Paris "wegen starker Herzrhythmusstörungen und Brustschmerzen, die von Angstzuständen begleitet waren, [...] stationär behandelt" (Pektor b). Rund ein Drittel der Aufzeichnungen (ES. 47-110) entstand in dieser Woche. Handkes Tochter Amina wohnte währenddessen bei den Greinerts in Neuilly, und auch Handke selbst übernachtete die erste Zeit nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus dort (vgl. Pektor b sowie Handke / Unseld 2012, S. 300).
Themen
Unmittelbar bevor Handke ins Krankenhaus eingeliefert wird, schreibt er an vielen Stellen über seine "Todesangst" und "Todesfurcht" (ES. 37, 40, 41, 42, 45, 52) und bringt schließlich sein körperliches Leiden mit der eigenen Sozialisationsgeschichte in Verbindung: "Das Gefühl, die Vergangenheit völlig vergessen zu müssen, um mich nicht mehr unter einem Brustschmerz zu winden: ich muß mein Gedächtnis verlieren!" (ES. 64). Handke korreliert die Herkunftsthematik mit der eigenen Autorschaft und deutet einen 'klassenspezifischen' Aspekt an: "gegen Proust + Benjamin und das behütete bürgerl. Bewußtsein mit seiner Erinnerungslust mein Kampf gegen das Gedächtnis, das mich quält und martert aus meiner Kindheit her bis jetzt: mein Gedächtnis bedroht mich mit dem Tode" (ES. 85). Die Themen Gedächtnis und Erinnerung werden von Handke "noch in den Notizen in seinen Schreib- oder Arbeitsauftrag als Schriftsteller übersetzt" (Pektor b): "DU MUSST DEIN GEDÄCHTNIS VERLIEREN! DU MUSST DEIN GEDÄCHTNIS VERLIEREN! (und ein Gedächtnis für die andern werden)" (ES. 74). Seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen steht Handke ambivalent gegenüber; wenngleich melancholisch gefärbt, so enthält vor allem der letzte Teil des Notizbuchs durchaus auch positive Erinnerungsfragmente (z.B. ES. 99, 129, 148 u.a.). Auf Editionsseite 146 notiert Handke: "'recollection' – was für ein schönes Wort für 'Erinnerung'!".
Mehrere Einträge am Beginn des Notizbuchs beschäftigen sich mit der Psychoanalyse (ES. 5, 7, 13; vgl. auch das nachfolgende Notizbuch (NB 004), ES. 64 und 70f.). In einer Notiz auf Editionsseite 8 setzt Handke die Psychoanalyse mit der Kirche ins Verhältnis und scheint letzterer als 'unpersönlicher' Trostspenderin den Vorzug zu geben: "Als ob die Kirche den zugleich oberflächlichsten + tiefsten Trost bereit hielte: du trittst ein und bist aufgehoben unter all den andern, und niemand maßt sich an, dich persönlich anzureden, Dir persönlich zuzuhören (wie in der Psychoanalyse)".
Handke lebte als alleinerziehender Vater in einer Wohnung am Boulevard de Montmorency – bei Erwähnungen seiner Tochter Amina verwendet er meist das Kürzel "A.". Mit dieser lebensgeschichtlichen Erfahrung können "die vielen Einträge über Frauen, über Begehren, Lust, Liebe, Alleinsein und Einsamkeit" in Verbindung gebracht werden, die einen thematischen Schwerpunkt der Notizen bilden (Pektor b). Handke interessiert sich für die gelebte Praxis in Paarbeziehungen, etwa für jene von Hildegard und Walter Greinert, für die er in der Regel die Abkürzungen "Herr G." bzw. "Frau G." verwendet.
Lektüren
Im Aufzeichnungszeitraum las Handke mehrere Ego-Dokumente, etwa die Tagebücher von Katherine Mansfield und Franz Kafka sowie Kafkas Briefe an Milena. Seine Rezeption der gelesenen Werke spiegelt die individuellen Suchbewegungen wider, die in den Notizbüchern jener Zeit dokumentiert sind. Bezüge zur eigenen Lebensrealität stellt er nicht nur zu den Tagebüchern und Briefen her, sondern auch zu Romanen von John Cowper Powys (Wolf Solent) – er habe dieses Buch, wie es in einem Eintrag heißt, "so gelesen, als könnte es mir für mein weiteres Leben etwas beibringen" (ES. 14). Die Literatur vermag Orientierung nicht nur in Fragen der 'Lebenspraxis' zu geben, sondern auch im Hinblick auf die eigene Schreibprogrammatik, wie ein Eintrag zu Hermann Hesse nahelegt: "Schreibend meiner Jugend die Würde geben, die ihr im Leben verweigert wurde (Beim Lesen von 'Unterm Rad')" (ES. 48). Während Handke aus den erwähnten Werken nur vereinzelt Zitate abschreibt, finden sich in NB 003 rund vierzig direkt und indirekt zitierte Stellen aus Goethes Wahlverwandtschaften, darunter auch das Motto für seine Erzählung Die linkshändige Frau (ES. 109), die Ende August 1976 erschien. So explizit Handke eigene 'Wahlverwandtschaften' in poetologischen Belangen ausstellt, so unverblümt äußert er auch seine diesbezüglichen Aversionen. Dezidierte Absagen erteilt er dem Surrealismus, dem Dadaismus und der Konkreten Poesie (ES. 37). In Bertolt Brecht sieht er den "Verräter des Lebens" (ES. 23), der eine "Zerstörung der freien Literatur" betrieben habe, wie es in einer Notiz heißt, "weil er keine Verantwortung übernahm für sich und die anderen" (ES. 135).
Schreibprojekte
Zwar wird das Notizbuch durch die Titelnennung am Vorsatzblatt dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet, dieses entwickelt jedoch "in den Notizen noch keine deutlichen Konturen. Für den Leser des Notizbuchs lässt sich noch kein Schreibplan erkennen." (Pektor b). Bei der Mehrzahl der Einträge handelt es sich um "spontane Aufzeichnungen von Bewusstseinseindrücken" (ebd.) und alltäglichen Beobachtungen. Handke führte damit eine Praxis des Notierens weiter, die er im Vorgängernotizbuch (NB 002) zu etablieren begonnen hatte (vgl. Pektor c). Die gezielte Aufzeichnung von projektbezogenen Einfällen wird durch das zweckfreie Aufzeichnen von Wahrnehmungen ersetzt. Viele der Eintragungen des vorliegenden Notizbuchs wurden 1977 (zum Teil redigiert) im Journalband Das Gewicht der Welt publiziert. Aus einem Brief an Siegfried Unseld (Handke / Unseld 2012, S. 300) geht hervor, dass Handke während seines Krankenhausaufenthalts die dritte Textfassung seiner Erzählung Die linkshändige Frau korrigiert haben dürfte (vgl. Pektor b); im Notizbuch finden sich dazu vereinzelt Aufzeichnungen (ES. 124, 135, 169, 171).
Zeichnungen
Das Notizbuch beinhaltet nur eine geringe Anzahl kleinerer Zeichnungen, darunter eine Skizze des sogenannten "Dreiecks", einem Wiesenfleck in Handkes Heimatdorf, der in seiner Kindheit als Treffpunkt diente (Z02/NB 003, ES. 106).
Literaturverzeichnis
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger = Kepplinger, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973–1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 13.03.2023.
Pektor b = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 170 Seiten, 15.04.1976 bis 16.04.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/272. Online abgerufen: 12.03.2023.
Pektor c = Pektor, Katharina: Eine Woche im März. Notizbuch, 92 Seiten, 05.03.1976 bis 15.03.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/269. Online abgerufen: 13.03.2023.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554384 ]
Material: Notizbuch (Marke Clairefontaine), kariert, Spiralbindung
Format: 14 x 8,7 cm
Umschlag: Dunkelbrauner Kartonumschlag (Leinenoptik), Vorderseite: Markenlogo und eh. Datum in weißem Beschriftungsfeld (Kugelschreiber: blau), Rückseite: Markenlogo
Umfang: 168 Seiten; 174 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-127, 126-127, 126-127 (doppelt gezählt), 128-134, (135-136 fehlt), 137-166, (167-168 fehlt), 169-170, I*
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (blau, rot, schwarz), Fineliner (rot, schwarz, blau, grün, grau-grün), Buntstift (rot, orange, blau), Bleistift, Füllfeder (schwarz)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Ein Blatt aus dem vorliegenden Notizbuch mit der eh. Paginierung 135 und 136 (zwischen ES. 138 und 139) wurde von Peter Handke entfernt und auf das Deckblatt des Typoskripts von Das Gewicht der Welt geklebt, das heute im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt wird (Sammlung Maximilian Droschl, Signatur ÖLA 165/W1, Bl. I, recte/verso). Die Seite mit der Paginierung 135, auf der Notizen in roter Schrift und eine Zeichnung von Haltegriffen in einem Zugabteil zu sehen sind, ist auf dem Cover des Journalbands Das Gewicht der Welt zu sehen, der 1977 im Residenz Verlag erschien. Auch das Blatt mit den Paginierungen 167 und 168 fehlt (zwischen ES. 168 und 169); sein Verbleib ist unklar.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material: keines vorhanden
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/272
Anzahl der erfassten Entitäten: 193
Die Aufzeichnungen in Notizbuch 16.04.1976-08.05.1976 (NB 004) dürften vor allem in Paris entstanden sein. Bis auf eine Reise Ende April zur Jurybesprechung des Petrarca-Preises ans Cap d’Antibes gibt es kaum Belege für andere Aufenthaltsorte; vage Anhaltspunkte deuten auf einen kurzen Aufenthalt Handkes zu Ostern in Deutschland hin. Die Einträge dieses Notizbuchs kreisen um Handkes Alltag als Alleinerzieher und um sein Verhältnis zur eigenen Herkunft. Er liest u.a. Friedrich Hebbels Tagebücher und Hermann Hesses Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert und stellt die 'lebenspraktische' und versöhnende Wirkung von Literatur und Poesie heraus. Im Aufzeichnungszeitraum nimmt Handke letzte Überarbeitungen an der Erzählung Die linkshändige Frau (1976) vor, das Notizbuch enthält Überlegungen dazu. Außerdem konkretisiert sich seine Idee, Auszüge aus den Notizbüchern zu veröffentlichen.
Material
Das 13,9 x 8,9 cm große Notizbuch befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Es handelt sich um ein spiralgebundenes, kariertes Notizbuch, das 96 paginierte Seiten umfasst, wobei 3 Seiten unbeschrieben sind (ES. 94, 95, 97). Auf dem Cover klebt ein Datumszettel mit dem Vermerk der Entstehungszeit "April – Mai 1976". Auf dem hinteren Vorsatz kommentiert Handke in einer später entstandenen Notiz mit der Datumsangabe "30.1.1977" seine Relektüre früherer Notizen: "Indem ich das Aufgeschriebene (vor langer Zeit) wiederlese, erledigt es meine jetzigen Stimmungen und gibt mir die Phantasie der Dauer, ein durch die Vernunft der Sprache bewirktes Humanitätsgefühl 30.1.77." (ES. 93).
Aufenthaltsorte
Handke hielt sich im Aufzeichnungszeitraum wohl hauptsächlich in Paris auf, verbrachte lediglich das Wochenende um den 23. April am Cap d’Antibes in Südfrankreich (ES. 38), vermutlich im Ferienhaus von Hubert Burda, bei dem zu dieser Zeit die Jurybesprechung des von ihm gestifteten Petrarca-Preises stattgefunden haben dürfte. Neben Handke waren Michael Krüger, Bazon Brock und Nicolas Born Mitglieder der Jury (vgl. Pektor).
Unter dem letzten eingetragenen Datum (8. Mai 1976) vermerkte Handke, er befinde sich auf dem Weg zum Flughafen (ES. 93). Die Reise nach Los Angeles und New York, die er gemeinsam mit seiner Tochter Amina antrat, ist im nachfolgenden Notizbuch (NB 005) dokumentiert. Nicht erwähnt wird hingegen eine Reise nach München, die in den Aufzeichnungszeitraum des vorliegenden Notizbuchs gefallen sein könnte. Das lässt jedenfalls ein Brief Handkes an Hermann Lenz vom 23. Mai 1976 vermuten: "Lieber Hermann, vor einem Monat oder so war ich bei Euch, [...]" (Handke / Lenz 2006, S. 100). Konkrete Hinweise auf einen solchen Aufenthalt enthält das Notizbuch nicht, möglicherweise reiste Handke aber in der Osterzeit nach München, darauf deuten Einträge hin, in denen von einem "Osterspaziergang" (ES. 7) die Rede ist: "Dieses freudlose, brutale Lachen kann man sich nur in Deutschland vorstellen […] [u]nd völlig ratlos und verloren sitzen die alten Leute vor den Bierkrügeln, übers Kreuz schauend, am Bier nippend, 'das einmal gut war'"; "[d]ie Kellnerin stellt sich zu den Gästen, als sollte sie mit auf ein Foto kommen"; "Leute auf der Terrasse sitzen zu sehen unter der Markise und keinen andern Gedanken mehr haben können als: 'Verdammt!'" (Ebd.).
Themen
Spätestens seit seinem Krankenhausaufenthalt Ende März 1976 (siehe NB 003, ES. 47-110) drängen sich Handke teils traumatische Kindheits- und Jugenderinnerungen auf, so auch im vorliegenden Notizbuch, in dem er sich weiterhin mit Prägungen durch sein soziales Herkunftsmilieu auseinandersetzt und seinen Umgang mit der eigenen Geschichte reflektiert. Fremdzuschreibungen sollen von vornherein abgewehrt werden: "Das Erlebnis von Geschichte: sich davon zu befreien, sich davon befreit zu haben: (: Fetischisierung von Geschichte) 24.4.76." (ES. 38f.). Gefühle von Scham und Verachtung seiner Vergangenheit gegenüber reflektiert Handke kritisch: "Indem du immerzu deine Vergangenheit verrätst und verachtest; verrätst du auch die jetzigen andern, die immer noch deine verachtete Vergangenheit erleben, leben, leben müssen" (ES. 36); teilweise geschieht diese Reflexion im Vergleich mit anderen, deren sozialer Hintergrund sich von seinem eigenen unterscheidet: "Als ob Hesse die Welt doch nicht als ganze aushalte und vorzeitig in die Formen einlenke" (ES. 30f.), "'... und ich schloß Freundschaft mit meiner Vergangenheit' (Hesse): und meine Feindseligkeit, meine Scham gegen meine Verga❬ngenheit❭" (ES. 31).
Zwei Einträge von Anfang Mai geben Gespräche mit einem Analytiker wieder (vgl. ES. 64 und 70f.) – bereits das vorangehende Notizbuch (NB 003) dokumentiert Handkes Beschäftigung mit der Psychoanalyse. Während ihm die Psychoanalyse suspekt ist, betont er die 'heilende' Wirkung der Poesie: "In der Poesie wirken Erinnerung, Sehnsucht, Denken, Fühlen, Körper, Seele, Einzelmensch und Gesellschaft zu EINEM großen Gefühl zusammen, in dem man sich endlich gesund fühlt, geheilt (Aber diese Heilung braucht man täglich neu)" (ES. 31). In der Literatur scheinen zudem Möglichkeiten einer anderen Existenzweise auf: "Als müßte man für sich die vorsichtig schönen Lebensformen der alten Literatur wiederfinden, fürs Leben" (ES. 67).
Viele Einträge handeln teils ironisch gefärbt von Handkes Alltag mit seiner Tochter und seinem Leben als alleinerziehender Vater: "Die Vorstellung, nicht ich mache gerade jetzt diese verfluchte Küchenarbeit, sondern ein andrer, und zwar ein Bewunderter, Schwereloser, Berühmter (also z.B. Jack Nicholson oder Kennedy), läßt mich diese Arbeit ohne Mühe ertragen ..." (ES. 32). Zu Aminas siebtem Geburtstag dürfte Handke ein Fest ausgerichtet haben: "Kinderfest: Ich bin stolz, daß ich jetzt doch ohne Hilfe ausgekommen bin" (ES. 27, vgl. dazu auch ES. 19 und 22). Möglicherweise war Aminas Geburtstag der Grund für einen Besuch von Libgart Schwarz, die zu dieser Zeit bereits getrennt von Handke lebte; sie dürfte einige Zeit mit ihm und Amina in der ehemals gemeinsamen Wohnung am Boulevard de Montmorency gewohnt haben, jedenfalls lassen mehrere Notizen, in denen von "L." die Rede ist, diesen Schluss zu (z.B. ES. 75, 84, 85).
In diesem Apartment fühlte sich Handke zunehmend unwohl, wie er in einem Eintrag vom 20. April (rund zwei Monate vor dem endgültigen Auszug) festhält: "[V]ielleicht läßt auch diese weitverzweigte Wohnung, wo ich A. immer suchen und rufen muß, und wo ich oft schreien muß, um mich mit ihr, die weiter weg irgendwo ist, zu verständigen, mich so mißmutig werden: wir beide vereinzeln zu sehr in dieser großen Wohnung" (ES. 15). Die Entscheidung, aus dieser "düsteren Wohnung" (ES. 58) auszuziehen, hatte Handke bereits rund zwei Monate früher getroffen, wie aus einem Brief vom 3. März an Alfred Kolleritsch hervorgeht (Handke / Kolleritsch 2008, S. 98).
