Notizbuch 16.09.1976-03.11.1976 (NB 008) NB 008 Handke Peter Handschriftliche Einträge Handke Amina eine nicht identifizierte Person Bernhard Fetz von Bülow Ulrich Eigner Johanna Estermann Anna Hannesschläger Vanessa Pektor Katharina Mitarbeit Denk Dominik Stix Anja Übersetzung französischer Textstellen Moysich Helmut Übersetzung lateinischer Textstellen Weber Dorothea Übersetzung spanischer Textstellen Montané Forasté Anna Datenmodellierung Bürgermeister Martina Fritze Christiane Steindl Christoph Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF I 4708 internationale Projekte Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG 435049492 Version 1 Austrian National Library ÖNB Josefsplatz 1 1015 Vienna Austria German Literature Archive Marbach DLA Schillerhöhe 8-10 71672 Marbach am Neckar Germany Vienna, Austria Marbach am Neckar, Germany Distributed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License (CC BY-NC-ND 4.0) o:hnb.nb.197609-197611 Marbach am Neckar, Deutschland Deutsches Literaturarchiv Marbach Archiv A:Handke, Peter HS.2007.0010.00008 Notizbuch 008: September – November 1976 HS005543939 HS00554393 Die Aufzeichnungen in Notizbuch 16.09.1976-03.11.1976 (NB 008) entstanden zum größten Teil in Paris. Am 1. Oktober zog Peter Handke gemeinsam mit seiner Tochter in ein Haus im Pariser Vorort Clamart. Davor lebten die beiden für ca. zwei Wochen in einem Hotel in Meudon, das in der Nähe von Aminas neuer Schule lag, die bereits am 20. September begann. Die Einträge in der ersten Notizbuchhälfte behandeln u.a. die Schulangst seiner Tochter, den Alltag im Hotel, schließlich das vorübergehende Zusammenleben mit der Eigentümerfamilie des Hauses in der rue Cécille-Dinant, die erst am 10. Oktober auszog. In der zweiten Hälfte kreisen die Einträge verstärkt um seine Ängste und um das Alleinsein. Viele Notizen beschäftigen sich außerdem mit (bürgerlichen) Formen des sozialen Handelns. Der am Vorsatz notierte Arbeitstitel "Ins tiefe Österreich" wurde von Handke durchgestrichen und durch "Phantasien der Ziellosigkeit" ersetzt: mit diesem Titel sollten fortan "all die Materialien seit 1975" bezeichnet werden; Handke verlagert also seine Aufmerksamkeit vom Schreibprojekt, für das die Notizen eigentlich Material liefern sollten, auf die Notizen selbst. Material Das hellgrüne, spiralgebundene Notizbuch der Marke Clairefontaine (14 x 8,7 cm) befindet sich im Original am Deutschen Literaturarchiv Marbach und in Kopie in der Sammlung Peter Handke/Leihgabe Widrich am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Auf der Vorderseite des Umschlags klebt ein quadratischer Werbesticker, das Markenlogo steht auf dem Kopf (Peter Handke hat das Notizbuch verkehrt herum verwendet, das Beschriftungsfeld befindet sich auf der Rückseite). Auf dem vorderen Umschlag klebte ursprünglich ein Datumszettel mit Handkes Datierung des Notizbuchs ("Sept. – Okt. 1976"); er ist nach Anfertigung der Scans abgefallen und liegt dem Original nun bei. Das Notizbuch umfasst 178 karierte Seiten, die von Handke in den linken bzw. rechten unteren Ecken paginiert wurden. Auf die Innenseite des vorderen Umschlags notierte er Namen, Adressen und Telefonnummern sowie die Titel von Arbeitsprojekten, auf