Material
Eigentlich handelt es sich bei dem Notizbuch vielmehr um ein spiralgebundenes
orangefarbenes Notizheft im DIN A6-Format (7 x 10 cm), mit einem Umfang von 88
karierten Seiten. Es wurde von Peter Handke mit blauem und schwarzem
Kugelschreiber beschrieben und am unteren Seitenrand paginiert. Eine weitere mit
Bleistift vorgenommene Paginierung am oberen Seitenrand stammt vom
Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, wo das Original als Teil der
Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich aufbewahrt wird. Umschläge und Beilagen inkludiert, zählt die digitale Edition 93 Editionsseiten (ES.).
Auf den vorderen Umschlag schrieb Handke in großen Lettern “Ins tiefe Österreich”,
den Titel eines Romanprojekts, das in seiner intendierten Form allerdings nie realisiert
wurde; es ging in den zur Tetralogie zusammengefassten Werken Langsame Heimkehr
(1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Kindergeschichte (1981) und Über die
Dörfer (1981) sowie in der Erzählung Die Wiederholung (1986) auf. Das Notizbuch zählt
damit zu insgesamt acht Notizbüchern, die Handke am Umschlag oder Vorsatz diesem
Schreibprojekt zugeordnet hat.
Aufenthaltsorte: Reise durch Kärnten
Der erste Teil des Notizbuchs fällt in die Zeit einer insgesamt fast zweimonatigen
Österreichreise Peter Handkes, die er von Anfang Juli 1976 bis Ende August 1976
unternahm. Dokumentiert ist diese in vier Notizbüchern: Wie man am Ende von
Notizbuch 13.06.1976-04.07.1976 (NB 006) lesen kann, begann die Reise bereits am 3. Juli in
Kärnten, führte ihn dann (mit Notizbuch 05.07.1976-21.07.1976 (NB 007)) ins Mühl- und
Waldviertel und weiter bis nach Wien und retour nach Salzburg (vgl. Pektor
a). Die zweite Reiseetappe nach Westösterreich (Tirol und Vorarlberg) „und über
München zurück nach Salzburg, Kärnten und Italien“ (Pektor b) ist im Notizbuch
21.07.1976-10.09.1976 (NB W13) festgehalten. Die dort ausgesparten Tage von 9. bis 15.
August, in denen Handke durch Kärnten reiste, finden sich allerdings im vorliegenden
Notizbuch: Die eingetragenen Ortsnamen ergeben folgende Route “über die Dörfer”:
Ferlach, Zell-Pfarre, Stein im Jauntal, Abriach, Eberndorf, Globasnitz, Bleiburg, Aich, Lippitzbach, Lisnaberg, Griffen, Ruden, Gletschach, Haimburg, Völkermarkt, Abtei,
Hörtendorf und Karnburg. Handke notierte unterwegs kleine Alltagszenen und -
gespräche des ländlichen Lebens, beschrieb Landschaftsbilder und Stimmungen und
das Inventar vieler Kirchen, vor allem der seines Geburtsorts Griffen.
Historischer Kontext: Kärnten in den 1970er Jahren
Handkes Kärntenreise fällt in eine politisch aufgeladene Zeit: 1972 wurden mit dem
sogenannten Ortstafelgesetz gemäß Artikel 7 des Staatsvertrages 205 Ortschaften zum
Aufstellen zweisprachiger (slowenischer und deutscher) Ortstafeln verpflichtet (vgl.
Karner 2008, S. 141f.). Diese wurden im Zuge eines “Ortstafel-Sturms” im Herbst 1972
wieder demontiert (vgl. Reimann 2005, S. 141f.). Im Jahr von Handkes Reise 1976
schließlich folgte eine „geheime Erhebung der Muttersprache“, die wiederum von der
slowenischen Volksgruppe boykottiert wurde (vgl. Karner 2008, S. 143). Im selben Jahr
wurde das Volksgruppengesetz beschlossen, das mindestens 25% Slowen*innen als
Grundlage für „zweisprachige topographische Aufschriften“ festlegte (vgl. Karner 2008,
S. 144). Die Spannungen verschärften sich 1976 weiter, es kam zu zahlreichen
Demonstrationen und sogar Sprengstoffanschlägen.
Zitate aus der Kleinen Zeitung, die von Aufständen gegen die Denkmalweihe
in St. Kanzian am 8. August 1976 berichten, belegen eine Auseinandersetzung Handkes mit den aktuellen politischen Ereignissen. Das Notizbuch zeigt zudem Handkes
Aufmerksamkeit auf das Slowenische, die slowenische oder “windische" Sprache sowie sein
umfassendes Interesse an der
weiter zurückliegenden Thematik der Kärntner Slowen*innen und Partisan*innen, die
in seinem Werk auf unterschiedliche Weise immer wieder eine Rolle spielen: sehr
prominent und verbunden mit seiner Herkunftsgegend Kärnten etwa in der Erzählung
Die Wiederholung (1986) oder in seinem Theaterstück Immer noch Sturm (2010).
Aufenthaltsorte: Wohnungssuche in Paris
Der zweite Teil der Notizbuchaufzeichnungen aus dem Zeitraum von 7. bis 15.
