Material
Es handelt sich um einen 12 x 8 cm cm großen spiralgebundenen orangefarbenen Notizblock mit einem Umfang von 82 karierten
Seiten. Die Paginierung am oberen rechten Seitenrand stammt vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek,
wo das Original als Teil der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich aufbewahrt wird (ÖLA SPH/LW/W78). Den vorderen Umschlag
hat Handke mit der Aufschrift "Ins tiefe Österreich" versehen. Die Angaben zum Entstehungszeitraum der Einträge ("21.7.76-6.9.76.")
hat er auf dem vorderen Vorsatz des Notizblocks notiert (ES. 2); als Kontaktadresse ist jene des Salzburger Residenz Verlags
angegeben, außerdem befindet sich dort eine einzelne kurze Notiz, die auf den 10. September 1976 datiert (ebd.). Auf dem
hinteren Vorsatz notiert Handke Telefonnummern venezianischer Hotels (ES. 85). Dem Notizblock beigelegt ist ein Kalenderblatt
mit einer weiteren Adresse und einer Notiz (ES. 87f.).
Aufenthaltsorte
NB W13 dokumentiert vor allem den zweiten Teil einer Österreichreise Peter Handkes, die er von Anfang Juli 1976 bis Ende
August 1976 unternahm. Aufzeichnungen zu dieser Reise sind in drei Notizbüchern enthalten (NB 007, NB W 13 und NB W12).
Wie man den letzten Einträgen in NB 006 entnehmen kann, erreicht Handke am 3. Juli von Italien kommend Velden am Wörthersee,
von wo er am 5. Juli zunächst ins Mühl- und Waldviertel aufbricht und weiter bis nach Wien und von dort nach Salzburg fährt
(dokumentiert in NB 007, vgl. Pektor a). Seine Reiseroute führt dann nach Westösterreich (Tirol und Vorarlberg) "und über
München zurück nach Salzburg, Kärnten und Italien" (Pektor b): Diese zweite Etappe ist im vorliegenden Notizbuch festgehalten.
Die Aufzeichnungen starten in Innsbruck (ES. 3).
Am 22. Juli fährt Handke von Tirol nach Vorarlberg und hält sich in Feldkirch (ES. 3) und Dornbirn auf, wo er die Stadtpfarrkirche
St. Martin besucht (ES. 5). Am 23. Juli reist er über Innsbruck nach München. Er holt dort, wie er in einer Postkarte an Hermann Lenz
angekündigt hatte, Amina Handke und Libgart Schwarz, die aus Florenz kamen, vom Zug ab (vgl. Handke / Lenz 2006, S. 101). Im Anschluss
an einen Aufenthalt bei Hanne und Hermann Lenz fährt Handke gemeinsam mit seiner Tochter weiter nach Salzburg, wo er seinen Verleger
Wolfgang Schaffler (ES. 28-30) und seinen Freund Hans Widrich (ES. 30) traf (vgl. Pektor a). Am 6. August 1976 reist er schließlich
von Salzburg weiter nach Kärnten (ES. 36) und besucht in Klagenfurt das Landesmuseum (ES. 38) und wahrscheinlich seine Schwester
Monika (vgl. Pektor b). Am 9. August brechen die Aufzeichnungen plötzlich ab und werden erst einige Tage später fortgesetzt. Notizen,
die in der Zwischenzeit während einer Reise durch Kärnten entstanden, sind in NB W12 enthalten. Am 14. August befand sich Handke für
drei Tage in Venedig (Hotel Gritti). Während dieses Aufenthalts besichtigte er unter anderem die Basilica di San Giorgio Maggiore und
die Basilica di Santa Maria Assunta auf Torcello. Auf seiner Rückreise nach Paris machte er noch von 18.-22. August einen Zwischenstopp
in Frankfurt am Main, wo er Siegfried Unseld und dessen Sohn Joachim traf (vgl. Pektor b).