der Innenseite des hinteren Umschlags befindet sich eine Zeichnung von Amina Handke. Auf den Editionsseiten 178 und 179 hat Handke nicht nur Notizen aufgeschrieben, er verwendete sie auch für diverse Adressen und Telefonnummern. Auf der letzten Seite (ES. 180) finden sich zudem Notizen zu seiner Rezension von Nicolas Borns Roman Die erdabgewandte Seite der Geschichte; über die Schrift auf dieser Seite hat Handke ein dichtes Netz aus roten und schwarzen Linien gezeichnet. Aufenthaltsorte Handke unternimmt Mitte September eine Reise, die sich mit Angaben im vorliegenden Notizbuch nur indirekt erschließen lässt. Aber im Vorgängernotizbuch ( NB W12 ) gibt es in einer Notiz vom 15. September einen Hinweis darauf: "1000 km fliegen, nur um ein paar bekannte Leute mein ruhiges, trauriges Gesicht sehen zu lassen, als Beweis für was, und um meinerseits in ihre Augen zu schauen" (NB W12, ES. 88). Es handelte sich um eine "Lesung" bzw. einen "Vortrag" am 17. September (NB 008, ES. 7), wobei unklar ist, wo er stattfand und ob Handke als Lesender oder als Zuhörer daran teilnahm. Handke reiste jedenfalls am 16. September mit dem Flugzeug zu der Veranstaltung (ES. 4-9) und war am 20. September zurück in Frankreich (Meudon). Danach dürfte er sich ausschließlich in Paris aufgehalten haben. Nachdem er in den Sommermonaten auf Reisen gewesen war, hatte sich Handke seit Ende August nach einer neuen Unterkunft umgesehen und nach mehrwöchiger Suche für sich und seine Tochter Amina ein Haus im Pariser Vorort Clamart gefunden (die Wohnungssuche ist vor allem in NB W12 dokumentiert, vgl. auch Pektor c). Der Einzug in das Haus in der rue Cécille-Dinant war für 1. Oktober geplant, der Unterricht an Aminas neuer Schule im Nachbarort Meudon begann jedoch bereits am 20. September. Aus diesem Grund wohnten Handke und seine Tochter für einige Zeit in einem nahe der Schule gelegenen Hotel, wie er Hermann Lenz in einem Brief vom 30. September 1976 schreibt: "[U]nd auch ein Blatt Papier war zur Hand, obwohl ich seit über 10 Tagen im Hotel wohne, etwas außerhalb von Paris, in einer Buchenallee, wo man auf Paris hinunterschauen kann wie auf einen Haufen glühender Kohlen am Abend. Amina geht hier (in Meudon) seit ein paar Tagen zur Schule, die aber eher zum Glück wie eine große Villa ausschaut, mit einem Garten dahinter, und vielen Büschen und Gebäum". (Handke/Lenz 2006, S. 101f.). Wahrscheinlich handelt es sich um das Hotel "La Martinière", das sich zum damaligen Zeitpunkt an der Adresse 38, Avenue de Château in Bellevue-Meudon befand; dieser Name ist Teil einer Liste mit Aufenthaltsorten am vorderen Vorsatz des Notizbuchs (ES. 2). Ab 1. Oktober lebte Handke mit seiner Tochter in dem Haus in Clamart. An Hermann Lenz schreibt er am 30. September 1976: "[N]ur jetzt, die ersten 10 Tage, wird da noch ein jüdisches Ehepaar mit 2 Kindern mitwohnen, im 2. Stock, die Eigentümer, die dann als Lehrer in den Senegal gehen. Ich bin ein bißchen beklommen, wie das gehen wird, 10 Tage mit fremden Leuten. In ein paar Tagen werden sie, wie der Mann mich warnte, Jom Kippur begehen, fastend in den oberen Räumen. Nun, ich werde auch nichts kochen, schon, um sie nicht zu reizen." (Handke / Lenz 2006, S. 102, vgl. auch Pektor c) Aus