Lektüren
Das Notizbuch enthält zahlreiche Lektürespuren. Zwei Zitate aus Goethes Wahlverwandtschaften (ES. 16f.) stellen letzte Ausläufer einer ausführlichen Lektüre der Erzählung während eines Krankenhausaufenthalts im März 1976 dar, dokumentiert in NB 003. Das vorliegende Notizbuch zeugt zudem von Handkes Beschäftigung mit Hermann Hesses Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert und den Tagebüchern von Friedrich Hebbel. Somit setzte er seine Lektüre von Ego-Dokumenten fort, die er im vorhergehenden Notizbuch begonnen hatte. Ein Zitat aus Hebbels Tagebüchern brachte Handke in Zusammenhang mit seiner Erzählung Die linkshändige Frau, mit deren Überarbeitung er gerade beschäftigt war: "'Augen, die für nichts und wieder nichts glühen' (F.H., Die linkshändige Frau)" (ES. 41). Eine weitere Notiz belegt Handkes Lektüre von Friedrich Dürrenmatts Kriminalroman Das Versprechen: "Von Dürrenmatt 'Das Versprechen' gelesen: das Bedürfnis, einem Schriftsteller zu danken, für den Entwurf eines anderen, nicht den Tatsachen entsprechenden, aber wahreren Lebens" (ES. 12f.). Kurz vor der Jurybesprechung des Petrarca-Preises 1976 las Handke ein Gedicht von Ernst Meister (ES. 33), der in diesem Jahr – gemeinsam mit Sarah Kirsch – den Preis erhielt (vgl. Pektor). Ebenfalls zu dieser Zeit dürfte Handke André Bretons surrealistischen Roman Nadja gelesen haben, aus dem er sich ein Zitat notierte (ES. 29).
Das Gewicht der Welt
Im Aufzeichnungszeitraum des Notizbuchs konkretisierte sich Handkes Idee, eine Auswahl seiner Notizen zu veröffentlichen. Am 30. April 1976 schrieb er an seinen Verleger Siegfried Unseld, er sei gerade dabei, Einträge abzutippen: "Ich bin am Abtippen meiner Notizen aus den letzten 2 Monaten; das werden 200 Seiten werden; ich hätte es gern einmal als Taschenbuch publiziert, Titel: 'Das Gewicht der Welt'; Untertitel: 'Materialien zu nichts Bestimmtem (oder: Besonderem)'" (Handke / Unseld 2012, S. 306f.). Dieser Plan wurde im Herbst 1977 umgesetzt (der erste Journalband erschien unter dem Titel Das Gewicht der Welt im Residenz Verlag), zuvor hatte Handke Teile seiner Notizen in der österreichischen Literaturzeitschrift manuskripte publiziert. Am 3. Mai 1976 schrieb er an seinen Freund Alfred Kolleritsch, den Herausgeber der Zeitschrift: "Jedenfalls habe ich mich heute vormittag hingesetzt und getippt, bis mir der Rücken wehtat. Was ich Dir schicke, habe ich einfach aus meinen Notizen abgeschrieben, die ich seit über zwei Monaten täglich und sozusagen gewissenhaft mache. Ich möchte sie gern einmal als Taschenbuch erscheinen lassen, und es werden am Schluss so zweihundert Seiten sein. Titel: Das Gewicht der Welt. Untertitel: Materialien zu nichts Bestimmtem. Es ist eine Art Notizbuch, aus dem sich jeder seinen eigenen Lebenslauf zusammenstellen kann, durch Vergleichen, Widersprechen, Bestätigen. Für die manuskripte genügte als Überschrift: 8., 9. März 1976, Auszüge aus 'Das Gewicht der Welt; Notizen zu nichts Bestimmtem'." (Handke / Kolleritsch 2008, S. 98f.)
Die von Handke mitgesandten Notizbuchabschriften wurden anschließend unter dem von ihm vorgeschlagenen Titel: Auszüge aus: Das Gewicht der Welt. Notizen zu nichts Bestimmten in der Nummer 52 der manuskripte veröffentlicht (vgl. Kepplinger-Prinz). Eine zweite Tranche von Notizen erschien einige Monate später ebenfalls in dieser Zeitschrift (vgl. ebd.).
Die linkshändige Frau
In die Entstehungszeit des Notizbuchs fallen letzte Überlegungen zur Erzählung Die linkshändige Frau. Eine überarbeitete Kopie der dritten Textfassung hatte Peter Handke bereits an Siegfried Unseld übergeben (vgl. Pektor). Im vorliegenden Notizbuch verzeichnete Handke nun noch einige Überlegungen, Korrekturen und Anmerkungen, die er konkret der linkshändigen Frau zuordnete; für die Überarbeitung des Textes stand er mit seinem Verleger Siegfried Unseld in Kontakt (z.B. ES. 13f. oder ES. 60; vgl. Handke / Unseld 2012, S. 305f.)
Im vorliegenden Notizbuch finden sich auch Ideen zum Umschlagbild der Erzählung. So entdeckt man die Skizzen eines Büffels (ES. 61) und eines Pferdes (ES. 62) – Anlehnungen an die Höhlenzeichnungen aus dem Cro-Magnon. Im Brief vom 30. April 1976, am gleichen Tag, an dem auch die beiden Zeichnungen entstanden, schrieb Handke an Unseld: "Heute morgen hatte ich die genaue Erleuchtung für den Umschlag: das schon genannte Felsengrau, und unter dem Titel etc. eine Reproduktion der Höhlenzeichnungen aus dem Cro-Magnon. Ich habe kein Lexikon davon hier. Es ist ein Büffel, glaube ich. Aber ich gehe heute nachmittag nachschauen. Jedenfalls weiß ich, daß ich den Umriß dieser ersten Zeichnung eines Menschen auf dem felsengrauen Umschlag haben möchte, einen schwarzen Umriß wie eingebrannt." (Handke / Unseld 2012, S. 306).
Zeichnungen
Das Notizbuch beinhaltet 13 Zeichnungen, darunter sowohl kleine, wie z.B. ein Stoppschild (Z06/NB 004, ES. 36), als auch größere, etwa eine Heiliggeisttaube (Z01/NB 004, ES. 12) oder die Zeichnung eines Mannes mit einem Plastiksack über dem Kopf und einem Strick um den Hals (Z04/NB 004, ES. 21). Auf Editionsseite 30 ist die Skizze einer Kommode mit geöffneten Schubladen und darin liegenden Schmetterlingen zu sehen (Z05/NB 004); einige Seiten danach vermerkt Handke in einer Notiz: "Ich will ja auch gar nicht zeichnen können – es ist ja nur die Lust, ein paar besondere Sachen NACHZUZIEHEN" (ES. 42). Die wichtigsten Zeichnungen des Notizbuchs befinden sich auf den Editionsseiten 61 und 62; es handelt sich um die bereits erwähnten Silhouetten eines Büffels (Z07/NB 004) und eines Pferdes (Z08/NB 004), die wahrscheinlich im Zusammenhang mit Handkes Überlegungen für das Umschlagbild seiner Erzählung Die linkshändige Frau (1976) entstanden sind. Für das Cover der Erstausgabe wurde schließlich ein anderes Büffel-Bild ausgewählt, die beiden im Notizbuch enthaltenen Zeichnungen können aber als Vorstufen verstanden werden.
Literaturverzeichnis
Handke, Peter: Auszüge aus: Das Gewicht der Welt. Notizen zu nichts Bestimmtem. In: manuskripte 52 (1976), S. 17-20.
Handke / Kolleritsch 2008 = Handke, Peter / Kolleritsch, Alfred: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2008.
Handke / Lenz 2006 = Handke, Peter / Lenz, Hermann: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay von Peter Hamm. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2006.
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Entstehungskontext [DGW]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1472. Online abgerufen: 09.03.2023.
Pektor, Katharina: Ohne Titel. Notizbuch, 96 Seiten, 16.04.1976 bis 08.05.1976, In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/275. Online abgerufen am 09.03.2023.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554388 ]
Material: Kugelschreiber (schwarz, blau, grün, grau), Filzstift (rot, blau, grau), Fineliner (rot)
Format: 13,9 x 8,9 cm
Umschlag: Rot-weiß-karierter Kartonumschlag, Vorderseite: aufgeklebter eh. Datumszettel (M01/NB 004) (Kugelschreiber: blau) und Seriennummer
Umfang: 96 Seiten; 102 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-96, I*
Verwendete Schreibstoffe: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), kariert, Spiralbindung
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Die Seiten ES. 94, 95 und 97 sind paginiert (92, 93, 95), aber unbeschriftet. Nach Anfertigung der Scans ist der aufgeklebte Datumszettel abgefallen und liegt dem Original nun bei.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/275
Anzahl der erfassten Entitäten: 145
Das erste Drittel der Aufzeichnungen in Notizbuch 08.05.1976-13.06.1976 (NB 005) entstand während einer Reise in die USA, die Peter Handke wahrscheinlich auf Einladung der University of Southern California gemeinsam mit seiner Tochter unternahm. Von 8. bis 16. Mai waren sie in Los Angeles, nach einem kurzen Aufenthalt in New York reisten sie am 19. Mai zurück nach Paris. Viele der in den USA festgehaltenen Eindrücke, etwa von der Besichtigung eines universitären "Erdbebeninstituts", flossen später in die Erzählung Langsame Heimkehr (1979) ein; sie ging aus dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" hervor, dem das Notizbuch zugeordnet ist. Nach seiner Rückkehr aus den USA hielt sich Handke bis Ende Mai in Paris auf und flog für einige Tage nach Cannes, um die dortigen Filmfestspiele zu besuchen. Anfang Juni reiste er über Frankfurt am Main nach Österreich, wo er sich in Salzburg, Tamsweg, Graz und Brunnsee aufhielt.
Material
Das fadengeheftete Notizbuch in brauner Lederoptik (13,5 x 8,2 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Die 125 karierten Seiten sind von 1 bis 121 paginiert, wobei die Zahlen 95 und 109 jeweils drei Mal vergeben wurden (95, 95a, 95b sowie 109, 109a, 109b). Die letzte Seite wurde herausgerissen, die Vorderseite des schmalen Blattfragments versah Handke aber noch mit Notizen (ES. 131), ohne es zu paginieren. Das vordere Vorsatz umfasst wie das hintere jeweils drei Seiten ohne Paginierung. Auf der ersten Vorsatzseite notierte Handke die Namen zweier Hotels – Hotel Ambassador und Hotel Château Marmont (in letzterem wohnte er während seines Aufenthalts in Los Angeles). Darunter vermerkte er seine Pariser Adresse am Boulevard de Montmorency und den Titel "Ins tiefe Österreich" (ES. 2). Auf der zweiten Seite listete er die Aufzeichnungsorte der Notizen mit Angabe der Reisedaten: "U.S. (L.A., New York) 8.5.–19.5.1976 […] (Cannes, Frankfurt, Salzburg, Tamsweg, Graz, Brunnsee)" (ES. 3) und notierte sich die Adresse der Bilingualen Montessori Schule in Paris (ES. 3); die dritte Seite ist leer. Weitere Adressen von französischen Privatschulen auf dem hinteren Vorsatz dokumentieren Handkes Suche nach einer neuen Schule für seine Tochter Amina. Am hinteren Vorsatz findet man neben diversen Lektürezitaten (ES. 133) zudem Namen und Adressen im Zusammenhang mit seinem Aufenthalt in Los Angeles, etwa des Restaurants Ma Maison oder des American Film Institute. Dem Notizbuch beigelegt ist ein eh. beschriebener Datumszettel ("Mai – Juni 1976").
Aufenthaltsorte
Am Ende des Vorgängernotizbuchs (NB 004) ist unter dem Datum des 8. Mai ein Hinweis auf den Aufbruch zum Flughafen vermerkt, "um nach L.A. zu fliegen" (NB 004, ES. 93). Die Aufzeichnungen in NB 005 knüpfen unmittelbar hier an; rund ein Drittel der Einträge entstand während der elftägigen Reise in die USA, auf der Handke von seiner Tochter Amina begleitet wurde. Wahrscheinlich gab eine Einladung der University of Southern California Anlass zur Reise, Handke nahm dort jedenfalls an einer Veranstaltung teil: "In a question and answer session held on May 12, 1976 during the University of Southern California German Semester, Handke discussed the origin of metaphors in his writing". (Barry 1983, S. 206, Anm. 25). In einer Postkarte an Alfred Kolleritsch vom 17. Mai schreibt Handke, dass er und Amina "seit gestern" in New York seien (Handke / Kolleritsch 2008, S. 99); dem Vermerk mit den Reisedaten auf dem vorderen Vorsatzblatt zufolge flogen die beiden am 19. Mai von dort zurück nach Europa. Fotoaufnahmen der Reise befinden sich in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖLA SPH/LW/S110/164-184) (vgl. Pektor).
Mit Ausnahme der Zeichnung eines Blattes, die mit dem Datum des 12. Mai versehen ist (ES. 19), sind die Notizen bis zu diesem Zeitpunkt undatiert; erst nach seiner Rückkehr nach Europa versieht Handke die Einträge wieder mit Datumsangaben (vom 19. Mai bis zum 13. Juni). Er unternimmt in dieser Zeit zwei weitere Reisen: Ende Mai, spätestens ab dem 26., befindet er sich in Südfrankreich (vgl. ES. 68), vermutlich in Cannes, wo der Film Im Lauf der Zeit seines Freundes Wim Wenders für die Goldene Palme nominiert war. Am 30. Mai dürfte Handke per Flugzeug zurück nach Paris gereist sein (vgl. ES. 80: "Der Himmel im Flugzeug über den letzten Wolkensträhnen traumblau"). Die Erwähnung einer weiteren Flugreise auf Editionsseite 97: "Ich hörte am Dialekt, daß Österreicher mit mir fliegen würden") und ein Treffen mit Siegfried Unseld (vgl. ES. 101) lassen den Schluss zu, dass Handke am 3. Juni nach Frankfurt am Main flog; einen Tag später kam er nach Österreich. Am 5. Juni war er in Tamsweg (möglicherweise am Standlhof bei Gudrun und Wolfgang Schaffler) und besuchte die Wallfahrtskirche St. Leonhard (ES. 103f.). Wann genau er die auf dem Vorsatz vermerkten Reisestationen Salzburg, Graz und Brunnsee besuchte, lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Die letzten Einträge im Notizbuch dürften wieder in Paris entstanden sein.
Themen
In den Aufzeichnungen im ersten Drittel des Notizbuchs hält Handke Eindrücke von seinem Aufenthalt in Los Angeles fest und führt die minutiöse Selbst- und Fremdbeobachtung fort, die er bereits in den Vorgängernotizbüchern praktiziert hatte, dazu kommen "Gegenüberstellungen von Amerika und Europa" (Pektor). Handke interessierte sich für Sprechweisen, Gesten und Attitüden der Menschen (ES. 17, 33f., 35), registrierte kleine Szenen aus dem Alltag und stellte in New York Vergleiche zwischen West- und Ostküste an (ES. 42). Zurück in Europa, drehten sich viele der Notizen um die "Voraussetzungen für das Schreiben" sowie "um die Ziele seiner schriftstellerischen Arbeit" (Pektor). So greift Handke etwa auf den Begriff des "Mythos" zurück, wenn er sein Schreiben thematisiert: "Immer wieder das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden, zu schaffen, die mit den abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben. Wir brauchen neue Mythen, unschuldige: mit denen wir etwas anfangen können (keine Mythenspiele mehr wie bei Joyce und Beckett)" ES. 109).
Lektüren
Neben wenigen Notizen im Zusammenhang mit Heimito von Doderers Roman Die Strudlhofstiege und zwei Stellen, die Handke aus einem Gespräch mit Martin Heidegger zitiert, das nach dem Tod des Philosophen unter dem Titel Nur noch ein Gott kann uns retten im Spiegel erschien, ist in NB 005 Handkes Lektüre der Blüthenstaub-Fragmente von Novalis dokumentiert, aus denen er zahlreiche Stellen in sein Notizbuch überträgt. Es enthält zudem ein Zitat aus dem Aufsatz Das entflohene Glück. Eine Deutung der Nostalgie von Arnold Gehlen, der im Mai 1976 in der Zeitschrift Merkur erschien.
Schreibprojekte
Auf dem vorderen Vorsatz ist der Titel "Ins tiefe Österreich" vermerkt (ES. 2); im Gegensatz zu den ersten beiden Notizbüchern, die Handke durch die Nennung dieses Titels dem gleichnamigen Schreibprojekt zuordnet, lässt sich hier mit Blick auf die Tetralogie Langsame Heimkehr (1979-1981), die Ende der 1970er-Jahre aus dem Schreibprojekt resultieren sollte, durchaus werkgenetisch Relevantes erkennen: Mit Valentin Sorger tritt in NB 005 erstmals jene Figur auf, die später zum Protagonisten der gleichnamigen Erzählung wird (ES. 25, 34f., 51): "Handke muss sich zu dieser Zeit bereits so intensiv mit seinem Romanprojekt beschäftigt haben, dass er den Namen seines Helden kannte" (Pektor). Zahlreiche der im Notizbuch festgehaltenen Eindrücke seines Aufenthalts in Los Angeles – vor allem jene bei der Besichtigung eines "Erdbebeninstituts" – "verarbeitete er in seiner Beschreibung von Sorgers Universitätscampus in Langsame Heimkehr (LH, S. 130ff.)" (Pektor). Im Zusammenhang mit der Veranstaltung, die Handke am 12. Mai 1976 an der University of Southern California besuchte, erwähnt Thomas F. Barry ein Band mit der Aufzeichnung der Diskussion (Barry 1983, hier S. 206, Anm. 25). Handke dürfte sie noch in den USA gesehen haben; in einer Notiz schrieb er anscheinend eigene Erfahrungen in die dritte Person um und übertrug seine Perspektive auf die Figur Valentin Sorger: "V.S. sah eine Stunde lang ein Video-Tape, wo er Frage und Antwort stand, und danach – er hatte sich aufmerksam beobachtet – dachte er, daß er von jetzt an keinen Grund mehr hätte, sich seiner selbst zu schämen, daß die Strenge und ruhige Anmut, mit der er da über eine Stunde lang öffentlich reagiert hatte, ihm auch ein Beispiel für all seine geheimeren Lebensäußerungen und auch seine Innerlichkeiten sein würden: daß er auch für sich so sein könnte, wie er sich da dargestellt hatte" (ES. 34f.).
Handke wählte einige der Notizen für den Abdruck im Journal Das Gewicht der Welt aus und überarbeitete sie teilweise, bevor sie im Journalband publiziert wurden. Die abgedruckten Aufzeichnungen "umfassen dort insgesamt 25 Seiten (DGW, S. 161-186)." (Pektor).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält rund 40 Zeichnungen, einige davon stammen wahrscheinlich von Amina Handke.