Die weiteren Aufenthaltsorte und -daten lassen sich aus den Notizen nur schwer rekonstruieren; aus einer Notiz vom 26. August geht hervor,
dass sich Handke wieder in Paris aufhielt und dort auf Wohnungssuche war: "Den ganzen Tag mit Raffzähnen zusammen (Maklern): endlich geht
man ins Kino, wo man sich wieder kompetent fühlt" (ES. 73). Wo er in diesen Tagen mit seiner Tochter gewohnt hat, bleibt unklar, das
Apartment am Boulevard de Montmorency in Paris Auteuil hatte er Ende Juni aufgegeben, bevor er auf Reisen ging (vgl. Kepplinger-Prinz).
Ende August dürfte er sich wieder in Deutschland aufgehalten haben, jedenfalls legen das einzelne Notizen nahe, etwa diese Einträge
vom 29. August: "Schallendes Gelächter im Wald, das deutsche Gelächter im Buchenwald" (ES. 75) sowie: "Stimmen im Wald, die immer
fremdsprachig erscheinen (französisch od. englisch), dabei sprechen die Leute natürlich deutsch" (ES. 76). Nur sehr vage thematisiert
Handke eine Brandkatastrophe, die er während eines Besuchs bei seinem Freund Nicolas Born in Langendorf (Elbe) miterlebte:
Am 3. September ging Borns Bauernhaus in Flammen auf (vgl. Kremp 1994, S. 374). Unter dem Datum des 4. bzw. 5. September hielt
Handke folgende Einträge fest: "Wenn nach der Katastrophe die Alltäglichkeit wieder einsetzt und die öde Langeweile des Alltags
einen erfaßt, verstärkt durch die alltäglich gewordene Katastrophe; besondere, tiefe Langeweile nach der Katastrophe" (ES. 81f.);
"Wie klein mir N. vorkam, als er gestern abend plötzlich draußen vor der offenen Tür stand, und wie schief heute morgen auf der
Treppe, als gäbe es eine neue Katastrophe" (ES. 83). Handke erinnert sich noch 1988 in einem Gespräch mit André Müller an dieses
Ereignis: "Dazu fällt mir ein Erlebnis ein, als das Haus meines Freundes Nicolas Born an der Elbe brannte. Das war vor zwölf Jahren.
Ich war dort zu Besuch und sollte einen Ziegenbock aus der Scheune retten, obwohl schon überall Flammen waren. Dieser Moment geht mir
nicht aus dem Kopf. Ich zog den Bock, aber er kam nicht heraus. Als ich aus Angst vor dem Feuer, von dem ich umkreist war, schon
aufgeben wollte, befreite er sich plötzlich von selbst. Im nachhinein wurde gesagt, ich sei mutig gewesen, was mich beschämt hat,
weil es nicht stimmte. Ich glaube, ich wäre zu feige, um für einen anderen mein Leben aufs Spiel zu setzen." (Handke / Müller 1989, S. 79).
Nach diesem Aufenthalt in Deutschland kehrte Handke nach Paris zurück, um die Wohnungssuche fortzusetzen, wie aus den Aufzeichnungen
ab dem 7. September in NB W12 hervorgeht.
Themen
Während die meisten Notizen im Vorgängernotizbuch (NB 007 eine negative Haltung gegenüber Österreich erkennen lassen, scheint sich
Handkes Verhältnis zu seinem Herkunftsland ein wenig zu entspannen, während er den Westen und Süden Österreichs bereist, was jedoch
nicht bedeutet, dass es unproblematisch wird, "in dieser grünen Hölle Ö." (ES. 41) unterwegs zu sein. Angesichts eines Hauses an
einem Bahndamm im Morgengrauen in der Nähe von Innsbruck bekommt Handke jedoch "erstmals seit langem wieder ein Gefühl von
tiefem Ö." (ES. 14), wie er am 23. Juli festhält. Nach einer rund dreiwöchigen Trennung – Amina Handke war in dieser Zeit mit
ihrer Mutter Libgart Schwarz in Italien – sah er am Tag darauf seine Tochter wieder; ihre Abwesenheit war Handke nicht leichtgefallen.