den Einträgen geht hervor, dass sich Handke in dieser Wohnsituation nicht wohl fühlte (vgl. ES. 62). Themen Kurz nach dem Auszug der Eigentümerfamilie begann Peter Handke unter diffusen Ängsten zu leiden (vgl. ES. 62, 84, 90f. und passim). Katharina Pektor verweist auf das Prosawerk Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), in dem er diese Zeit rückblickend literarisch verarbeitete: "Die ersten Abende in dem Haus draußen im Vorort, außerhalb der Mauern, bemächtigte sich meiner freilich eine Bangigkeit, wie sie eher in die Kindheit gehörte, wenn da einer der Hausgenossen, auch nur wenig über die Zeit, abwesend war. Hier jetzt bekam ich diese Zustände, obwohl alle da waren. Ich räumte die fremden Gegenstände weg oder schob sie, wie die afrikanischen Maskenfiguren, zusammen in eine Ecke, schaltete in sämtlichen Räumen bei der ersten Dämmerung die Lichter ein, hatte Angst, hinunter in die vielverzweigten Keller zu gehen […], sägte mit Heftigkeit, über den Bedarf hinaus, Holz in der hintersten Gartenecke und machte an jenen lauen Septemberabenden Feuer in dem Kamin, und […] wurde […] müde und reizbar, ertrug mein […] gebanntes Nichtstun nicht." (MJN, S. 299, vgl. Pektor c). Im Notizbuch ist indessen nachzulesen, dass Handke weit mehr als eine "Bangigkeit" befiel, als seine Tochter einmal länger als erwartet abwesend war. In einer ganzen Reihe von Einträgen versuchte er nach dem Erlebnis die nackte Panik zu beschreiben, die ihn überfallen hatte, als Amina statt um 16 Uhr erst um 20 Uhr nachhause kam (vgl. ES. 110-126). Neben dem Motiv der Angst wird das von Handke als problematisch erfahrene Alleinsein im Notizbuch an vielen Stellen thematisiert. In einem Eintrag vom 11. Oktober beschreibt er die "Katastrophe des Alleinseins" (ES. 176) als belastend und mit Gefühlen der Schuld verbunden: "Nach Monaten immer in Gesellschaft, oder, wenn allein, dann unterwegs: wieder wie üblich vergessen, wie lastend, nervös machend, gelinde gesagt, das Alleinleben ist; das Gefühl der Schwerhörigkeit am Tag, das Gefühl der Hellhörigkeit bei Nacht; Gespensterseherei Tag und Nacht; das Schuldgefühl des Alleinseins; trotz Lesens, Schauens, Arbeitens, Musikhörens, wie damals oft in der Studentenzeit, die Vorstellung, nichts zu erleben, müßig und dumm und faul außerhalb des Laufs der Dinge zu vegetieren" (ES. 84f.). Aminas Wechsel auf eine Privatschule in Meudon bringt für Handke den Kontakt zu den bürgerlichen Eltern der Mitschüler*innen mit sich. Immer wieder reflektiert er habituelle Unterschiede und Gefühle der fehlenden (sozialen) Passung im Umgang mit ihnen: "Beim Kinderfest mit den 'liebenswürdigen', routinierten, ihr Lebens-Spiel absolvierenden bürgerlichen Frauen im Garten: das alte Gefühl meiner Beflissenheit in solcher Gesellschaft, und doch des immer falschen Handelns, unnötigen Zugreifens, gezwungenen Freundlichseins zu diesen Fremden und ihren noch fremderen Kindern, die da z.B. im Garten aufeinandersitzen und feindselig still und starr zueinander sich verhalten, immer wieder zwischendurch bei ihren Schieß- und Kampfspielen; wo wieder mein altes Gefühl (Nichtgefühl), einer unteren Schicht anzugehören, durchbricht, ein unstatthafter Emporkömmling aus KEINEM Milieu zu sein" (ES. 