Literaturverzeichnis
Barry 1983 = Barry, Thomas F.: In Search of Lost Texts: Memory and the Existential Quest in Peter Handke´s "Die Hornissen". In: Seminar 19 (1983), H. 3, S. 194-214.
Handke / Kolleritsch 2008 = Handke, Peter / Kolleritsch, Alfred: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2008.
Pektor = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 125 Seiten, 08.05.1976 bis 13.06.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/278. Online abgerufen: 30.03.2023.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554389 ]
Material: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), kariert, Fadenheftung
Format: 13,5 x 8,2 cm
Umschlag: Hellbrauner Plastikumschlag in Lederoptik
Umfang: 125 Seiten; 140 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I-III, 1-95, 95a-95b, 96-109, 109a-109b, 110-121, I*-VI*
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (blau, schwarz, rot, grün), Fineliner (schwarz, blau, orange, türkis), Filzstift (schwarz, grün, rot, blau), Füllfeder (schwarz); Buntstift (gelb, grün, rot), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Der schwarze Filzstift auf ES. 6 und 7 hat das Papier rötlich verfärbt.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/278
Anzahl der erfassten Entitäten: 240
Die Aufzeichnungen der ersten Hälfte von Notizbuch 13.06.1976-04.07.1976 (NB 006) entstanden in Paris sowie in Cabourg, wo Peter Handke und seine Tochter Amina mit dem befreundeten Ehepaar Greinert ein Wochenende verbrachten. Mit 21. Juni hatte Handke seine Wohnung am Boulevard de Montmorency aufgegeben, wollte jedoch erst im Herbst eine neue Unterkunft in Paris suchen und in der Zwischenzeit eine mehrwöchige Reise durch Österreich unternehmen. Am 24. Juni fuhr er gemeinsam mit Amina zunächst nach Italien, wo er u.a. an der Verleihung des Petrarca-Preises teilnahm. In der Nähe von Florenz traf er Libgart Schwarz und übergab ihr die gemeinsame Tochter. Alleine reiste er weiter nach Gemona, wo einige Wochen zuvor ein schweres Erdbeben stattgefunden hatte. Seine Reiseroute führte ihn schließlich über Tarvis nach Österreich. Am 3. Juli erreichte er Velden am Wörthersee.
Material
Es handelt sich um einen 11 x 7,7 cm großen Notizblock. Er befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Der Block umfasst 100 karierte Seiten, die von 1-96 paginiert wurden, wobei die ersten beiden Seiten unpaginiert sind und die Ziffer 47 drei Mal vergeben wurde: 47, 47a, 47b. Die Blockseiten waren mit der Klebebindung am Umschlag befestigt. Im Verlauf der Benutzung haben sie sich jedoch daraus gelöst, weshalb sie von Peter Handke mit Klebestreifen fixiert wurden. Eines der Blätter klebte er dabei versehentlich verkehrt herum ein. Die im DLA Marbach kurz nach Ankauf angefertigten Scans dokumentieren die Klebung mit der verkehrten Seitenzählung: auf 48 folgen hier die Paginierungen 50, 49 und 51. Auch die Reihenfolge der Seiten 74/75, 76/77 und 78/79 war falsch; Handke machte deshalb nachträglich Anmerkungen zur korrekten Abfolge (vgl. ES. 81, 82 und 83). Aus konservatorischen Gründen hat man im Archiv die Klebestreifen am Original in der Zwischenzeit von den Blättern gelöst; sie liegen nun lose und in der richtigen Reihung im Umschlag. Auch in der digitalen Edition wurden die Notizblockscans wieder nach Handkes ursprünglicher Paginierung vor seiner Klebefixierung umgereiht. Aufgrund der Klebespuren ist die Schrift an den oberen Seitenrändern am Original wie auf dem Scan teilweise schlecht, an manchen Stellen gar nicht mehr zu entziffern, und auch die unteren Blattränder sind durch die Benutzung an manchen Stellen stark in Mitleidenschaft gezogen worden (umgeknickt, verblasst, vergilbt, verwischt), sodass zuweilen die letzte Zeile am Blatt kaum zu lesen ist. Der vordere und der hintere Umschlag sind bemalt. Es lässt sich nicht eindeutig sagen, von wem die Zeichnungen stammen; möglicherweise war der Notizblock mit der Umschlaggestaltung ein Geschenk von Amina Handke an ihren Vater, darauf deutet folgende Notiz hin: "bonne fête papa et je tʼembrasse beaucoup Amina" (ES. 3). Im Original ist eine getrocknete Pflanze als Beilage enthalten (ursprünglich eingelegt zwischen den Editionsseiten 40 und 41).
Aufenthaltsorte
Ab dem 13. Juni dürfte Handke noch einige Tage in Paris gewesen sein, vermutlich am 19. Juni fuhren er und seine Tochter Amina mit dem Ehepaar Greinert für einen Kurzurlaub nach Cabourg an die französische Atlantikküste (vgl. ES. 45). Am Tag der Rückreise (20. Juni) schrieb Handke aus dem Grand Hôtel de Cabourg an Siegfried Unseld, er werde morgen den letzten Tag in seiner Wohnung (Boulevard de Montmorency in Paris Auteuil) verbringen (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 308). Er zog nicht sofort in ein neues Domizil um, sondern wollte bis Anfang September ohne Wohnung bleiben, wie er Unseld ankündigte: Ab 2. Juli werde er mehrere Wochen lang durch Österreich reisen (siehe ebd., vgl. auch Kepplinger-Prinz). Die Tage bis zu Aminas Schulschluss verbrachte Handke im Pariser Luxushotel Plaza Athenée in der Rue Montaigne (ES. 65-73). Ihre Reise führte ihn und seine Tochter dann zunächst nach Italien: Den 24. und 25. Juni verbrachten sie in Mailand (im Hotel Principe Di Savoia). Ihre nächste Station war Arquà Petrarca (26. Juni), wo der Petrarca-Preis an Sarah Kirsch und Ernst Meister verliehen wurde; dieser Anlass wird im Notizbuch jedoch nicht eigens erwähnt. Danach verbrachte Handke noch einige Tage in Venedig und auf Torcello und reiste am 30. Juni weiter nach Florenz, Vicchio, wo er Libgart Schwarz und seine Tochter getroffen haben dürfte. Alleine fuhr Handke weiter nach Gemona und besah den Schauplatz des großen Erdbebens von Friaul, das sich wenige Wochen zuvor ereignet hatte. Über Tarvis reiste er dann nach Österreich und kam am 3. Juli in Velden an, wo er "spät am Abend" (ES. 100) notierte: "Die Frage hier: Wo bin ich?" (Ebd.). Unter dem Datum des 4. Juli heißt es in einer Notiz: "[I]diotische Buntheit am See" (ES. 101). Einen Tag später brach Handke von Velden zu einer mehrwöchigen Reise auf, die ihn quer durch Österreich führen sollte, "dieses charakterlose Land, dieses Niemandsland" (ES. 100), wie er noch in Velden schreibt. Aufzeichnungen zu dieser Reise, auf der Handke Material für das Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" sammeln wollte, sind in den drei folgenden Notizbüchern NB 007, NB W 13 und NB W12 enthalten.
Themen
Teils über mehrere Seiten hinweg ziehen sich im vorliegenden Notizblock Einträge, in denen Handke Bewusstseinseindrücke und Sinneswahrnehmungen festhielt, etwa als er am 13. Juni weintrinkend auf der Terrasse saß und "Sonntag-Abendgeräusche" mitschrieb (ES. 5-8). Der Mietvertrag der Wohnung am Boulevard de Montmorency, in der Handke seit 1973 gelebt hatte, war zu diesem Zeitpunkt bereits gekündigt, er verbrachte gemeinsam mit Tochter Amina die letzte Woche dort. Wahrscheinlich saß er auf der Terrasse in dem kleinen Garten des ebenerdigen Apartments, der immer wieder erwähnt wird – viele der Notizen im ersten Teil des Notizblocks dürften abends an diesem Ort entstanden sein. Handke versuchte, seine Sinneseindrücke möglichst unmittelbar mitzuschreiben und setzte damit die ab März 1976 mit NB 002 etablierte Schreibpraxis einer Mitschrift zweckfreier Wahrnehmungen um. Seine seitenlange 'Reportage' der häuslichen Geräuschkulisse im ersten Teil des Notizblocks wird manchmal unterbrochen von assoziativen Gedankensplittern wie z.B. "G. wird verrückt, weil sie nicht reich wird (Problem französischer Frauen)" (ES. 8). In Cabourg wiederum entstand eine besonders ausführliche Notiz, in der Handke zwei jugendliche Paare am Strand beschreibt, deren 'verdinglichtes' gestisches Repertoire aus "kleinen Ritualen" ihm "wie eine fremdartige Montage aus Karatefilmen, Liebesfilmen, (Porno) und Abenteuerfilmen (Piraten)" erschien (ES. 46-49).
Die dreiwöchige Trennung von seiner Tochter ab Anfang Juli dürfte nicht einfach gewesen sein; viele von Handkes Einträgen kreisen um die Liebe zu ihr und die Sorge um sie: "Abwesenheit von einem geliebten Wesen: jede kleine Alltagshandlung wird oft gleichsam zu einer heidnischen Weihehandlung zu seinem Wohlergehen (selbst das Lächerlichste wie das Treten des Wasserhebels im Zugklosett)" (ES. 93). Nachdem er Amina zu ihrer Mutter Libgart Schwarz gebracht hatte, reiste Handke alleine weiter nach Gemona, um den Schauplatz des großen Erdbebens zu sehen, das am 6. Mai 1976 das Friaul erschüttert hatte. Dieses Ereignis weckte bei Handke ein länger anhaltendes Interesse für Erdbeben: Die Katastrophe selbst hatte er in einem Eintrag vom 7. Mai 1976 jedoch zunächst nur flüchtig erwähnt: "Die Schlagzeile vom Erdbeben in Europa, und das Räuspern der Frau im stehenden Métrowagen höre ich als ein Schluchzen" (NB 004, ES. 89). Am nächsten Tag war er mit Amina zu einer rund zweiwöchigen Reise in die USA aufgebrochen; während dieses Aufenthaltes besichtigte Handke das Erdbebeninstitut an einer Universität in Los Angeles (vgl. NB 005, ES. 20ff.). Am 3. Juli fuhr er schließlich nach Gemona und sah den Schauplatz des Erdbebens im Friaul mit eigenen Augen. In den dort entstandenen Einträgen beschreibt er vor allem zurückgelassene persönliche Dinge in den zerstörten Häusern der Menschen (NB 006, ES. 95-98). Seine Faszination für die vom Erdbeben verheerte Gegend spiegelt sich auch noch in einem Eintrag vom 14. August 1976: "Ich bemerkte in Kärnten, daß ich mich auf das Slowenengebiet zubewegte mit einer Aufregung wie Wochen vorher auf das Erdbebengebiet (um Gemona; Zell/Pfarre)" (NB W13, ES. 52). Rund zwei Jahre später wird Handke erneut nach Gemona reisen, wo er am 20. August 1978 eine Zeichnung der "Erdbebenstadt" anfertigen wird (NB 015, ES. 169).
Lektüren
In NB 006 finden sich kaum Lektürespuren. Neben dem Vorwort von Siegfried Kracauers Fragmenten über Geschichte, auf das Handke "[z]ufällig [...] beim Aufräumen" (ES. 20) stieß, zitiert er lediglich eine Stelle aus Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege. Martin Scorseses Film Taxi Driver erwähnte er im Zusammenhang mit einem Bekannten, der, anders als Handke, nicht von dem Film begeistert gewesen sein dürfte: "Wie schon ein Film genügt ('Taxi Driver'), und es entsteht zwischen guten Bekannten ein Gespräch, in dem sie merken, plötzlich, was sie schon gleich am Anfang ihrer Bekanntschaft eigentlich fühlten, ohne davon wissen zu wollen: daß sie eigentlich nichts gemein haben und einander auf immer fremd, ja feind sein werden" (ES. 40).
Schreibprojekte
Zwei der Vorgängernotizbücher (NB 003 und NB 005) hatte Handke dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet; dieser Titel scheint im vorliegenden Notizblock weder auf dem Vorsatzblatt noch in den Notizen auf.
Obwohl Handke im Entstehungszeitraum die Druckfahnen von Die linkshändige Frau korrigierte (vgl. Pektor), finden sich in den Aufzeichnungen keine Spuren davon.
Viele der Notate übernahm Handke in den Journalband Das Gewicht der Welt (1977), wobei er sie Großteils überarbeitete und redigierte.
Zeichnungen
Der Notizblock beinhaltet nur wenige kleine Zeichnungen, wie etwa eine in die Zeile eingefügte schematische Darstellung einer Umkleidekabine am Strand von Cabourg (Z02/NB 006, ES. 52) oder ein Drahtgebilde (Z12/NB 006, ES. 97), das Handke im Erdbebengebiet rund um die Stadt Gemona sah. In der Basilica di Santa Maria Assunta in Torcello zeichnete er die Handhaltung einer Darstellung des segnenden Jesus ab (Z07/NB 006, ES. 88).
Literaturverzeichnis
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973-1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Pektor = Pektor, Katharina: Ohne Titel. Notizblock, 98 Seiten, 13.06.1976 bis 04.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/280. Online abgerufen: 19.11.2022.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554390 ]
Beilagen-Signatur: [HS006515008]
Material: Notizblock (Marke nicht identifiziert), kariert, Klebebindung
Format: 11 x 7,7 cm
Umschlag: Weißer Kartonumschlag mit Bemalung (Filzstift: gelb, rot, hellgrün und orange) (Z01/NB 006 und Z14/NB006), Vorder- und Rückseite des Umschlags sind mit Klarsichtfolie überklebt
Umfang: 100 Seiten, 108 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I-III, 1-47, 47a, 47b, 48-96, I*
Verwendete Schreibstoffe: Füllfeder (blau), Fineliner (rot, schwarz), Kugelschreiber (schwarz, blau, grün), Filzstift (gelb, rot, grün und orange), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Die Blockseiten waren mit der Klebebindung am Umschlag befestigt. Im Verlauf der Benutzung haben sie sich jedoch daraus gelöst, weshalb sie von Peter Handke mit Klebestreifen fixiert wurden. Eines der Blätter wurde dabei von ihm versehentlich verkehrt herum eingeklebt. Die im DLA Marbach kurz nach Ankauf angefertigten Scans dokumentieren die Klebung mit der verkehrten Seitenzählung: auf 48 folgen hier die Paginierungen 50, 49 und 51. Auch die Reihenfolge der Seiten 74/75, 76/77 und 78/79 ist hier falsch; Handke machte deshalb nachträglich Anmerkungen zur korrekten Abfolge (vgl. ES. 81, 82 und 83). In der Zwischenzeit wurden im Archiv die Klebestreifen am Original aus konservatorischen Gründen von den Blättern gelöst; sie liegen nun lose und in der richtigen Reihung im Umschlag. Auch in der digitalen Edition wurden die Notizblockscans wieder nach Handkes ursprünglicher Paginierung vor der Klebefixierung umgereiht. Die Blätter sind am unteren Rand durch die Benutzung stark in Mitleidenschaft gezogen worden (umgeknickt, verblasst, vergilbt, verwischt), so dass zuweilen die letzte Zeile am Blatt schlecht zu lesen ist.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/280
Anzahl der erfassten Entitäten: 182
Die Einträge in Notizbuch 05.07.1976-21.07.1976 (NB 007) entstanden während der ersten Etappe einer Reise durch Österreich, auf der Peter Handke Material für sein Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" sammeln wollte; dieser Arbeitstitel ist auch auf dem Vorsatz des Notizbuchs vermerkt. Handke war zunächst für einige Tage zu Fuß und per Bus bzw. Bahn in Ober- und Niederösterreich unterwegs, fuhr dann mit dem Schiff nach Wien und verbrachte anschließend einige Tage in Tamsweg und Salzburg.
Material
Dieses gebundene Notizbuch mit den Maßen 10,4 x 6,6 cm hat einen stabilen roten Umschlag aus Karton mit der weißen Aufschrift "NOTES". Es befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Das Notizbuch umfasst 96 linierte Seiten, die durchgehend paginiert sind; dazu kommen jeweils drei vordere und hintere Vorsatzseiten. Am vorderen Vorsatz sind der Aufzeichnungszeitraum "5.7.-21.7.1976" sowie die Adresse des Salzburger Residenz Verlages vermerkt; auf den beiden ersten Seiten des hinteren Vorsatzes finden sich diverse Adressen von Personen und eines Hotels. Die letzte Seite des hinteren Vorsatzes nützte Handke noch einmal für Notizen, weshalb er sie mit der Ziffer 97 paginierte. Dem Notizbuch beigelegt ist ein Datumszettel mit der Aufschrift "Juli 1976", der vermutlich ursprünglich auf das Cover geklebt war.