September 1976 entstand während Peter Handkes Wohnungssuche in Paris und
Vororten wie Neuilly-sur-Seine, die von ausgiebigen Wanderungen begleitet wurden.
Noch vor Reisebeginn Ende Juni 1976 hatte Handke seine Pariser Wohnung am
Boulevard Montmorency aufgelöst und war ohne seine Tochter Amina zu seiner
Österreichreise aufgebrochen. Während dieser Zeit hatte er keinen festen Wohnsitz,
auf dem Vorsatzblatt des Notizbuches vermerkte er wohl deshalb als Kontaktadresse
die Adresse des Residenzverlages. Die neue Wohnung in der rue Cécile Dinant in
Clamart bezog er erst Anfang Oktober 1976 (vgl. Pektor c). Zuvor wohnte er mit
seiner Tochter Amina, deren Schule bereits im September startete, in einem Hotel in
Meudon.
Lektüren
Abgesehen von kleineren Zeitungszitaten findet man in diesem Notizbuch nur wenige
Hinweise auf Lektüren Handkes. So zitiert er drei Artikel aus der Kleinen Zeitung, die
sich mit einer Denkmalweihe und damit verbundenen Unruhen in St. Kanzian
beschäftigen (ES. 5ff., 26). In Paris notiert er eine Passage aus einem Interview mit dem Politiker Kurt Biedenkopf, das in Die Zeit erschienen ist (ES. 74f.). Außerdem
enthält das Notizbuch Zitate aus Antimémoires von André Malraux (ES. 70) und aus
dem Interview Autoportrait à soixante dix ans, das Michel Contat mit Jean-Paul Sartre
anlässlich dessen 70. Geburtstages 1975 führte (ES. 79). Ob seine Bemerkungen zu
Goethe (ES. 7 und ES. 60f.) und Doderer (ES. 76) mit einer Lektüre in Zusammenhang
stehen, kann nicht gesagt werden. Neben Lektüren notiert Handke auch Inschriften
von Grabsteinen (ES. 43) und Statuen (ES. 48).
Schreibprojekte
Inwiefern das Notizbuch Vorlage für Werke war, ist nicht Gegenstand der Edition, auf
der Website Handkeonline sind Informationen über mögliche Werkbezüge
nachzulesen (Pektor d): So wurde ein kleiner, stark überarbeiteter Teil der
Einträge in das Journal Das Gewicht der Welt (1977) übernommen. Einzelne Notizen,
besonders zu Stift Griffen, könnten in das dramatische Gedicht Über die Dörfer (1981)
eingeflossen sein – zumindest dürfte die Inspiration zum Titel von einer Notiz vom 7.
September 1976 stammen: „'Über die Dörfer' (Titel einer Geschichte)“ (ES. 63). Die
beschriebenen Gebiete spielen schließlich auch in der Erzählung Die Wiederholung
(1986) eine Rolle, ebenso einzelne Motive wie der Bildstockmaler.
Zeichnungen
Das Notizbuch enthält insgesamt 7 Zeichnungen und ein eingeklebtes Baum- oder
Strauchblatt (ES. 43). Die während seiner Reise durch Kärnten entstandenen
Zeichnungen zeigen u.a. den Kirchturm von Gletschach (ES. 52) sowie Details von
Bildern oder Skulpturen in Kirchen. In der seitenlangen Beschreibung von Stift Griffen
(ES. 41ff.) etwa skizziert Handke ein Bilddetail der 12. Kreuzwegstation (ES. 45), die
Lippenform einer Marienstatue (ES. 48) und eine abgeschnittene Brust auf einem
Teller, gehalten von der Hand einer Heiligen (ES. 47).
(Johanna Eigner)
Literaturverzeichnis
Pektor a = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten,
05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline, URL:
https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor b = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizblock, 82 Seiten,
21.07.1976 bis 10.09.1976. In: Handkeonline, URL:
https://handkeonline.onb.ac.at/node/284. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor c = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécile Dinant (1976-1978). In:
Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen:
21.11.2022.
Pektor d = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 88 Seiten,
09.08.1976 bis 15.09.1976. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/286. Online
abgerufen: 21.11.2022.
Karner, Stefan: Minderheitenproblematik in Kärnten. In: Karner, Stefan / Mikoletzky,
Lorenz (Hg.): Österreich. 90 Jahre Republik. Beitragsband der Ausstellung im
Parlament. Innsbruck / Wien / Bozen: StudienVerlag 2008, S. 139-151.
Reimann, Reinhard: Systematische Verhinderung? Die Politik gegenüber der
slowenischen Minderheit in den Siebzigerjahren. In: Karner, Stefan / Moritsch,
Andreas (Hg.): Aussiedlung – Verschleppung – nationaler Kampf. Karner, Stefan
(Hg.): Kärnten und die nationale Frage. Band 1. Klagenfurt / Ljubljana / Wien:
Verlag Johannes Heyn 2005, S. 133-159.
in der Pfarr- und ehemaligen Stiftskirche Mariae Himmelfahrt Pfarr- und ehemalige Stiftskirche Mariae Himmelfahrt (Stift Griffen) Maria Haslach
in Stift Griffen Stift Griffen Sankt Maria im Griffental
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