Die Sorge um Amina hatte ihn auf Reisen begleitet: "Meine bange Freude, an A. denkend, aber doch Freude, endlich wieder [...] Universum,
zerstreutes, zieh dich zusammen und kümmere dich um mein Kind! (mein Liebstes)” (ES. 7). Am 24. Juli kommt es am Bahnhof in München
schließlich zum Wiedersehen: "Der Anblick von A. am Morgen, nach 3 Wochen, gekuschelt in die Decke des Schlafwagenabteils: wie der
eines auferstandenen Kindes" (ES. 16).
Wohl im Rückblick auf das Zusammensein mit Freunden und Bekannten (u.a. mit dem Ehepaar Schaffler und Gerhard Roth, vgl.
NB 007
)
in Salzburg und Tamsweg beschäftigte Handke die von ihm empfundene Spannung zwischen Allein-Sein-Wollen und Gesellschaft-Brauchen.
Einer der ersten Einträge kreist um diese widersprüchlichen Bedürfnisse: "Seine finstere, begehrliche, hoffnungslose Verlassenheit;
sein Herumstreichen, Herumstreunen, und dann in Gesellschaft doch immer wieder das unheimliche Behagen bei der Vorstellung, bald wieder
allein zu sein" (ES. 6) – bezeichnenderweise schreibt Handke zuerst: "immer wieder das unheimliche Behagen bei der Vorstellung, bald
wieder in Gesellschaft zu sein" und korrigiert die Stelle dann. Mit der Rückkehr seiner Tochter, "bekamen die Dinge, wenigstens
episodisch, wieder einen Sinn", wie es auf Editionsseite 18 heißt. Handke dürfte mit Amina einige Tage bei Hanne und Hermann Lenz
verbracht haben; dass auch das Zusammensein mit ihr zeitweise von widersprüchlichen Gefühlen beherrscht wird, geht aus einem
Eintrag vom 31. Juli hervor: "Ich war allein mit A., seit langem wieder, und am langen Nachmittag nahte schon wieder der schreiende
Wahnsinn." (ES. 29).
Lektüren
Auf seiner Reise durch Kärnten besuchte Handke das Landesmuseum. Er interessierte sich vor allem für die lokale Geologie,
wahrscheinlich schrieb er Ausstellungstexte zu einzelnen Exponaten ab (vgl. ES. 38f.). Im Notizblock finden sich außerdem
mehrere Zitate aus Goethes Italienischer Reise (ES. 8, 40f.). Dieses Werk beschäftigte ihn immer wieder: Zum Beispiel
reflektierte Handke, wie die Zeitumstände und Lebensbedingungen Goethes mit seiner Wahrnehmungsweise zusammenhingen,
und verglich diese mit seiner eigenen Situation als Schriftsteller. Am 3. August notierte er: "Goethe, der von allem
das Material weiß und davon einen 'Vorsprung in der Kunst' hat (und ich mit meiner Schwierigkeit, selbst den Stuckschmuck
in der Kollegienkirche zu erkennen)." (ES. 33); am 8. August notiert er: "Was sind an der Kunststofftischplatte, am
Kunststoffußboden etc. an Materialien zu vergewissern wie Goethe es tat?" (ES. 49). Ein paar Tage später in Venedig
bemerkte er : "Goethe hat noch versucht, diese Gesänge der Gondolieri zu verstehen, ich will sie gar nicht mehr
verstehen" (ES. 51). Ein weiteres Goethe-Zitat betrifft den Zusammenhang von Schauplatz und Handlung in der
Kunst: "'Mit dem, was man klassischen Boden nennt, hat es eine andere Bewandtnis. Wenn man hier nicht phantastisch
verfährt, sondern die Gegend real nimmt, wie sie daliegt, so ist sie doch immer der entscheidende Schauplatz, der
die größten Taten bedingt, und so habe ich immer bisher den geologischen und landschaftlichen Blick benutzt, um
Einbildungskraft und Empfindung zu unterdrücken und mir ein freies, klares Anschauen der Lokalität zu erhalten.