Aufenthaltsorte
Die Einträge in NB 007 entstanden während des ersten Abschnitts einer insgesamt rund zweimonatigen Reise durch Österreich (weitere Aufzeichnungen zu dieser Reise sind in den beiden zeitlich nachfolgenden Notizbüchern NB W 13 und NB W12 enthalten). Im vorhergehenden Notizbuch hatte sich Handke zuletzt einige Tage in Italien aufgehalten, am 3. Juli reiste er über Tarvis nach Velden am Wörthersee (vgl. NB 006, ES. 100). Hier beginnen die Aufzeichnungen des vorliegenden Notizbuchs: Am 5. Juli, also zwei Tage nach seiner Ankunft in Kärnten, bricht Handke mit dem Zug nach Oberösterreich auf – er erwähnt die Stationen Obervellach, Schwarzach-St. Veit und Linz. Wo er von 5. auf den 6. Juli übernachtete (möglicherweise in Salzburg), konnte nicht ermittelt werden, er erreicht jedenfalls am 6. Juli Freistadt. Am Tag darauf wandert Handke nach einem Besuch in Kefermarkt zu Fuß nach Sandl, wo er die Nacht verbringt. Am 8. Juli führt seine Reiseroute weiter ins nördliche Niederösterreich, an die damals tschechoslowakische Grenze (Eisener Vorhang) – erwähnt sind die Orte Bad Großpertholz und Lainsitz – bis nach Gmünd. Von dort reist er am nächsten Tag mit der Schmalspurbahn nach Groß Gerungs und ab da wahrscheinlich zu Fuß weiter nach Zwettl, wo er sich das Stift ansieht, und Rappottenstein. Am nächsten Morgen nimmt er den Bus nach Grein. Vermutlich traf er dort das Ehepaar Greinert, mit dem er gemeinsam eine Schifffahrt auf der Donau unternahm; die Reisenden dürften einen Stopp in Melk eingelegt und dort das Stift besucht haben. Am 14. Juli kommt Handke in Wien an, wo er sich mit seinem Bruder Hans trifft, der damals (möglicherweise an der Erdgasleitung Aderklaa – Donaustadt – Simmering) dort arbeitete. Am 16. Juli reist Handke schließlich von Wien über Salzburg nach Tamsweg, wo er vermutlich Gudrun und Wolfgang Schaffler im Standlhof besucht und mit ihnen eine mehrtägige Wanderung im Hochgebirge unternahm. Die Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek enthält eine Fotoserie Handkes, in der die geschilderte Reise dokumentiert ist (ÖLA SPH/LW/S104 und S106) (vgl. Pektor).
Themen
In den Reiseaufzeichnungen aus Ober- und Niederösterreich wird Handkes problematisches Verhältnis zu Österreich besonders deutlich. Viele der Beschreibungen von Einheimischen lassen seine ablehnend-distanzierte Haltung erkennen. In den Naturschilderungen hingegen, die auf Handkes Fußwegen entstanden, blitzt an manchen Stellen ein schönes Gefühl von "tiefem Österreich" auf. Dabei registriert er jedoch mitunter etwas Dunkles, das bedrohlich mitschwingt: "Der Mittag, das Fliegensummen, das Tellerschichten, die Kinderstimmen, die besonnten Telegrafendrähte, die hellen Bäuche der Mauersegler über einem, das Gras zittert unter meinem ruhigen Atem, die Wolken, die aus dem tiefen blauen Himmel sich bilden und sich rasch aus diesem Blau vergrößern, verbreiten, sich strecken, als ob sie auf einen herunterfielen, näherkommend (das starke Gefühl, daß sie es auf einen abgesehen hätten, ein ewiges Näherkommen❬)❭ und dann haben sie sich wieder aufgelöst" (ES. 17f.); "[h]inter dem vordergründigen Blau des Himmels erscheint plötzlich eine geheime zweite, vollständige, bedrohliche Bewölkung, die unversehens durchbrechen wird" (ES. 18f.).
Handke stört die Ausrichtung auf den Fremdenverkehr auch in entlegeneren Gemeinden Ober- und Niederösterreichs: "Ö., das unwürdige Land / Ich begrüßte immer von weitem erleichtert den Kirchturm des jeweiligen Ortes: so seelenlos kann es dort also doch nicht zugehen! (Aber dann steht an der Ortstafel: 'Feriendorf', oder 'Erholungsort' ...)" (ES. 70). Die Menschen in den Dörfern beschreibt er teilweise als abgestumpft, gleichgültig und teilnahmslos: "Die Leute: nicht unfreundlich, aber unfähig zur Freundlichkeit (sie wissen gar nicht, was das ist)" (ES. 37). Vermutlich in Rappottenstein besucht Handke ein Volksfest und registriert eine alkoholbedingte Änderung im Verhalten der Menschen: "So stumm, mundfaul sonst alle sind, jetzt hat man das Gefühl, alle reden mit Übergeschwindigkeit" (ES. 71). In der ausgelassenen Stimmung nimmt Handke eine unterschwellige Aggression wahr: "Kurz vor dem Zuschlagenwollen reichen sie sich scheinheilig versöhnlerisch die Hände" (ES. 72); "Zähnefletschend sitzen sie da in ihren Trachtengewändern" (ES. 73). Bereits zu Beginn seiner Reise notiert er: "Wo fast nur die Toten unter der Erde Würde hatten" (ES. 11), und als würdelos nimmt er auch die Volksfestbesucher wahr; dieser Eindruck ändert sich erst, als er sie, durch die Zeltwand von ihnen getrennt, als unbestimmte Silhouetten erlebt: "Der Bürgermeister aus Belgien, der die Dankrede an die freundlichen Menschen von Ö. im Plastikzelt hielt: das nächtliche Zelt von ❬außen❭, die Menschen gewannen als plötzliche Schatten eine Würde, die sie sonst nicht mehr hatten und die leicht angeduselte Humanität eines belgischen Bürgermeisters gegen die als Menschen auftretenden Ödeme Österreichs!!" (ES. 74f.).
Manche von Handkes Schilderungen weisen einen beinahe bernhardesken Gestus auf: "Als der schwachsinnig aussehende Mann, selig auf dem Schiff nach Wien (!), den Mund öffnet, um an der Zigarette zu ziehen, hat sich eine Blase vor seinem Mund gebildet vor Seligkeit / Sie trinken extra Flaschenwein zur Feier der Fahrt nach Wien" (ES. 79f.). In einzelnen Notizen registriert Handke das traumatische Fortwirken des Krieges bzw. eine von einem diffusen 'Stolz' bestimmte Nachkriegsmentalität: "Herr S., der, nach dem Krieg, den fraternisierenden Mädchen die Haare scheren wollte / Mit Generalen etc. zu 20 nach Kriegsende in einer Almhütte / Meine stolze Machtlosigkeit!" (ES. 11); "[e]in Mann tritt vor das Haus in die Leere, steht kurz da und geht wieder in die Leere zurück (Krieg als Lebenssinn)" (ES. 20). Auf dem Schiff nach Wien verspürt Handke eine "Sehnsucht, daß Juden in diesem Land wären!" (ES. 80). Die Begegnung mit seinem Bruder Hans in Wien wird nur am Rande erwähnt, wie überhaupt Handkes Aufenthalt in der Großstadt kaum Spuren im Notizbuch hinterlassen hat. Er fühlt sich dort nicht 'am Platz', was sich auf sein Selbstgefühl auswirke, wie er schreibt: "In Wien weiß ich nicht mehr, wie ich heiße, was ich getan habe, wer ich bin: völlige Verlorenheit […]" (ES. 86f.).
Im letzten Teil des Notizbuchs ist ein Aufenthalt in Salzburg und Tamsweg dokumentiert. Handke trifft Gerhard Roth und reflektiert nachträglich, wie er sich in der Gegenwart des Schriftstellerkollegen fühlte (ES. 96 und 97f.). Vermutlich verbringt Handke mit dem Verleger Wolfgang Schaffler und dessen Frau Gudrun einige Tage in den Bergen, wovon die Einträge auf den letzten Seiten des Notizbuchs zeugen.
Lektüren
NB 007 enthält keine Lektürenotizen, auch Kunstwerke rezipiert Handke kaum. Ausführlicher äußert er sich lediglich über den Kefermarkter Flügelaltar und – direkt im Anschluss daran – über Gegenstände, die er in einem Heimatmuseum gesehen hat (ES. 21-25).
Schreibprojekte
Obwohl NB 007 dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet ist, sind darin keine Entwürfe zu Figuren oder Schauplätzen der Langsamen Heimkehr-Tetralogie (1979-1981) enthalten – diese ist später aus dem Schreibvorhaben "Ins tiefe Österreich" entstanden. Handkes Besuch bei seinem Bruder Hans in Wien könnte jedoch "im Kontext des Stücks Über die Dörfer stehen [...], des letzten, tatsächlich in Österreich spielenden Teils der Langsamen Heimkehr, in dem die Hauptfigur Gregor auch ihren Bruder trifft" (Pektor).
In den ersten Journalband Das Gewicht der Welt (1977) nahm Handke keine Einträge aus dem vorliegenden Notizbuch auf – "die beiden Monate Juli und August 1976 wurden dort ausgelassen (DGW 206-207)" (Pektor) –, einzelne Notizen daraus erschienen erst in seinem zweiten Journal Die Geschichte des Bleistifts (1982), wie zum Beispiel die Notizen zum Kefermarkter Altar (DGB 6f.).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält lediglich vier Zeichnungen: Frakturschriftzeichen, die Handke vom Aushang eines Turnvereins abzeichnet (Z01/NB 007, ES. 14), zwei Reihen von Steinmetzzeichen, die er im Glas- und Steinmuseum in Gmünd gesehen haben dürfte (Z02/NB 007, ES. 46), die grob schematische Darstellung einer "Furt im Fluß" (Z03/NB 007, ES. 53) sowie einen "Barockgiebel" des Stifts Zwettl (Z04/NB 007, ES. 62).
Literaturverzeichnis
DGB = Handke, Peter: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg/Wien: Residenz 1982.
DGW = Handke, Peter: Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975 – März 1977). Salzburg: Residenz 1977.
Pektor = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 26.9.2023.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554391 ]
Material: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), kariert, Fadenheftung
Format: 10,4 x 6,6 cm
Umschlag: Roter, stabiler Kartonumschlag, Vorderseite: weiße Aufschrift "NOTES", Rückseite: Seriennummer und weiße Aufschrift "MADE IN ENGLAND"
Umfang: 96 Seiten; 109 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I-III, 1-96, I*-II*, 97 (am Vorsatz III*)
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (blau), Fineliner (rot, schwarz), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: keine
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material: keines vorhanden
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282
Anzahl der erfassten Entitäten: 156
Die Einträge in Notizbuch 21.07.1976-06.09.1976 (NB W13) entstanden während des zweiten Teils einer größeren Reise Peter Handkes durch Österreich und nach Italien, in den Aufzeichnungszeitraum fällt außerdem ein kurzer Aufenthalt in München. Ab dem 9. August brechen die Notizen ab. Die Datierung der Einträge weist hier eine zeitliche Lücke auf, da Handke während einer mehrtägigen Reise durch kleine Ortschaften seiner Kärntner Herkunftsgegend ein anderes Notizbuch (NB W12) verwendete. Erst am 14. August 1976 – er ist inzwischen in Venedig – setzte er seine Notizen in NB W13 fort. Zurück in Paris, begab sich Handke ab Ende August auf Wohnungssuche, Anfang September dürfte er bei seinem Freund Nicolas Born in Langendorf (Elbe) dabei gewesen sein, als dessen Bauernhof einem Brand zum Opfer fiel.
Material
Es handelt sich um einen 12 x 8 cm cm großen spiralgebundenen orangefarbenen Notizblock mit einem Umfang von 82 karierten Seiten. Die Paginierung am oberen rechten Seitenrand stammt vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wo das Original als Teil der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich aufbewahrt wird (ÖLA SPH/LW/W78). Den vorderen Umschlag hat Handke mit der Aufschrift "Ins tiefe Österreich" versehen. Die Angaben zum Entstehungszeitraum der Einträge ("21.7.76-6.9.76.") hat er auf dem vorderen Vorsatz des Notizblocks notiert (ES. 2); als Kontaktadresse ist jene des Salzburger Residenz Verlags angegeben, außerdem befindet sich dort eine einzelne kurze Notiz, die auf den 10. September 1976 datiert (ebd.). Auf dem hinteren Vorsatz notiert Handke Telefonnummern venezianischer Hotels (ES. 85). Dem Notizblock beigelegt ist ein Kalenderblatt mit einer weiteren Adresse und einer Notiz (ES. 87f.).
Aufenthaltsorte
NB W13 dokumentiert vor allem den zweiten Teil einer Österreichreise Peter Handkes, die er von Anfang Juli 1976 bis Ende August 1976 unternahm. Aufzeichnungen zu dieser Reise sind in drei Notizbüchern enthalten (NB 007, NB W 13 und NB W12). Wie man den letzten Einträgen in NB 006 entnehmen kann, erreicht Handke am 3. Juli von Italien kommend Velden am Wörthersee, von wo er am 5. Juli zunächst ins Mühl- und Waldviertel aufbricht und weiter bis nach Wien und von dort nach Salzburg fährt (dokumentiert in NB 007, vgl. Pektor a). Seine Reiseroute führt dann nach Westösterreich (Tirol und Vorarlberg) "und über München zurück nach Salzburg, Kärnten und Italien" (Pektor b): Diese zweite Etappe ist im vorliegenden Notizbuch festgehalten. Die Aufzeichnungen starten in Innsbruck (ES. 3).
Am 22. Juli fährt Handke von Tirol nach Vorarlberg und hält sich in Feldkirch (ES. 3) und Dornbirn auf, wo er die Stadtpfarrkirche St. Martin besucht (ES. 5). Am 23. Juli reist er über Innsbruck nach München. Er holt dort, wie er in einer Postkarte an Hermann Lenz angekündigt hatte, Amina Handke und Libgart Schwarz, die aus Florenz kamen, vom Zug ab (vgl. Handke / Lenz 2006, S. 101). Im Anschluss an einen Aufenthalt bei Hanne und Hermann Lenz fährt Handke gemeinsam mit seiner Tochter weiter nach Salzburg, wo er seinen Verleger Wolfgang Schaffler (ES. 28-30) und seinen Freund Hans Widrich (ES. 30) traf (vgl. Pektor a). Am 6. August 1976 reist er schließlich von Salzburg weiter nach Kärnten (ES. 36) und besucht in Klagenfurt das Landesmuseum (ES. 38) und wahrscheinlich seine Schwester Monika (vgl. Pektor b). Am 9. August brechen die Aufzeichnungen plötzlich ab und werden erst einige Tage später fortgesetzt. Notizen, die in der Zwischenzeit während einer Reise durch Kärnten entstanden, sind in NB W12 enthalten. Am 14. August befand sich Handke für drei Tage in Venedig (Hotel Gritti). Während dieses Aufenthalts besichtigte er unter anderem die Basilica di San Giorgio Maggiore und die Basilica di Santa Maria Assunta auf Torcello. Auf seiner Rückreise nach Paris machte er noch von 18.-22. August einen Zwischenstopp in Frankfurt am Main, wo er Siegfried Unseld und dessen Sohn Joachim traf (vgl. Pektor b).
Die weiteren Aufenthaltsorte und -daten lassen sich aus den Notizen nur schwer rekonstruieren; aus einer Notiz vom 26. August geht hervor, dass sich Handke wieder in Paris aufhielt und dort auf Wohnungssuche war: "Den ganzen Tag mit Raffzähnen zusammen (Maklern): endlich geht man ins Kino, wo man sich wieder kompetent fühlt" (ES. 73). Wo er in diesen Tagen mit seiner Tochter gewohnt hat, bleibt unklar, das Apartment am Boulevard de Montmorency in Paris Auteuil hatte er Ende Juni aufgegeben, bevor er auf Reisen ging (vgl. Kepplinger-Prinz).
Ende August dürfte er sich wieder in Deutschland aufgehalten haben, jedenfalls legen das einzelne Notizen nahe, etwa diese Einträge vom 29. August: "Schallendes Gelächter im Wald, das deutsche Gelächter im Buchenwald" (ES. 75) sowie: "Stimmen im Wald, die immer fremdsprachig erscheinen (französisch od. englisch), dabei sprechen die Leute natürlich deutsch" (ES. 76). Nur sehr vage thematisiert Handke eine Brandkatastrophe, die er während eines Besuchs bei seinem Freund Nicolas Born in Langendorf (Elbe) miterlebte: Am 3. September ging Borns Bauernhaus in Flammen auf (vgl. Kremp 1994, S. 374). Unter dem Datum des 4. bzw. 5. September hielt Handke folgende Einträge fest: "Wenn nach der Katastrophe die Alltäglichkeit wieder einsetzt und die öde Langeweile des Alltags einen erfaßt, verstärkt durch die alltäglich gewordene Katastrophe; besondere, tiefe Langeweile nach der Katastrophe" (ES. 81f.); "Wie klein mir N. vorkam, als er gestern abend plötzlich draußen vor der offenen Tür stand, und wie schief heute morgen auf der Treppe, als gäbe es eine neue Katastrophe" (ES. 83). Handke erinnert sich noch 1988 in einem Gespräch mit André Müller an dieses Ereignis: "Dazu fällt mir ein Erlebnis ein, als das Haus meines Freundes Nicolas Born an der Elbe brannte. Das war vor zwölf Jahren. Ich war dort zu Besuch und sollte einen Ziegenbock aus der Scheune retten, obwohl schon überall Flammen waren. Dieser Moment geht mir nicht aus dem Kopf. Ich zog den Bock, aber er kam nicht heraus. Als ich aus Angst vor dem Feuer, von dem ich umkreist war, schon aufgeben wollte, befreite er sich plötzlich von selbst. Im nachhinein wurde gesagt, ich sei mutig gewesen, was mich beschämt hat, weil es nicht stimmte. Ich glaube, ich wäre zu feige, um für einen anderen mein Leben aufs Spiel zu setzen." (Handke / Müller 1989, S. 79). Nach diesem Aufenthalt in Deutschland kehrte Handke nach Paris zurück, um die Wohnungssuche fortzusetzen, wie aus den Aufzeichnungen ab dem 7. September in NB W12 hervorgeht.