44). Handkes Sensorium für Formen und Funktionen des sozialen Handelns zeigt sich in Notizen wie dieser: "Die Absurdität für mich: mich plötzlich antreffen in einem Salon mit versierten umgangsfreudigen, meinetwegen 'großbürgerlichen' (?) Frauen, die alle Formen des Nebenbei vollkommen beherrschen: eine, deren Mutter Polin war, bereitete ein 'œuf à la Polonaise', und als, während ich zuschaute, ein Kind nichtsahnend dazwischentrat, zog die Frau das Kind wie zärtlich an sich (in Wahrheit zur Seite), damit ich weiter die Zubereitung des polnischen Eies verfolgen könnte; später, im SALON, in mir reglose Heiterkeit bei dem Gedanken, daß gerade ich, durch mein Kind, immer wieder in eine solche sogar meine A&Ω-Eigenheit, die Neugier, sofort abschneidende Gesellschaft (mehr Sippschaft) hineingewürfelt werde, eine winzige Alltags-Tragödie nebst freudlosem Lachen des Beteiligten; Vorstellungen, in ihre Gespräche hineinzufurzen; und als ich dann endlich unten aus der Haustür trat, habe ich wirklich sofort gegen den Sockel gepinkelt, mit großer Freude" (ES. 169f.). Lektüren NB 008 enthält zahlreiche Lektürespuren. So zitiert Peter Handke viele Passagen aus den Romanen Die Strudlhofstiege von Heimito von Doderer und Stolz und Vorurteil von Jane Austen sowie auch Stellen aus Goethes Italienischer Reise. Er äußert sich zu Walter Benjamins Denkbild Moskau und notiert auf der letzten Notizbuchseite Gedankenfragmente zu seiner Lektüre von Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte. Handke rezensierte den Debütroman seines Freundes; der Text erschien am 8. Oktober 1976 unter dem Titel Gegen den tiefen Schlaf in der Wochenzeitung Die Zeit. Am 11. Oktober kommentiert Handke Marcel Reich-Ranickis Verriss seiner Erzählung Die linkshändige Frau, auf den er mit "Fassungslosigkeit" und schließlich mit "Wut" reagiert habe, wie er schreibt (ES. 87f.). Das vorliegende Notizbuch enthält außerdem Zitate aus Artikeln von Walter Jens, Klaus Harpprecht und Wolf Biermann aus der Wochenzeitung Die Zeit bzw. dem Magazin Der Spiegel. Einen Satz aus Erwin Panofskys Essay Et in arcadia ego invertiert Handke in einer Notiz auf Editionsseite 132: "Der Tod: 'Et in arcadia ego' Panofsky: 'Was eine Bedrohung war, ist zu einer Erinnerung geworden.' ‒ Was eine Erinnerung war, ist wieder zu einer Bedrohung geworden." Schreibprojekte Viele der in NB 008 festgehaltenen Notizen wurden (zum Teil in überarbeiteter Form) in Peter Handkes erstem Journalband Das Gewicht der Welt (1977) publiziert. Während er die meisten Vorgängernotizbücher dem Schreibprojekt "Ins tiefe Österreich" zuordnete, streicht er diesen bereits notierten Arbeitstitel auf dem Vorsatzblatt wieder und ersetzt ihn durch "Phantasien der Ziellosigkeit" der fortan als "Titel für all die Materialien seit 1975" fungieren sollte, wie Handke anmerkt (vgl. ES. 2; siehe auch ES. 139, wo er Varianten dieser neuen Formulierung erprobt). Die Einführung dieses alternativen Titels markiert eine merkliche Verschiebung seiner Aufmerksamkeit vom geplanten Romanprojekt auf das Notiz-Material selbst, d.h. auf eine ihm "bis dahin unbekannte[] literarische[] Möglichkeit" (DGW, S. 5, vgl. dazu auch den in Pektor b, S. 125, abgedruckten Brief des Autors vom 18. November 