Da schließt sich denn auf eine wundersame Weise die Geschichte lebendig an, und man begreift nicht, wie einem
geschieht, und ich fühle die größte Sehnsucht, den Tacitus in Rom zu lesen' (Dem G. ging es gut)" (ES. 40f.).
Handke merkt dazu resigniert an: "Ja, aber die Empfindungen und die Einbildungskraft kann man wirklich nur
vermeiden in einer 'klassischen Landschaft', nicht aber in dieser grünen Hölle Ö." (ES. 41) und notiert
schließlich: "Als ob die Weltkriege unsereinem das Allgefallen Goethes ein für allemal verleidet hätten" (ES. 45).
Während seines Aufenthalts in München besuchte Handke die Alte Pinakothek und hielt seine Eindrücke beim Betrachten von
Gemälden Ludwig Refingers, Albrecht Altdorfers, Hans Holbeins (d. Ä.), Matthias Grünewalds, Lucas Cranachs (d. Ä.),
Hieronymus Boschs und Hans Memlings, (ES. 14f.) fest. In Venedig sah er Jacopo Tintorettos Kreuzabnahme sowie
Das letzte Abendmahl in der Basilica di San Giorgio Maggiore. In der Basilica di Santa Maria Assunta auf Torcello
zeichnete er Details der Mosaike ab (ES. 57f.). Außerdem besuchte Handke während seines Aufenthalts in Venedig eine
Architekturausstellung (ES. 55). Der Notizblock enthält einen Hinweis auf Walter Benjamins Essay Essen (ES. 74),
Notizen zu Kafka (ES. 70) und Yasujirō Ozu (ES. 78) sowie Zitate aus einem Interview mit Helmut Kohl aus dem ZEITmagazin (ES. 63).
Schreibprojekte
NB W13 ist dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zugeordnet, das später in der Tetralogie Langsame Heimkehr (1979-1981)
aufging (vgl. Pektor b). Vereinzelt finden sich darin Notizen zum Protagonisten von Handkes gleichnamiger Erzählung
Langsame Heimkehr (1979), Valentin Sorger (ES. 36, ES. 47). Teile der in Kärnten entstandenen Aufzeichnungen könnte
er für sein Theaterstück Über die Dörfer (1981) oder seine Erzählung Die Wiederholung (1986) verwendet haben (vgl. Pektor b).
Einige der Notizen übernahm Handke in die Journalbände Das Gewicht der Welt (1977) und Die Geschichte des Bleistifts (1982).
Zeichnungen
Der vorliegende Notizblock enthält sieben Zeichnungen. Bei den Zeichnungen, die Peter Handke zugeschrieben werden können,
handelt es sich um Details, die auf Reisebeobachtungen beruhen. So zeichnete er ein Kirchenfenster der Dornbirner
Kirche (Z01/NB W13, ES. 5) und hielt in Venedig in der Basilica di Santa Maria Assunta Details des Mosaiks Das jüngste Gericht
(Z05/NB W13, ES. 57) fest. Ebenfalls in Venedig entstanden ist die Zeichnung eines Zeitungsständers mit Kaffeetasse, die
Handke anfertigte, während er das Frühstück einer Matrone in einer dem Hotel Gritti gegenüberliegenden Wohnung beobachtete
(Z06/NB W13, ES. 60).
Literaturverzeichnis
Handke / Müller 1989 = Handke, Peter / Müller, André: "Wer einmal versagt im Schreiben, hat für immer versagt". André Müller im Gespräch mit Peter Handke. In: Die Zeit, Nr. 10, 3. März 1989, S. 77-79.
Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard Montmorency (1973–1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023.
Kremp 1994 = Kremp, Jörg-Werner: "Inmitten gehen wir nebenher". Nicolas Born. Biographie, Bibliographie, Interpretation. Stuttgart [u.a.]: Metzler 1994.
Pektor a = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizbuch, 96 Seiten, 05.07.1976 bis 21.07.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/282. Online abgerufen: 19.11.2022.
Pektor b = Pektor, Katharina: Ins tiefe Österreich. Notizblock, 82 Seiten, 21.07.1976 bis 10.09.1976. In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/284. Online abgerufen: 19.11.2022.