Themen
Während die meisten Notizen im Vorgängernotizbuch (NB 007 eine negative Haltung gegenüber Österreich erkennen lassen, scheint sich Handkes Verhältnis zu seinem Herkunftsland ein wenig zu entspannen, während er den Westen und Süden Österreichs bereist, was jedoch nicht bedeutet, dass es unproblematisch wird, "in dieser grünen Hölle Ö." (ES. 41) unterwegs zu sein. Angesichts eines Hauses an einem Bahndamm im Morgengrauen in der Nähe von Innsbruck bekommt Handke jedoch "erstmals seit langem wieder ein Gefühl von tiefem Ö." (ES. 14), wie er am 23. Juli festhält. Nach einer rund dreiwöchigen Trennung – Amina Handke war in dieser Zeit mit ihrer Mutter Libgart Schwarz in Italien – sah er am Tag darauf seine Tochter wieder; ihre Abwesenheit war Handke nicht leichtgefallen. Die Sorge um Amina hatte ihn auf Reisen begleitet: "Meine bange Freude, an A. denkend, aber doch Freude, endlich wieder [...] Universum, zerstreutes, zieh dich zusammen und kümmere dich um mein Kind! (mein Liebstes)” (ES. 7). Am 24. Juli kommt es am Bahnhof in München schließlich zum Wiedersehen: "Der Anblick von A. am Morgen, nach 3 Wochen, gekuschelt in die Decke des Schlafwagenabteils: wie der eines auferstandenen Kindes" (ES. 16).
Wohl im Rückblick auf das Zusammensein mit Freunden und Bekannten (u.a. mit dem Ehepaar Schaffler und Gerhard Roth, vgl. NB 007) in Salzburg und Tamsweg beschäftigte Handke die von ihm empfundene Spannung zwischen Allein-Sein-Wollen und Gesellschaft-Brauchen. Einer der ersten Einträge kreist um diese widersprüchlichen Bedürfnisse: "Seine finstere, begehrliche, hoffnungslose Verlassenheit; sein Herumstreichen, Herumstreunen, und dann in Gesellschaft doch immer wieder das unheimliche Behagen bei der Vorstellung, bald wieder allein zu sein" (ES. 6) – bezeichnenderweise schreibt Handke zuerst: "immer wieder das unheimliche Behagen bei der Vorstellung, bald wieder in Gesellschaft zu sein" und korrigiert die Stelle dann. Mit der Rückkehr seiner Tochter, "bekamen die Dinge, wenigstens episodisch, wieder einen Sinn", wie es auf Editionsseite 18 heißt. Handke dürfte mit Amina einige Tage bei Hanne und Hermann Lenz verbracht haben; dass auch das Zusammensein mit ihr zeitweise von widersprüchlichen Gefühlen beherrscht wird, geht aus einem Eintrag vom 31. Juli hervor: "Ich war allein mit A., seit langem wieder, und am langen Nachmittag nahte schon wieder der schreiende Wahnsinn." (ES. 29).
Lektüren
Auf seiner Reise durch Kärnten besuchte Handke das Landesmuseum. Er interessierte sich vor allem für die lokale Geologie, wahrscheinlich schrieb er Ausstellungstexte zu einzelnen Exponaten ab (vgl. ES. 38f.). Im Notizblock finden sich außerdem mehrere Zitate aus Goethes Italienischer Reise (ES. 8, 40f.). Dieses Werk beschäftigte ihn immer wieder: Zum Beispiel reflektierte Handke, wie die Zeitumstände und Lebensbedingungen Goethes mit seiner Wahrnehmungsweise zusammenhingen, und verglich diese mit seiner eigenen Situation als Schriftsteller. Am 3. August notierte er: "Goethe, der von allem das Material weiß und davon einen 'Vorsprung in der Kunst' hat (und ich mit meiner Schwierigkeit, selbst den Stuckschmuck in der Kollegienkirche zu erkennen)." (ES. 33); am 8. August notiert er: "Was sind an der Kunststofftischplatte, am Kunststoffußboden etc. an Materialien zu vergewissern wie Goethe es tat?" (ES. 49). Ein paar Tage später in Venedig bemerkte er : "Goethe hat noch versucht, diese Gesänge der Gondolieri zu verstehen, ich will sie gar nicht mehr verstehen" (ES. 51). Ein weiteres Goethe-Zitat betrifft den Zusammenhang von Schauplatz und Handlung in der Kunst: "'Mit dem, was man klassischen Boden nennt, hat es eine andere Bewandtnis. Wenn man hier nicht phantastisch verfährt, sondern die Gegend real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz, der die größten Taten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologischen und landschaftlichen Blick benutzt, um Einbildungskraft und Empfindung zu unterdrücken und mir ein freies, klares Anschauen der Lokalität zu erhalten. Da schließt sich denn auf eine wundersame Weise die Geschichte lebendig an, und man begreift nicht, wie einem geschieht, und ich fühle die größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen' (Dem G. ging es gut)" (ES. 40f.). Handke merkt dazu resigniert an: "Ja, aber die Empfindungen und die Einbildungskraft kann man wirklich nur vermeiden in einer 'klassischen Landschaft', nicht aber in dieser grünen Hölle Ö." (ES. 41) und notiert schließlich: "Als ob die Weltkriege unsereinem das Allgefallen Goethes ein für allemal verleidet hätten" (ES. 45).
Während seines Aufenthalts in München besuchte Handke die Alte Pinakothek und hielt seine Eindrücke beim Betrachten von Gemälden Ludwig Refingers, Albrecht Altdorfers, Hans Holbeins (d. Ä.), Matthias Grünewalds, Lucas Cranachs (d. Ä.), Hieronymus Boschs und Hans Memlings, (ES. 14f.) fest. In Venedig sah er Jacopo Tintorettos Kreuzabnahme sowie Das letzte Abendmahl in der Basilica di San Giorgio Maggiore. In der Basilica di Santa Maria Assunta auf Torcello zeichnete er Details der Mosaike ab (ES. 57f.). Außerdem besuchte Handke während seines Aufenthalts in Venedig eine Architekturausstellung (ES. 55). Der Notizblock enthält einen Hinweis auf Walter Benjamins Essay Essen (ES. 74), Notizen zu Kafka (ES. 70) und Yasujirō Ozu (ES. 78) sowie Zitate aus einem Interview mit Helmut Kohl aus dem ZEITmagazin (ES. 63).
Schreibprojekte
NB W13 ist dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet, das später in der Tetralogie Langsame Heimkehr (1979-1981) aufging (vgl. Pektor b). Vereinzelt finden sich darin Notizen zum Protagonisten von Handkes gleichnamiger Erzählung Langsame Heimkehr (1979), Valentin Sorger (ES. 36, ES. 47). Teile der in Kärnten entstandenen Aufzeichnungen könnte er für sein Theaterstück Über die Dörfer (1981) oder seine Erzählung Die Wiederholung (1986) verwendet haben (vgl. Pektor b). Einige der Notizen übernahm Handke in die Journalbände Das Gewicht der Welt (1977) und Die Geschichte des Bleistifts (1982).
Zeichnungen
Der vorliegende Notizblock enthält sieben Zeichnungen. Bei den Zeichnungen, die Peter Handke zugeschrieben werden können, handelt es sich um Details, die auf Reisebeobachtungen beruhen. So zeichnete er ein Kirchenfenster der Dornbirner Kirche (Z01/NB W13, ES. 5) und hielt in Venedig in der Basilica di Santa Maria Assunta Details des Mosaiks Das jüngste Gericht (Z05/NB W13, ES. 57) fest. Ebenfalls in Venedig entstanden ist die Zeichnung eines Zeitungsständers mit Kaffeetasse, die Handke anfertigte, während er das Frühstück einer Matrone in einer dem Hotel Gritti gegenüberliegenden Wohnung beobachtete (Z06/NB W13, ES. 60).
Literaturverzeichnis
Handke / Müller 1989 = Handke, Peter / Müller, André: "Wer einmal versagt im Schreiben, hat für immer versagt". André Müller im Gespräch mit Peter Handke. In: Die Zeit, Nr. 10, 3. März 1989, S. 77-79.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard Montmorency (1973–1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Kremp 1994 = Kremp, Jörg-Werner: "Inmitten gehen wir nebenher". Nicolas Born. Biographie, Bibliographie, Interpretation. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1994.
Pektor a = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor b = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizblock, 82 Seiten, 21.07.1976 bis 10.09.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/284. Online abgerufen: 19.11.2022.
Aufbewahrungsort: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB/LIT)
Notizbuch-Signatur: ÖLA SPH/LW/W13
Material: Kugelschreiber (schwarz, blau), Fineliner (schwarz, rot, braun), Bleistift
Format: 12 x 8 cm
Umschlag: Oranger Kartonumschlag, Vorderseite: Markenlogo und eh. Titel "Ins tiefe Österreich" (Kugelschreiber: schwarz)
Umfang: 82 Seiten; 89 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-82, I* (des LIT/ÖNB)
Verwendete Schreibstoffe: Notizblock (Marke Dachstein), kariert, Spiralbindung
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: keine
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material: keines vorhanden
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/284
Anzahl der erfassten Entitäten: 265
Notizbuch 09.08.1976-15.09.1976 (NB W12) enthält einerseits Peter Handkes Aufzeichnungen während seiner Fuß- und Busreise durch die Dörfer seiner Herkunftsgegend Kärnten in der Zeit von 9. bis 15. August 1976 mit Beschreibungen von Orten und ländlichen Alltagsszenen. Es beinhaltet andererseits die Notizen während seines Aufenthalts in Paris von 6. bis 15. September 1976, wo sich der Autor auf die Suche nach einer neuen Wohnung konzentrierte. Zwischen beiden Aufenthalten liegt eine zeitliche Lücke, die von NB W13 abgedeckt wird. Lektürehinweise Handkes findet man im vorliegenden Notizbuch nur wenige, allerdings beschreibt er an zahlreichen Stellen Kircheninventar wie Statuen oder Altäre.
Material
Das spiralgebundene orangefarbene Notizbuch im Format 10 x 7 cm umfasst 88 karierte Seiten, die von Peter Handke am unteren Seitenrand paginiert wurden. Eine weitere mit Bleistift vorgenommene Paginierung am oberen Seitenrand stammt vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wo das Original als Teil der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich aufbewahrt wird. Auf den vorderen Umschlag schrieb Handke in großen Lettern "Ins tiefe Österreich", den Titel eines Romanprojekts, das in seiner intendierten Form allerdings nie realisiert wurde; es ging in den zur Tetralogie zusammengefassten Werken Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Kindergeschichte (1981) und Über die Dörfer (1981) sowie in der Erzählung Die Wiederholung (1986) auf.
Aufenthaltsorte
Der erste Teil des Notizbuchs entstand während einer insgesamt fast zweimonatigen Österreichreise, die Peter Handke von Anfang Juli 1976 bis Ende August 1976 unternahm. Dokumentiert ist diese in drei Notizbüchern: In NB 007 bricht Handke am 5. Juli von Velden am Wörthersee auf und fährt ins Mühl- und Waldviertel, dann weiter bis nach Wien und von dort nach Salzburg (vgl. Pektor a). NB W13 enthält die Notizen zur zweiten Reiseetappe, die ihn nach Westösterreich (Tirol und Vorarlberg) "und über München zurück nach Salzburg, Kärnten und Italien" (Pektor b) führt. Die Notizen, die während der dort ausgesparten Tage von 9. bis 15. August entstanden, in denen Handke durch seine Kärntner Herkunftsgegend reiste, finden sich nun im vorliegenden Notizbuch (NB W12). Die eingetragenen Ortsnamen ergeben folgende Route 'über die Dörfer': Ferlach, Zell-Pfarre, Stein im Jauntal, Abriach, Eberndorf, Globasnitz, Bleiburg, Aich, Lippitzbach, Lisnaberg, Griffen, Ruden, Gletschach, Haimburg, Völkermarkt, Abtei, Hörtendorf und Karnburg. Handke notierte unterwegs kleine Alltagszenen und -gespräche des ländlichen Lebens, beschrieb Landschaftsbilder und Stimmungen und das Inventar vieler Kirchen, vor allem der seines Geburtsorts Griffen. Die Eintragungen zwischen 6. und 15. September 1976 entstanden in Paris, wo Handke nach einer neuen Wohnung für sich und seine Tochter Amina suchte.
Historischer Kontext: Kärnten in den 1970er Jahren
Handkes Kärntenreise fiel in eine politisch aufgeladene Zeit: 1972 wurden mit dem sogenannten Ortstafelgesetz gemäß Artikel 7 des Staatsvertrages 205 Ortschaften zum Aufstellen zweisprachiger (slowenischer und deutscher) Ortstafeln verpflichtet (vgl. Karner 2008, hier S. 141f.). Diese wurden im Zuge eines "Ortstafel-Sturms" im Herbst 1972 wieder demontiert (vgl. Reimann 2005, hier S. 141f.). 1976 folgte schließlich eine "geheime Erhebung der Muttersprache", die wiederum von der slowenischen Volksgruppe boykottiert wurde (vgl. Karner 2008, hier S. 143). Im selben Jahr wurde das Volksgruppengesetz beschlossen, das einen Anteil von mindestens 25% Slowen*innen als Grundlage für "zweisprachige topographische Aufschriften" festlegte (vgl. Ebd., hier S. 144). Die Spannungen verschärften sich 1976 weiter, es kam zu zahlreichen Demonstrationen und sogar Sprengstoffanschlägen.
Zitate aus der Kleinen Zeitung, die von Aufständen gegen die Denkmalweihe in St. Kanzian am 8. August 1976 berichten, belegen eine Auseinandersetzung Handkes mit den aktuellen politischen Ereignissen. Das Notizbuch zeigt zudem Handkes Aufmerksamkeit gegenüber dem Slowenischen, der slowenischen oder 'windischen' Sprache sowie sein umfassendes Interesse an der Geschichte der Kärntner Slowen*innen und Partisan*innen, die in seinem Werk auf unterschiedliche Weise immer wieder eine Rolle spielen: sehr prominent und verbunden mit seiner Herkunftsgegend Kärnten etwa in der Erzählung Die Wiederholung (1986) oder in seinem Theaterstück Immer noch Sturm (2010).
Wohnungssuche in Paris
Der zweite Teil der Notizbuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum von 7. bis 15. September 1976 entstand während Peter Handkes Wohnungssuche in Paris und Vororten wie Neuilly-sur-Seine, die von ausgiebigen Wanderungen begleitet wurde. Ende Juni 1976 hatte Handke seine Pariser Wohnung am Boulevard de Montmorency aufgelöst und war den Sommer über auf Reisen gegangen; während dieser Zeit hatte er keinen festen Wohnsitz (vgl. Kepplinger-Prinz und Pektor c). Auf dem Vorsatzblatt des Notizbuches vermerkte er wohl deshalb als Kontakt nur die Adresse des Residenzverlages. Wo Handke mit seiner Tochter wohnte, während er in Paris eine neue Bleibe suchte, konnte nicht eindeutig ermittelt werden. Einige Notizen weisen darauf hin, dass die beiden bei dem befreundeten Ehepaar Greinert unterkamen (vgl. ES. 70f., 78 und passim). Nach kurzer Wohnungssuche fand Handke ein Haus in der rue Cécille-Dinant im Pariser Vorort Clamart (es sollte im Frühling 1977 zum Schauplatz für die Dreharbeiten von Handkes Verfilmung seiner Erzählung Die linkshändige Frau werden). Wann genau er dieses Haus besichtigte und sich dafür entschied, es zu mieten, ist unklar, möglicherweise ist in der folgenden Notiz vom 12. September davon die Rede: "Beim Anblick des Hauses: 'Er war überglücklich'" (ES. 78).
Lektüren
Abgesehen von kleineren Zeitungszitaten findet man in diesem Notizbuch nur wenige Hinweise auf Lektüren Handkes. So zitierte er drei Artikel aus der Kleinen Zeitung, die sich mit einer Denkmalweihe und damit verbundenen Unruhen in St. Kanzian beschäftigen (ES. 5ff., 26). In Paris notierte er eine Passage aus einem Interview mit dem Politiker Kurt Biedenkopf, das in Die Zeit erschienen ist (ES. 74f.). Außerdem enthält das Notizbuch Zitate aus Antimémoires von André Malraux (ES. 70) und aus dem Interview Autoportrait à soixante dix ans, das Michel Contat mit Jean-Paul Sartre anlässlich dessen 70. Geburtstages 1975 geführt hat (ES. 79). Neben Lektüren schrieb Handke auch Inschriften von Grabsteinen (ES. 43) und Statuen (ES. 48) ab. Ob seine Bemerkungen zu Goethe (ES. 7 und ES. 60f.) und Doderer (ES. 76) mit Leseerfahrungen im Aufzeichnungszeitraum in Zusammenhang standen, kann nicht gesagt werden.
Schreibprojekte
Ein kleiner, stark überarbeiteter Teil der Einträge wurde in das Journal Das Gewicht der Welt (1977) übernommen. Einzelne Notizen, besonders zu Stift Griffen, könnten in das dramatische Gedicht Über die Dörfer (1981) eingeflossen sein – zumindest dürfte die Inspiration zum Titel von einer Notiz vom 7. September 1976 stammen: "'Über die Dörfer' (Titel einer Geschichte)" (ES. 63). Die beschriebenen Gebiete spielen schließlich auch in der Erzählung Die Wiederholung (1986) eine Rolle, ebenso einzelne Motive wie der Bildstockmaler (vgl. Pektor d).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält insgesamt sieben Zeichnungen und ein eingeklebtes Baum- oder Strauchblatt (M01/NB W12, ES. 43). Die während Handkes Reise durch Kärnten entstandenen Zeichnungen zeigen u.a. den Kirchturm von Gletschach (Z06/NB W12, ES. 52) sowie Details von Bildern oder Skulpturen in Kirchen. In der seitenlangen Beschreibung von Stift Griffen (ES. 41ff.) etwa skizziert er ein Bilddetail der 12. Kreuzwegstation (Z03/NB W12, ES. 45), die Lippenform einer Marienstatue (Z05/NB W12, ES. 48) und eine abgeschnittene Brust auf einem Teller, gehalten von der Hand einer Heiligen (Z04/NB W12, ES. 47).
Literaturverzeichnis
Pektor a = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor b = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizblock, 82 Seiten, 21.07.1976 bis 10.09.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/284. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor c = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécille-Dinant (1976-1978). In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen: 21.11.2022.
Pektor d = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 88 Seiten, 09.08.1976 bis 15.09.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/286. Online abgerufen: 21.11.2022.
Karner, Stefan: Minderheitenproblematik in Kärnten. In: Karner, Stefan / Mikoletzky, Lorenz (Hg.): Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im Parlament. Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag 2008, S. 139-151.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard Montmorency (1973–1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Reimann, Reinhard: Systematische Verhinderung? Die Politik gegenüber der slowenischen Minderheit in den Siebzigerjahren. In: Karner, Stefan / Moritsch, Andreas (Hg.): Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Karner, Stefan (Hg.): Kärnten und die nationale Frage. Band 1. Klagenfurt / Ljubljana / Wien: Verlag Johannes Heyn 2005, S. 133-159.
Aufbewahrungsort: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB/LIT)
Notizbuch-Signatur: ÖLA SPH/LW/W12
Material: Notizbuch (Marke Dachstein), kariert, Spiralbindung
Format: 10 x 7 cm
Umschlag: Oranger Kartonumschlag, Vorderseite: Markenlogo und eh. Titel "Ins tiefe Österreich" (Kugelschreiber: schwarz)
Umfang: 88 Seiten; 93 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-88, I*; I, 1-88, I* (zusätzliche Paginierung des LIT/ÖNB)
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (blau, schwarz), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: keine
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/286
Anzahl der erfassten Entitäten: 229
Die Aufzeichnungen in Notizbuch 16.09.1976-03.11.1976 (NB 008) entstanden zum größten Teil in Paris. Am 1. Oktober zog Peter Handke gemeinsam mit seiner Tochter in ein Haus im Pariser Vorort Clamart. Davor lebten die beiden für ca. zwei Wochen in einem Hotel in Meudon, das in der Nähe von Aminas neuer Schule lag, die bereits am 20. September begann. Die Einträge in der ersten Notizbuchhälfte behandeln u.a. die Schulangst seiner Tochter, den Alltag im Hotel, schließlich das vorübergehende Zusammenleben mit der Eigentümerfamilie des Hauses in der rue Cécille-Dinant, die erst am 10. Oktober auszog. In der zweiten Hälfte kreisen die Einträge verstärkt um seine Ängste und um das Alleinsein. Viele Notizen beschäftigen sich außerdem mit (bürgerlichen) Formen des sozialen Handelns. Der am Vorsatz notierte Arbeitstitel "Ins tiefe Österreich" wurde von Handke durchgestrichen und durch "Phantasien der Ziellosigkeit" ersetzt: mit diesem Titel sollten fortan "all die Materialien seit 1975" bezeichnet werden; Handke verlagert also seine Aufmerksamkeit vom Schreibprojekt, für das die Notizen eigentlich Material liefern sollten, auf die Notizen selbst.
Material
Das hellgrüne, spiralgebundene Notizbuch der Marke Clairefontaine (14 x 8,7 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Auf der Vorderseite des Umschlags klebt ein quadratischer Werbesticker, das Markenlogo steht auf dem Kopf (Peter Handke hat das Notizbuch verkehrt herum verwendet, das Beschriftungsfeld befindet sich auf der Rückseite). Auf dem vorderen Umschlag klebte ursprünglich ein Datumszettel mit Handkes Datierung des Notizbuchs ("Sept. – Okt. 1976"); er ist nach Anfertigung der Scans abgefallen und liegt dem Original nun bei. Das Notizbuch umfasst 178 karierte Seiten, die von Handke in den linken bzw. rechten unteren Ecken paginiert wurden. Auf die Innenseite des vorderen Umschlags notierte er Namen, Adressen und Telefonnummern sowie die Titel von Arbeitsprojekten, auf der Innenseite des hinteren Umschlags befindet sich eine Zeichnung von Amina Handke. Auf den Editionsseiten 178 und 179 hat Handke nicht nur Notizen aufgeschrieben, er verwendete sie auch für diverse Adressen und Telefonnummern. Auf der letzten Seite (ES. 180) finden sich zudem Notizen zu seiner Rezension von Nicolas Borns Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte; über die Schrift auf dieser Seite hat Handke ein dichtes Netz aus roten und schwarzen Linien gezeichnet.
Aufenthaltsorte
Handke unternimmt Mitte September eine Reise, die sich mit Angaben im vorliegenden Notizbuch nur indirekt erschließen lässt. Aber im Vorgängernotizbuch (NB W12) gibt es in einer Notiz vom 15. September einen Hinweis darauf: "1000 km fliegen, nur um ein paar bekannte Leute mein ruhiges, trauriges Gesicht sehen zu lassen, als Beweis für was, und um meinerseits in ihre Augen zu schauen" (NB W12, ES. 88). Es handelte sich um eine "Lesung" bzw. einen "Vortrag" am 17. September (NB 008, ES. 7), wobei unklar ist, wo er stattfand und ob Handke als Lesender oder als Zuhörer daran teilnahm. Handke reiste jedenfalls am 16. September mit dem Flugzeug zu der Veranstaltung (ES. 4-9) und war am 20. September zurück in Frankreich (Meudon).
Danach dürfte er sich ausschließlich in Paris aufgehalten haben. Nachdem er in den Sommermonaten auf Reisen gewesen war, hatte sich Handke seit Ende August nach einer neuen Unterkunft umgesehen und nach mehrwöchiger Suche für sich und seine Tochter Amina ein Haus im Pariser Vorort Clamart gefunden (die Wohnungssuche ist vor allem in NB W12 dokumentiert, vgl. auch Pektor c). Der Einzug in das Haus in der rue Cécille-Dinant war für 1. Oktober geplant, der Unterricht an Aminas neuer Schule im Nachbarort Meudon begann jedoch bereits am 20. September. Aus diesem Grund wohnten Handke und seine Tochter für einige Zeit in einem nahe der Schule gelegenen Hotel, wie er Hermann Lenz in einem Brief vom 30. September 1976 schreibt: "[U]nd auch ein Blatt Papier war zur Hand, obwohl ich seit über 10 Tagen im Hotel wohne, etwas außerhalb von Paris, in einer Buchenallee, wo man auf Paris hinunterschauen kann wie auf einen Haufen glühender Kohlen am Abend. Amina geht hier (in Meudon) seit ein paar Tagen zur Schule, die aber eher zum Glück wie eine große Villa ausschaut, mit einem Garten dahinter, und vielen Büschen und Gebäum". (Handke/Lenz 2006, S. 101f.). Wahrscheinlich handelt es sich um das Hotel "La Martinière", das sich zum damaligen Zeitpunkt an der Adresse 38, Avenue de Château in Bellevue-Meudon befand; dieser Name ist Teil einer Liste mit Aufenthaltsorten am vorderen Vorsatz des Notizbuchs (ES. 2).
Ab 1. Oktober lebte Handke mit seiner Tochter in dem Haus in Clamart. An Hermann Lenz schreibt er am 30. September 1976: "[N]ur jetzt, die ersten 10 Tage, wird da noch ein jüdisches Ehepaar mit 2 Kindern mitwohnen, im 2. Stock, die Eigentümer, die dann als Lehrer in den Senegal gehen. Ich bin ein bißchen beklommen, wie das gehen wird, 10 Tage mit fremden Leuten. In ein paar Tagen werden sie, wie der Mann mich warnte, Jom Kippur begehen, fastend in den oberen Räumen. Nun, ich werde auch nichts kochen, schon, um sie nicht zu reizen." (Handke / Lenz 2006, S. 102, vgl. auch Pektor c) Aus den Einträgen geht hervor, dass sich Handke in dieser Wohnsituation nicht wohl fühlte (vgl. ES. 62).
Themen
Kurz nach dem Auszug der Eigentümerfamilie begann Peter Handke unter diffusen Ängsten zu leiden (vgl. ES. 62, 84, 90f. und passim). Katharina Pektor verweist auf das Prosawerk Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), in dem er diese Zeit rückblickend literarisch verarbeitete: "Die ersten Abende in dem Haus draußen im Vorort, außerhalb der Mauern, bemächtigte sich meiner freilich eine Bangigkeit, wie sie eher in die Kindheit gehörte, wenn da einer der Hausgenossen, auch nur wenig über die Zeit, abwesend war. Hier jetzt bekam ich diese Zustände, obwohl alle da waren. Ich räumte die fremden Gegenstände weg oder schob sie, wie die afrikanischen Maskenfiguren, zusammen in eine Ecke, schaltete in sämtlichen Räumen bei der ersten Dämmerung die Lichter ein, hatte Angst, hinunter in die vielverzweigten Keller zu gehen […], sägte mit Heftigkeit, über den Bedarf hinaus, Holz in der hintersten Gartenecke und machte an jenen lauen Septemberabenden Feuer in dem Kamin, und […] wurde […] müde und reizbar, ertrug mein […] gebanntes Nichtstun nicht." (MJN, S. 299, vgl. Pektor c). Im Notizbuch ist indessen nachzulesen, dass Handke weit mehr als eine "Bangigkeit" befiel, als seine Tochter einmal länger als erwartet abwesend war. In einer ganzen Reihe von Einträgen versuchte er nach dem Erlebnis die nackte Panik zu beschreiben, die ihn überfallen hatte, als Amina statt um 16 Uhr erst um 20 Uhr nachhause kam (vgl. ES. 110-126).
Neben dem Motiv der Angst wird das von Handke als problematisch erfahrene Alleinsein im Notizbuch an vielen Stellen thematisiert. In einem Eintrag vom 11. Oktober beschreibt er die "Katastrophe des Alleinseins" (ES. 176) als belastend und mit Gefühlen der Schuld verbunden: "Nach Monaten immer in Gesellschaft, oder, wenn allein, dann unterwegs: wieder wie üblich vergessen, wie lastend, nervös machend, gelinde gesagt, das Alleinleben ist; das Gefühl der Schwerhörigkeit am Tag, das Gefühl der Hellhörigkeit bei Nacht; Gespensterseherei Tag und Nacht; das Schuldgefühl des Alleinseins; trotz Lesens, Schauens, Arbeitens, Musikhörens, wie damals oft in der Studentenzeit, die Vorstellung, nichts zu erleben, müßig und dumm und faul außerhalb des Laufs der Dinge zu vegetieren" (ES. 84f.).
Aminas Wechsel auf eine Privatschule in Meudon bringt für Handke den Kontakt zu den bürgerlichen Eltern der Mitschüler*innen mit sich. Immer wieder reflektiert er habituelle Unterschiede und Gefühle der fehlenden (sozialen) Passung im Umgang mit ihnen: "Beim Kinderfest mit den 'liebenswürdigen', routinierten, ihr Lebens-Spiel absolvierenden bürgerlichen Frauen im Garten: das alte Gefühl meiner Beflissenheit in solcher Gesellschaft, und doch des immer falschen Handelns, unnötigen Zugreifens, gezwungenen Freundlichseins zu diesen Fremden und ihren noch fremderen Kindern, die da z.B. im Garten aufeinandersitzen und feindselig still und starr zueinander sich verhalten, immer wieder zwischendurch bei ihren Schieß- und Kampfspielen; wo wieder mein altes Gefühl (Nichtgefühl), einer unteren Schicht anzugehören, durchbricht, ein unstatthafter Emporkömmling aus KEINEM Milieu zu sein" (ES. 44). Handkes Sensorium für Formen und Funktionen des sozialen Handelns zeigt sich in Notizen wie dieser: "Die Absurdität für mich: mich plötzlich antreffen in einem Salon mit versierten umgangsfreudigen, meinetwegen 'großbürgerlichen' (?) Frauen, die alle Formen des Nebenbei vollkommen beherrschen: eine, deren Mutter Polin war, bereitete ein 'œuf à la Polonaise', und als, während ich zuschaute, ein Kind nichtsahnend dazwischentrat, zog die Frau das Kind wie zärtlich an sich (in Wahrheit zur Seite), damit ich weiter die Zubereitung des polnischen Eies verfolgen könnte; später, im SALON, in mir reglose Heiterkeit bei dem Gedanken, daß gerade ich, durch mein Kind, immer wieder in eine solche sogar meine A&Ω-Eigenheit, die Neugier, sofort abschneidende Gesellschaft (mehr Sippschaft) hineingewürfelt werde, eine winzige Alltags-Tragödie nebst freudlosem Lachen des Beteiligten; Vorstellungen, in ihre Gespräche hineinzufurzen; und als ich dann endlich unten aus der Haustür trat, habe ich wirklich sofort gegen den Sockel gepinkelt, mit großer Freude" (ES. 169f.).
Lektüren
NB 008 enthält zahlreiche Lektürespuren. So zitiert Peter Handke viele Passagen aus den Romanen Die Strudlhofstiege von Heimito von Doderer und Stolz und Vorurteil von Jane Austen sowie auch Stellen aus Goethes Italienischer Reise. Er äußert sich zu Walter Benjamins Denkbild Moskau und notiert auf der letzten Notizbuchseite Gedankenfragmente zu seiner Lektüre von Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Handke rezensierte den Debütroman seines Freundes; der Text erschien am 8. Oktober 1976 unter dem Titel Gegen den tiefen Schlaf in der Wochenzeitung Die Zeit. Am 11. Oktober kommentiert Handke Marcel Reich-Ranickis Verriss seiner Erzählung Die linkshändige Frau, auf den er mit "Fassungslosigkeit" und schließlich mit "Wut" reagiert habe, wie er schreibt (ES. 87f.). Das vorliegende Notizbuch enthält außerdem Zitate aus Artikeln von Walter Jens, Klaus Harpprecht und Wolf Biermann aus der Wochenzeitung Die Zeit bzw. dem Magazin Der Spiegel. Einen Satz aus Erwin Panofskys Essay Et in arcadia ego invertiert Handke in einer Notiz auf Editionsseite 132: "Der Tod: 'Et in arcadia ego' Panofsky: 'Was eine Bedrohung war, ist zu einer Erinnerung geworden.' ‒ Was eine Erinnerung war, ist wieder zu einer Bedrohung geworden."
Schreibprojekte
Viele der in NB 008 festgehaltenen Notizen wurden (zum Teil in überarbeiteter Form) in Peter Handkes erstem Journalband Das Gewicht der Welt (1977) publiziert. Während er die meisten Vorgängernotizbücher dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zuordnete, streicht er diesen bereits notierten Arbeitstitel auf dem Vorsatzblatt wieder und ersetzt ihn durch "Phantasien der Ziellosigkeit" der fortan als "Titel für all die Materialien seit 1975" fungieren sollte, wie Handke anmerkt (vgl. ES. 2; siehe auch ES. 139, wo er Varianten dieser neuen Formulierung erprobt). Die Einführung dieses alternativen Titels markiert eine merkliche Verschiebung seiner Aufmerksamkeit vom geplanten Romanprojekt auf das Notiz-Material selbst, d.h. auf eine ihm "bis dahin unbekannte[] literarische[] Möglichkeit" (DGW, S. 5, vgl. dazu auch den in Pektor b, S. 125, abgedruckten Brief des Autors vom 18. November 1976 an den Verleger Wolfgang Schaffler). Handke nennt den neuen Titel auch im Nachfolgenotizbuch (NB 009, allerdings führt er dort auf dem Vorsatzblatt auch wieder den ursprünglichen Projekttitel "Ins tiefe Österreich" an (NB 009, ES. 2).
In einem Eintrag auf Editionsseite 98 erwähnt Handke den Titel "Über die Dörfer" und entwirft eine Gliederung des Stücks: "ÜBER DIE DÖRFER (Theaterstück in 5 Abschnitten, Kapiteln): Großstadt / Autobahncafé / Dorf / Autobahncafé / Großstadt)". Bei dieser Ideenskizze zum 1981 in Salzburg uraufgeführten Stück handelt es sich wie auch bei anderen vereinzelten frühen Notizen dieser Art (vgl. NB 002, ES. 3 und NB W 12, ES. 63) jedoch noch nicht um "systematische Projektnotizen", wie Katharina Pektor anmerkt: "Den Notizbuchaufzeichnungen nach zu schließen, müsste die Entwicklung von Über die Dörfer in der kurzen Zeitspanne von Sommer 1979 bis Sommer 1980 stattgefunden haben" (Pektor b).
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält lediglich drei Zeichnungen Peter Handkes: durch kleine Pfeile und Punkte angedeutete "Pupillenbewegungen" (Z02/NB 008, ES. 64) sowie das Detail einer Balkonverzierung (Z03/NB 008, ES. 115) und ein nicht eindeutig identifizierbares Motiv (ev. drei Glocken, Z08/NB 008, ES. 180), außerdem eine Reihe von Zeichnungen, deren Urheber*innen nicht eindeutig identifiziert werden konnten; ein Teil dieser Zeichnungen dürfte von Handkes Tochter Amina stammen.
Literaturverzeichnis
Handke / Lenz 2006 = Handke, Peter / Lenz, Hermann: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay von Peter Hamm. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2006.
MJN = Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973–1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Pektor a = Pektor, Katharina: Peter Handke. Dauerausstellung Stift Griffen. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2017.
Pektor b = Pektor, Katharina: Entstehungskontext [ÜD]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/602. Online abgerufen: 13.07.2023.
Pektor c = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécille-Dinant (1976-1978). In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen: 21.11.2022.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554393 ]
Material: Notizbuch (Marke Clairefontaine), kariert, Spiralbindung
Format: 14 x 8,7 cm
Umschlag: Hellgrüner Kartonumschlag (Leinenoptik); Vorderseite: Markenlogo, aufgeklebter Werbesticker (M01/NB 008) und eh. Datumszettel (Kugelschreiber: blau) (M02/NB 008); Rückseite: weißes Beschriftungsfeld und Markenlogo
Umfang: 178 Seiten; 184 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-178, I*
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (blau, schwarz), Fineliner (schwarz, rot, blau, braun), Bleistift
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Peter Handke hat das Notizbuch verkehrt herum beschrieben, sodass die Rückseite die Vorderseite ist. Nach Anfertigung der Scans ist der aufgeklebte Datumszettel abgefallen und liegt dem Original nun bei.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen: keine vorhanden
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/288
Anzahl der erfassten Entitäten: 238
Die meisten Aufzeichnungen in Notizbuch 12.11.1976-10.01.1977 (NB 009) entstanden in Paris. Erst Ende Dezember reiste Peter Handke über Frankfurt am Main und New York nach Colorado, wo er den Jahreswechsel 1976/77 verbrachte. Am 29. Dezember notierte er noch Eindrücke seines Aufenthalts in Denver, danach brechen die Aufzeichnungen ab und Handke benutzte während dieser kurzen USA-Reise ein anderes Notizbuch (NB 011). Unter einem Eintrag im letzten Drittel von NB 009 ist noch das Datum des 10. Jänner 1977 vermerkt, auf den restlichen 16 Notizbuchseiten sind ausschließlich Zeichnungen verschiedener nicht identifizierter Urheber*innen zu sehen.
Material
Das spiralgebundene blaue Notizbuch (12 x 7,5 cm) hat einen Umfang von 88 paginierten Seiten, wobei die Paginierung an vielen Stellen aufgrund einer Verwischung schwer bzw. gar nicht mehr lesbar ist. Die Seiten 55-56 sowie 65-66 fehlen, ebenso die Seiten 73-74. Eine Doppelseite fehlt außerdem zwischen den Seiten 7❬8❭ und ❬8❭5 und weitere zwei Blätter fehlen zwischen 8❬6❭ und 10❬0❭, wobei hier nicht feststellbar ist, welche Seiten, da die Paginierungen im hinteren Notizbuch-Teil aufgrund starker Verwischungen mit wenigen Ausnahmen praktisch nicht mehr zu entziffern sind. Handke dürfte jedenfalls einzelne Blätter aus dem Notizbuch gerissen haben, nachdem er alle Seiten vorab paginiert hatte. Die letzte Seite ist wahrscheinlich mit der Ziffer "100" paginiert worden, was den ursprünglichen Umfang anzeigen könnte.
Das Notizbuch verfügt über einen blauen Umschlag aus Karton; die Innenseiten der vorderen und hinteren Umschlagdeckel wurden von Handke als Vorsatz genutzt. Auf der Innenseite des vorderen Umschlags sind seine Wohnadresse in der rue Cécille-Dinant in Clamart sowie einige Telefonnummern vermerkt – von Libgart Schwarz, dem Ehepaar Greinert, Edith Clever, Kurt Bernheim und vom Hotel Algonqin in New York (ES. 2). Auf der Innenseite des hinteren Umschlags notierte Handke die Telefonnummern von Michael Roloff und Nancy Meiselas, einer Mitarbeiterin bei Farrar, Straus and Giroux sowie eine weitere Telefonnummer des New Yorker Verlags (ES. 91).
Das Original-Notizbuch befindet sich am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie (die auch NB 010 enthält) in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien (ÖLA SPH/LW/W81). Ein ursprünglich von Handke auf das Notizbuch aufgeklebter Datumszettel, der die Entstehungszeit der Einträge mit "Nov 76 – Jan 77" angibt, ist mittlerweile abgefallen und liegt dem Original nun bei.
Aufenthaltsorte
Im vorliegenden Notizbuch macht Handke nur wenige Datumsangaben und seine Reisebewegungen lassen sich nicht zweifelsfrei nachvollziehen. Ein Großteil der Einträge entstand wahrscheinlich in Paris. Michael Krüger bestätigt in einem Brief vom 4. Oktober 1976 ein Treffen der Jury-Mitglieder des Petrarca Preises (Nicolas Born, Bazon Brock, Peter Handke, Michael Krüger und Urs Widmer) am 27. und 28. November bei Peter Handke in Clamart (vgl. LIT/ÖNB, ÖLA SPH/LW/Korrespondenzen). Im Notizbuch selbst gibt es darauf keinen Hinweis, möglicherweise bezieht sich aber die folgende Notiz von "Ende November" (ES. 31) auf dieses Treffen: "Ich sagte: 'Schaut her, was Poesie ist!', nahm den Mantel, der über dem Fauteuil lag, und zog ein langes Brot aus dessen tiefer Tasche" (ebd.).
Am 12. Dezember 1976 notierte Handke "A. sagte: Wolken wie Vulkane (auf der Fahrt zum Flughafen)" (ES. 37), es ist allerdings unklar, wohin Handke mit seiner Tochter hier reiste. Einige der Notizen sind wohl am Meer entstanden (vgl. ES. 48ff., 54, 62), wo genau er sich Mitte Dezember aufhielt, geht aus den Einträgen jedoch nicht hervor.
Am 27. und 28. Dezember war Handke in Frankfurt am Main, wo er Siegfried Unseld traf (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 313, Anm. 1). Danach reiste er weiter nach New York und flog am 29. Dezember vom JFK-Airport aus nach Denver, Colorado. In einem der nachfolgenden Einträge erwähnt Handke das Imperial Hotel in Cripple Creek und die Zahnradbahn "The Broadmoor Manitou and Pikes Peak Cog Railway", die von Manitou Springs auf den Pikes Peak führt. Einen Tag später begann Handke ein neues Notizbuch, wie er auf dem Vorsatz von NB 011 vermerkte: "30.12.1976, begonnen im Trailways Bus von Denver nach Colorado Springs" (NB 011, ES. 3). Handke dürfte in Colorado Springs übernachtet haben, jedenfalls hielt er sich dort noch am 31. Dezember tagsüber auf; den Silvesterabend könnte er dann in einem Hotel in Denver verbracht haben. – Diese Aufenthaltsorte legen jedenfalls zwei Postkarten nahe: Aus Colorado Springs schrieb Handke am 31. Dezember 1976 eine Karte an Alfred Kolleritsch: "Lieber Fredy, ich bin gerade in einem unmöglich schönen Ort in den Rocky Mountains, bin zwei Stunden zu Fuß in die Berge gegangen und habe mich jetzt am Straßenrand in den Staubschnee gesetzt und schaue in die Hochebene von Colorado Springs hinunter, die so weit geht, wie eine Ebene nur gehen kann. Die Sonne ist sehr warm, ich habe beim Gehen schon Mantel und Rock ausgezogen, am liebsten würde ich barfuß gehen oder ganz ohne was. Die Luft ist sehr dünn und macht einen unbestimmt geil (2500 m). Es ist mehr als das Paradies, jedenfalls heute, ½ 12: man braucht nichts." (Handke / Kolleritsch 2008, S. 101). Aus Clamart sandte Handke am 17. Jänner 1977 eine Postkarte an Nicolas Born, wo er schreibt: "Ich war zu Silvester in Denver, Colorado, und habe heroisch aus dem Hotelfenster geschaut." (Born / Handke 2005, hier S. 17). Auch Siegfried Unseld erhielt Post. Am 1. Jänner 1977 schrieb Handke auf einer Ansichtskarte mit dem Motiv "Unique Lobby of the famous Brown Palace Hotel Denver Colorado": "[...] kaum kam ich in die bis dahin schneelosen Rocky Mountains, fing es zu schneien an, und es war der schönste, weichste und leichteste Schnee, den ich je erlebt habe." (Handke / Unseld 2012, S. 313). Am 2. Jänner trat Handke die Rückreise nach Europa an. Er flog nach Frankfurt am Main (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 313, Anm. 1), um am 8. Jänner beim 25-jährigen Arbeitsjubiläum von Siegfried Unseld teilzunehmen (vgl. ebd., S. 314, Anm. 1), im vorliegenden Notizbuch finden sich darauf jedoch keinerlei Hinweise.
Themen
In den Einträgen von NB 009 spiegelt sich eine Zeit der persönlichen Krise wider, die sich bereits im vorangehenden Notizbuch (NB 008) abzuzeichnen begann. In vielen Notizen thematisiert Handke Ängste, die zusehends seinen Alltag negativ beeinflussen: "Beim Gedanken an meine chronische Angst die Idee, mich dafür ❬jeweils❭ BESTRAFEN zu sollen" (ES. 4); "Einen Tag ohne Angst + deren Überwindung durch Weg-Denken, Aus-Denken verbracht und danach die Idee (nein, die Erfahrung), sich 'heute keine ruhige Nacht verdient zu haben'; ich erlebte die so lange abgetane Angst plötzlich als gefüllte Schweinsblase in der Brust, auf die man von allen Seiten drückte" (ES. 23); "Gefühllos werden vom vielen Denken an den Tod" (ES. 25f.); "Angst sogar beim Pullover-über-den-Kopf-Ziehen, oder beim Sich-zum-Wasserhahn-Beugen" (ES. 27). Eine Rückkehr der 'chronischen' Angst vor dem Tod, die bereits in NB 003 virulent war und damals mit körperlichen Symptomen einherging (Handke musste sogar eine Woche im Krankenhaus verbringen), kündigt sich ebenfalls bereits in NB 008 an: "Der Tod: 'Et in arcadia ego' (Panofsky: 'Was eine Bedrohung war, ist zu einer Erinnerung geworden.' ‒ Was eine Erinnerung war, ist wieder zu einer Bedrohung geworden.)" (NB 008, ES. 132).
Die Notizen legen nahe, dass es die eigene Herkunftsgeschichte und das Trauma durch den wenige Jahre zurückliegenden Selbstmord seiner Mutter sind, die Handke zusetzten: "Was mich ärgert: daß ich meinen Vater nicht zum Selbstmord bringe! (Das ist ein Mythos für 'Ins tiefe Österreich') / Ich habe überhaupt noch niemanden zum Selbstmord gebracht, der es verdiente (Habe ich meine Mutter zum Selbstmord gebracht? Jedenfalls nicht systematisch, nicht gewollt; höchstens 'in Kauf genommen'; und sie hat es eben nicht verdient, zu sterben)" (ES. 48). Die Angst, von der Handke spricht, umfasst die Angst vor dem Suizid, die nicht nur ihn beschäftigt, sondern auch seine Tochter: "Auf der Erde ist nicht [m]ein Platz, wenn es A. nicht mehr gäbe)" (ES. 32f.); "Selbstmord: die kurze Geschichte meiner Angst" (ES. 33); "A., die sagte: ‚Ich will nicht, daß du dich tötest.'" (ES. 34).
Dazu kommt noch die Belastung durch die "Katastrophe des Alleinseins" (ES. 33) und die Nachwirkungen der Trennung von Libgart Schwarz. Am 8. Dezember, also zwei Tage nach seinem 34. Geburtstag, notiert Handke: "(8.12.76. 4h morgens, hatte lange Zeit Angst, selbst die Hand unter der Decke hervorzuziehen) Es hat noch niemand beschrieben, was Alleinsein ist" (ES. 34). Die Krise erschwert bzw. verunmöglicht die schöpferische Tätigkeit des Schreibens, in der Depression liegt eine Sprachlosigkeit, die auch Handke erfährt: "In den letzten Tagen wie verschüttet von einer tiefen, schweren Niedergeschlagenheit; nur mit Anstrengung ein paar Worte hervorgebracht (nicht hervorgebracht, sondern eher GEMACHT). A. merkte es und nahm mich manchmal richtig an der Hand, z.B. gestern abend beim Treppensteigen, als bräuchte nicht sie meine Hand, wie sonst üblich, sondern ich die ihre" (ES. 33f.). Erst mit Überwindung dieser Krise würde auch ein Schreiben wieder möglich sein: "Nach der Depression: wieder neu sprechen lernen" (ES. 33).
Handkes Gemütslage verbessert sich erst, als er sich auf Reisen begibt. Ende Dezember fliegt er nach Frankfurt und von dort weiter nach Denver mit einer Zwischenlandung in New York. Auf der Flugreise notiert er seine Beobachtungen über das Fliegen: "Berühmte Orte, vom Flugzeug aus gesehen: als ob man sie gar nicht gesehen hätte" (ES. 63). "Blick aus dem Flugzeug: wie auf mittelalterlichen Bildern, wo es keine Perspektive gibt, alles in einer schiefen Ebene erscheint, zugleich die Vorstellung, in einen offenen Schweinebauch zu schauen" (ebd.). "Das Flugzeug, das wie ein Zug an den Wolken vorbeifährt (Bewegungsgefühl wie sonst nicht), [...]" (ES. 64). "[...] der Atlantik wie ein Sommersee, [...]" (ES. 65). "[...] an dem blauen Himmel entlangfliegend der Wunsch, sich zu Fuß unten auf der kalten grauen Erde zu bewegen, heraus aus der Unwirklichkeit des Technischen [...]" (ES. 66). Während seines Aufenthaltes in den USA fallen die Bedrückung und Niedergeschlagenheit von Handke ab und er widmet sich auch mit neuer Intensität der Arbeit an seinem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich", wie die Aufzeichnungen zur Reise belegen, die in NB 011 enthalten sind.
Lektüren
Im vorliegenden Notizbuch finden sich viele Zitate aus Jane Austens Roman Mansfield Park. Damit setzte Handke seine Austen-Lektüre fort, die bereits in NB 008 dokumentiert ist, das mehrere Stellen aus Stolz und Vorurteil enthält.
Schreibprojekte
Auf der Innenseite des vorderen Umschlags von NB 009 notiert Handke zwei Arbeitstitel: "Ins tiefe Österreich" und "Phantasien der Ziellosigkeit". Während der erste das großangelegte Schreibprojekt bezeichnet, dem er bereits zuvor sechs Notizbücher zugeordnet hatte, handelt es sich bei letzterem um eine Formulierung, auf die er im Aufzeichnungszeitraum des Vorgängernotizbuchs gekommen war: In NB 008 hatte er den alten Titel "Ins tiefe Österreich" gestrichen und durch "Phantasien der Ziellosigkeit" ersetzt, unter dem "all die Materialien seit 1975" zu versammeln seien (NB 008, ES. 2). Diese (vorübergehende) Entscheidung für einen neuen Titel dürfte mit den Vorbereitungen der Publikation seines ersten Journalbandes Das Gewicht der Welt (1977) zusammenhängen, verschiebt er doch damit den Fokus von dem vage geplanten Romanprojekt "Ins tiefe Österreich", das basierend auf den Notizen entstehen sollte, auf die "Materialien", d.h. auf die Notizen selbst. In seiner Zusammenfassung des Entstehungskontextes von Das Gewicht der Welt zitiert Christoph Kepplinger-Prinz einen Brief von Jochen Jung, Handkes Lektor beim Residenz Verlag. Dieser schreibt am 25. Dezember 1976 über die Formulierung "Phantasien der Ziellosigkeit": "Der neue Titel ist – wie wirklich alle Ihre Titel – sehr schön erfunden; richtiger im Sinne dessen, was ich oben gemeint habe, (und auch sehr schön) scheint mir jedoch der alte Titel 'Das Gewicht der Welt'. Der neue rückt das Ganze für mich um eine Spur zu sehr ins Unsicher-Unverbindliche, er klingt wie eine Vorsichtsmaßnahme. Der alte hingegen drückte entschiedener das aus, was die Notizen für mich so faszinierend macht, nämlich daß sie nichts Ausgedachtes und Behauptetes sind, sondern Gesehenes, Geschmecktes, Erlittenes." (ÖLA SPH/LW/Briefe/Jung, Jochen) In der Folge betitelte Handke die nach diesem Brief begonnenen Notizbücher nicht mehr nach dem Journal.
In NB 009 finden sich nur einige wenige Einträge zu Valentin Sorger, dem Protagonisten der Langsamen Heimkehr (ES. 45f., 53), seinen Aufenthalt in Colorado verarbeitete Handke aber in der Erzählung. Sorger legt auf dem Weg von der Westküstenstadt nach New York einen Zwischenstopp in der "Mile High City" (LH, S. 159) Denver ein, um einen Schulfreund zu besuchen, der in einer nahegelegenen Kleinstadt (wahrscheinlich Colorado Springs) als Skilehrer lebt. Als Sorger dort ankommt, erfährt er allerdings, dass der Bekannte verstorben ist (LH, S. 159-167).
Auf Editionsseite 88 finden sich Notizen zur Verfilmung von Handkes Erzählung Die linkshändige Frau; die Dreharbeiten starteten im März 1977 in Handkes Haus in Clamart. Auf dem vorderen Vorsatz ist die Telefonnummer von Edith Clever notiert.
Zeichnungen
Im Notizbuch sind viele Zeichnungen enthalten. Manche davon dürften von Handkes Tochter Amina stammen, die Urheber*innen der meisten Zeichnungen konnten jedoch nicht eindeutig identifiziert werden, so auch im Fall eines Miniatur-Handke-Porträts (Z07/NB 009, ES. 79) oder einer weiteren Porträtzeichnung (Z10/NB 009, ES. 82).
Literaturverzeichnis
Born, Nicolas / Handke, Peter: Die Hand auf dem Brief. Briefwechsel 1974-1979. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Hg. von Norbert Wehr. Essen: Rigodon-Verlag 2005, Nr. 65, S. 3-34.
Handke, Peter / Kolleritsch, Alfred: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2008.
Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
LH = Handke, Peter: Langsame Heimkehr. Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.
MJN = Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Entstehungskontext [DGW]. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1472. Online abgerufen: 2.10.23.
Pektor = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécille-Dinant (1976-1978). In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen: 21.11.2022.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554397 ]
Material: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), kariert, Spiralbindung
Format: 12 x 7,5 cm
Umschlag: Blauer Kartonumschlag, Vorderseite: eh. Schrift (Fineliner: schwarz) und Schrift sehr wahrscheinlich von Amina Handke (Fineliner: schwarz)
Umfang: 88 Seiten; 97 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: 1-2, ❬3❭, 4-8, ❬9-13❭, 14, ❬1❭5, ❬16❭, ❬1❭7, 18-24, ❬2❭5, 26, ❬2❭7, 28-30, ❬31❭ 3❬2❭, ❬33❭, 34, ❬35❭, 3❬6❭, ❬3❭7, 3❬8❭, ❬3❭9, ❬40-41❭, 42-45, ❬46-47❭, 48-53, 5❬4❭, (55-56 fehlen), ❬5❭7, 5❬8❭, ❬5❭9, 6❬0❭, ❬6❭1, 62-64, (65-66 fehlen), 67- 71, ❬?❭, (73-74 fehlen), ❬7❭5, 7❬6❭, ❬7❭7, 7❬8❭, ❬?❭, 8❬?❭, ❬?❭, 8❬?❭, ❬8❭5, 8❬6❭ (7 Seiten unleserlich ❬?❭), ❬9?❭, ❬99❭, 10❬0❭, (eine weitere Doppelseite fehlt zwischen den Seiten 7❬8❭ und ❬8❭5 sowie zwei Doppelseiten zwischen 8❬6❭ und 10❬0❭) I*
Verwendete Schreibstoffe: Kugelschreiber (schwarz, blau), Bleistift, Fineliner (schwarz, blau, rot), Filzstift (grün, blau)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Aufgrund von Nässeeinbruch ist die Schrift, v.a. die handschriftliche Paginierung, an den Seitenrändern teilweise verwischt. Es fehlen die Seiten 55-56, 65-66 und 73-74, eine Doppelseite zwischen 7❬8❭-❬8❭5 und zwei Doppelseiten zwischen 8❬6❭-10❬0❭.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material: keines vorhanden
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/290
Anzahl der erfassten Entitäten: 114
Den Aufzeichnungen in Notizbuch 24.04.1978-26.08.1978 (NB 015) zufolge hält sich Peter Handke bis Ende Juli in Clamart auf, von wo aus er drei kürzere Reisen nach Cannes, Siena und Rhodos unternimmt. Auffällig viele Notizen dieser Zeit beziehen sich auf seine Lektüre von Homers Odyssee und ein wichtiger Stellenwert kommt seinem Studium von Bildern Paul Cézannes zu. Anfang August bricht Handke zu einer längeren Reise durch Kärnten, den slowenischen Karst und Italien auf. Er arbeitet zu dieser Zeit am Schreibprojekt Ins tiefe Österreich, aus dem später unter anderem die Erzählung Langsame Heimkehr (1979) hervorgehen wird. Viele Reise-Eindrücke werden noch mit Valentin Sorger, dem Protagonisten der Langsamen Heimkehr, assoziiert, fließen jedoch Jahre später in die Erzählung Die Wiederholung (1986) ein.
Material
Das Notizbuch befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Für die Eintragungen in das spiralgebundene Notizheft im DIN-A6-Format (16,8 x 10,5 cm) verwendete Handke verschiedenfarbige Stifte (Fineliner, Bleistift, Kugelschreiber). Das Heft hat einen Umfang von 180 karierten Seiten, die vom Autor in den linken bzw. rechten oberen Ecken paginiert wurden, wobei die Ziffern auf den ersten Seiten des Notizhefts aufgrund einer Verblassung weitgehend unleserlich sind. Der durch Gebrauch brüchig gewordene gelbe Einband wurde mit Tixo- und Pflasterstreifen stabilisiert. Auf dem Umschlag klebt die 2,5 x 3 cm große Abbildung eines Selbstportraits von Nicolas Poussin und ein Etikett mit einer Zeichnung von Handkes Tochter Amina.
Folgende Beilagen sind im Originalnotizbuch enthalten: ein beidseitig beschriebenes Blatt mit Notizen, ursprünglich eingelegt zwischen Seite 126 und 127 (bzw. ES. 128 und 129), der Ausschnitt eines undatierten Zeitungsartikels mit der Abbildung eines kleinen Teiches und der Beschriftung "Il laghetto dove si è uccisco Sebastiano Demuro" (zwischen S. 66 und 71 bzw. ES. 68 und 69), drei getrocknete Pflanzen sowie ein kleiner Papierstreifen mit der Datierung des Aufzeichnungszeitraums der Notizen, der sich vom Notizbuchumschlag gelöst hat.
Aufenthaltsorte
Die Aufzeichnungen beginnen am 24. April 1978, nachdem Handke von einer Reise aus der Sowjetunion über Deutschland nach Frankreich zurückkehrt (siehe NB 014, und lassen sich grob in zwei Abschnitte teilen: Die meisten Einträge der ersten Notizbuchhälfte entstehen in Clamart, wo sich Handke bis zum 1. August aufhält. Für diesen Zeitraum können drei kürzere Reisen rekonstruiert werden: Ende Mai fährt er zu den Filmfestspielen nach Cannes, die von 17. bis 29. Mai stattfanden; sein Film Die linkshändige Frau wurde als offizieller Beitrag der Bundesrepublik Deutschland gezeigt. Von 9. bis 11. Juni nimmt Handke an der Verleihung des Petrarca-Preises in Siena teil und hält die Preisrede auf Alfred Kolleritsch, die am 13. Juni 1978 unter dem Titel Der tiefe Atem in der Kleinen Zeitung erscheint; (vermutlich) Mitte Juli reist er nach Rhodos.
Die Aufzeichnungen der zweiten Notizbuchhälfte macht Handke während einer mehrwöchigen Reise durch Kärnten, Slowenien und Italien. Seit 1. Oktober 1976 bewohnte er mit seiner Tochter Amina ein Haus in der rue Cécile Dinant in Clamart, welches er im Sommer 1978 aufgibt, um auf Reisen zu gehen und sich ganz auf die Arbeit an jener Erzählung zu konzentrieren, die später den Titel Langsame Heimkehr erhalten sollte. Am Ende einer zweiseitigen Landschaftsbeschreibung in der Abenddämmerung (vermutlich im Pariser Umland) wird die bevorstehende Reise antizipiert: "Morgen werde ich endlich den Weg wissen" (ES. 91). Auf Editionsseite 89 notiert Handke das Datum "1. August", d.h., er unternimmt den Ausflug ins Pariser Umland am Tag vor seiner Abreise; bevor er allerdings nach Kärnten aufbricht, fährt er nach Frankfurt, wie Siegfried Unseld unter dem Datum des 2. August 1978 in seiner "Chronik" festhält (vgl. Handke / Unseld 2012, S. 348): "Überraschend ist Handke in Frankfurt. Fast verschämter Besuch im Verlag. Dann gehen wir essen im Garten des Parkhotels. Er hat keinen Hunger, wie er sagt, aber dann verführen die hervorragenden Speisen ihn doch, und nach drei Stunden verläßt er Frankfurt fast fröhlich. Er fliegt nach Klagenfurt. Von dort aus will er durch Slowenien wandern, 14 Tage." (Ebd.) Der Frankfurter Aufenthalt wird im Notizbuch nicht erwähnt; zu den ersten in Kärnten entstandenen Eintragungen zählt die Beschreibung einer Marktszene, die Handke möglicherweise in Klagenfurt aufschreibt, wo er im Hotel Musil wohnt.
Der exakte Nachvollzug der einzelnen Reisestationen gestaltet sich schwierig, da die Datierungen nur sporadisch erfolgten; anhand der genannten Ortsnamen lässt sich die Reiseroute Kärnten – Slowenien – Italien wie folgt rekonstruieren: Nach Aufenthalten in St. Egyd und Griffen dürfte Handke in Graz gewesen sein, als weitere Reisestationen für Kärnten sind folgende Orte verzeichnet: St. Pongratzen, Eibiswald, Aich/Dob, Velden am Wörthersee, St. Luzia und Treffen am Ossiacher See (9. August). Nach einem Besuch der Wallfahrtskirche Maria Elend überquert Handke in Rosenbach bei Villach die Grenze zu Slowenien. Von Nomenj aus reist er in den slowenischen Karst, nach Bohinjska Bistrica, Bled, Podbrdo, Nemški Rovt und erreicht am 13. August Idrija. Von Kalce fährt er mit dem Bus nach Postojna, den 15. August (Mariä Himmelfahrt) verbringt er in Dutovlje; weitere Reisestationen sind Pliskovica, Komen, Branik, Nova Gorica, Divača, am 17. August ist Handke im Hotel Triglav, vermutlich in Sežana; von Škocjan reist er schließlich über Lokev nach Triest. Er besucht Miramar und Duino, Gemona, Udine und Gorizia und fährt schließlich nach Venedig, wo ihn Siegfried Unseld am 28. August 1978 telefonisch erreicht, "um ihm noch einmal die Büchnerpreisrede für [Hermann] Lenz nahezulegen" (Handke hat sie nicht gehalten), wie Unseld in seiner "Chronik" festhält. (Handke / Unseld 2012, S. 349). Am 31. August kehrt Handke nach Österreich zurück (nach Kärnten und Salzburg) – diese Wegstationen sind im Folgenotizbuch (NB 016) dokumentiert.
Themen
Notizen zur Lektüre geologischer Fachliteratur (unter anderem Band III von Herbert Wilhelmys Geomorphologie in Stichworten) und Ausführungen zu geologischen Formationen, etwa zu den Dolinen im slowenischen Karst, dokumentieren Handkes Interesse für die Geologie. Ihr kommt im Kontext seiner Arbeit am Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" und an den Entwürfen zur Figur des Geologen Valentin Sorger ein zentraler Stellenwert zu. Das Kürzel "F.-E.", das Handke an vielen Stellen im Notizbuch verwendet, und das sich einer Auskunft des Autors zufolge als "Form-Element" auflösen lässt, deutet zudem darauf hin, dass sich Handkes Beschäftigung mit der geologischen 'Formenlehre' nicht bloß auf die inhaltliche Ebene beschränkt, sondern poetologisch gewendet und mit der Arbeit an einem neuen sprachlichen Ausdruck im Erzählen enggeführt wird. Im Zusammenhang mit seiner Lektüre der ersten Nummer von Hérodote, einer französischen Zeitschrift zu Geographie und Geopolitik, interessiert sich Handke zudem für soziologische Dimensionen des Geographischen.
Neben Beobachtungen zu Landschaftsformationen enthält das Notizbuch auch (mitunter detaillierte) Aufzeichnungen zu Kircheninventar, dessen Formen Handke teilweise auch zeichnerisch festhält, und zur Bildenden Kunst, etwa im Zusammenhang mit der von ihm im Frühjahr 1978 besuchten Ausstellung Cézanne, les années dernières, die von 20. April bis 23. Juli im Grand Palais in Paris zu sehen war. Seine Faszination für Cézannes Werk macht Handke später zum Ausgangspunkt des poetologischen Essays Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), in dem er sich an die prägende Rezeptionserfahrung erinnert: "Als solche Dinge des Anfangs erlebte ich die Bilder Cézannes, auf einer Ausstellung im Frühjahr 1978, und wurde ergriffen von Studierlust, wie zuvor nur bei den Satzfolgen Flauberts. – Es waren die Arbeiten seines letzten Jahrzehnts, wo er dann so nah an dem erstrebten 'Verwirklichen' seines jeweiligen Gegenstands war, daß die Farben und Formen diesen schon feiern können." (DLS, S. 34f.)
Lektüren
Im Notizbuch hält Handke diverse Lektüreeindrücke fest. Lesespuren sind überwiegend in der ersten Hälfte des Notizbuchs zu finden, während seiner Reise notiert Handke dagegen kaum etwas zu seinen Lektüren. Neben Prosa von Jean-Jacques Rousseau (Les Rêveries du promeneur solitaire und Les Confessions) und John Cowper Powys (A Glastonbury Romance) und Gedichten von T.S. Eliot (The Love Song of Alfred J. Prufrock, Portrait of a Lady, Rhapsody on a Windy Night) liest Handke das Juni- Heft der Zeitschrift Cahiers du Cinéma. Im Notizbuch wird aus Gesprächen mit John Cassavetes sowie Bruno Nuytten und dem Briefwechsel zwischen Sergej M. Eisenstein und Wilhelm Reich zitiert. Er notiert einen Satz aus Alexander I. Solschenizyns Rede Расколотый мир (A world split apart bzw. Le déclin du courage), die dieser am 8. Juni 1978 bei der Abschlussfeier an der Harvard University hielt, außerdem zitiert er einen Artikel über Warren Beatty aus dem Time Magazine und den 1976 anonym in der Zeitschrift Les Echos de Saint-Maurice veröffentlichten Text einer psychisch erkrankten Frau. Neben solchen punktuellen Lektüreeindrücken liest Handke über einen längeren Zeitraum hinweg in Homers Odyssee, vor allem die erste Notizbuchhälfte enthält viele Zitate, sowohl aus dem griechischen Original als auch aus der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt.
Schreibprojekte
Zur Zeit der Niederschrift der in Notizbuch 24.04.1978-26.08.1978 (NB 015) enthaltenen Notizen arbeitet Handke am Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich", das ihn seit 1976 beschäftigte. Daraus wird später unter anderem die Erzählung Langsame Heimkehr (1979) hervorgehen, auf die sich Notizen zu Titeln oder Kapitelüberschriften auf dem vorderen Vorsatz beziehen dürften: "Ohne Schutz des Zeitalters", "D. Versäumnis", "Das Augenmaß", "Die Abschiedsbilder", "Die Zeit und die Räume", "V. Sorger, 'Geologe'", außerdem "Der stolpernde Baum", "Tiefe Muster" und "Tiefe Ornamente". Ein zentraler Stellenwert in den Aufzeichnungen kommt der Figur des Geologen Valentin Sorger zu, Protagonist der kurze Zeit später entstandenen Erzählung Langsame Heimkehr, für den Handke im Notizbuch meist das Kürzel "S." verwendet (zum Teil auch "V. S.", "V." oder "der Geologe"). Wenn Handke seine Eindrücke und Gedanken aufschreibt, ordnet er diese noch nicht explizit verschiedenen Werken zu. Das Notizbuch ist vielmehr ein (weitgehend) unspezifischer Erfahrungsspeicher, auf den der Autor immer wieder zurückgreifen wird. Viele der in Notizbuch 24.04.1978-26.08.1978 (NB 015) festgehaltenen Erlebnisse und Eindrücke fließen Jahre später in Die Wiederholung (1986) ein; die Stationen der von Handke im August 1978 unternommenen Slowenien-Reise werden zum Vorbild für die Reise der Hauptfigur Filip Kobal.
Zeichnungen
Das Notizbuch birgt rund 40 Zeichnungen, darunter abstrakte Skizzen von Silhouetten, Schriftzeichen, Zeichnungen einzelner Gegenstände und halb- oder ganzseitige größere Arbeiten, auf denen Landschaftseindrücke grafisch festgehalten sind, etwa die Zeichnung eines Steinbruchs im Karst (Z32/NB 015, ES. 148) oder eines vom Erdbeben zerstörten Stadtteils von Gemona (Z39/NB 015, ES. 169). Die zuletzt genannte Zeichnung wurde für das Cover von Die Abwesenheit (1987) verwendet; die Zeichnung vom "besonnte[n] Tisch im Warteraum (von Dutovlje)" (Z34/NB 015, ES. 141) ließ Handke auf der letzten Seite seiner Erzählung Die Wiederholung abdrucken (DW, S. 334). Dass er bereits das Typoskript der zweiten Textfassung von Langsame Heimkehr mit einer Kopie dieser Notizbuchzeichnung gestaltet hat, macht die Verquickung dieser Erzählungen im Schreibprojekt Ins tiefe Österreich deutlich. Weitere Zeichnungen aus Notizbuch 24.04.1978-26.08.1978 (NB 015) wurden von Handke in Abschied des Träumers vom Neunten Land (1991), eine "Erinnerung an Slowenien", wie es im Untertitel heißt, aufgenommen.
(Anna Estermann)
Literaturverzeichnis
AT = Handke, Peter: Abschied des Träumers vom Neunten Land. Eine Wirklichkeit, die vergangen ist: Erinnerung an Slowenien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991.
DAM = Handke, Peter: Die Abwesenheit. Ein Märchen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987.
DW = Handke, Peter: Die Wiederholung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986.
Handke 1978 = Handke, Peter: Der Tiefe Atem. Zur Verleihung des Petrarca-Preises an Alfred Kolleritsch. In: Kleine Zeitung, 13.6.1978, S. 3f. (Wiederabgedruckt in: Ders.: Das Ende des Flanierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 137-144.)
Handke / Unseld 2012 = Handke, Peter / Unseld, Siegfried: Der Briefwechsel. Hg. von Raimund Fellinger und Katharina Pektor. Berlin: Suhrkamp 2012.
Kepplinger = Kepplinger, Christoph: Die Zeit und die Räume. Notizbuch, 180 Seiten, 24.04.1978 bis 26.08.1978. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/2529. Online abgerufen: 9.12.2022.
Pektor a = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécille-Dinant (1976-1978). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen: 9.12.2022.
Pektor b = Pektor, Katharina: Die Zeit und die Räume. Notizbuch, 180 Seiten, 24.04.1978 bis 26.08.1978. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/321. Online abgerufen: 9.12.2022.
Pektor c = Pektor, Katharina: Das Raumverbot (Textfassung 2a). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/839. Online abgerufen: 8.12.2022.
Aufbewahrungsort: Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA)
Notizbuch-Signatur: DLA, A:Handke, Peter: [HS00554456 ]
Beilagen-Signatur: [HS006572120]
Material: Notizbuch (Marke nicht identifiziert), kariert, Spiralbindung
Format: 16,8 x 10,5 cm
Umschlag: Ockergelber Kartonumschlag; Vorderseite: aufgeklebte sw-Kopie (M01/NB 015) und ein bemaltes Klebeetikett (M02/NB 015)
Umfang: 180 Seiten; 196 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen
Paginierung: I, 1-180, I*
Verwendete Schreibstoffe: Fineliner (blau, schwarz, rot, grün), Bleistift, Kugelschreiber (rot, schwarz, blau, grün, violett), Filzstift (blau)
Zusätzlich beteiligte Schreiber*innen: /
Anmerkung: Bis ES. 62 ist die Schrift, v.a. die handschriftliche Paginierung, entlang der Spiralbindung im oberen Bereich der Seiten aufgrund von Nässeeinbruch unterschiedlich stark verwischt; auf den ersten Seiten ist die Paginierung nicht mehr lesbar.
Zeichnungen:
Eingeklebtes Material:
Beilagen (Faksimiles zeigen Vorder- und Rückseite):
Handkeonline: https://handkeonline.onb.ac.at/node/321
Anzahl der erfassten Entitäten: 483