1976 an den Verleger Wolfgang Schaffler). Handke nennt den neuen Titel auch im Nachfolgenotizbuch (NB 009, allerdings führt er dort auf dem Vorsatzblatt auch wieder den ursprünglichen Projekttitel "Ins tiefe Österreich" an (NB 009, ES. 2). In einem Eintrag auf Editionsseite 98 erwähnt Handke den Titel "Über die Dörfer" und entwirft eine Gliederung des Stücks: "ÜBER DIE DÖRFER (Theaterstück in 5 Abschnitten, Kapiteln): Großstadt / Autobahncafé / Dorf / Autobahncafé / Großstadt)". Bei dieser Ideenskizze zum 1981 in Salzburg uraufgeführten Stück handelt es sich wie auch bei anderen vereinzelten frühen Notizen dieser Art (vgl. NB 002, ES. 3 und NB W 12, ES. 63) jedoch noch nicht um "systematische Projektnotizen", wie Katharina Pektor anmerkt: "Den Notizbuchaufzeichnungen nach zu schließen, müsste die Entwicklung von Über die Dörfer in der kurzen Zeitspanne von Sommer 1979 bis Sommer 1980 stattgefunden haben" (Pektor b). Zeichnungen Das Notizbuch enthält lediglich drei Zeichnungen Peter Handkes: durch kleine Pfeile und Punkte angedeutete "Pupillenbewegungen" (Z02/NB 008, ES. 64) sowie das Detail einer Balkonverzierung (Z03/NB 008, ES. 115) und ein nicht eindeutig identifizierbares Motiv (ev. drei Glocken, Z08/NB 008, ES. 180), außerdem eine Reihe von Zeichnungen, deren Urheber*innen nicht eindeutig identifiziert werden konnten; ein Teil dieser Zeichnungen dürfte von Handkes Tochter Amina stammen. Literaturverzeichnis Handke / Lenz 2006 = Handke, Peter / Lenz, Hermann: Berichterstatter des Tages. Briefwechsel. Hg. und mit einem Nachwort von Helmut Böttiger, Charlotte Brombach und Ulrich Rüdenauer. Mit einem Essay von Peter Hamm. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel 2006. MJN = Handke, Peter: Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Kepplinger-Prinz, Christoph: Paris Auteuil, 77 Boulevard de Montmorency (1973–1976). In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1570. Online abgerufen: 02.10.2023. Pektor a = Pektor, Katharina: Peter Handke. Dauerausstellung Stift Griffen. Salzburg/Wien: Jung und Jung 2017. Pektor b = Pektor, Katharina: Entstehungskontext [ÜD]. In: Handkeonline. URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/602. Online abgerufen: 13.07.2023. Pektor c = Pektor, Katharina: Clamart, 53 rue Cécille-Dinant (1976-1978). In: Handkeonline, URL: https://handkeonline.onb.ac.at/node/1567. Online abgerufen: 21.11.2022. 14 8,7 Notizbuch (Marke Clairefontaine), kariert, Spiralbindung Kugelschreiber (blau, schwarz), Fineliner (schwarz, rot, blau, braun), Bleistift 178 Seiten; 184 Faksimiles (Editionsseiten) inklusive Umschlag, Vorsatz und Beilagen I, 1-178, I* Peter Handke hat das Notizbuch verkehrt herum beschrieben, sodass die Rückseite die Vorderseite ist. Nach Anfertigung der Scans ist der aufgeklebte Datumszettel abgefallen und liegt dem Original nun bei. Von Peter Handke mit der Hand geschrieben oder gezeichnet. Von Amina Handke mit der Hand geschrieben oder gezeichnet. Von einer nicht identifizierten Person mit der Hand geschrieben oder gezeichnet. Hellgrüner Kartonumschlag (Leinenoptik); Vorderseite: Markenlogo, aufgeklebter Werbesticker (M01/NB 008) und eh. Datumszettel (Kugelschreiber: blau) (M02/NB 008); Rückseite: weißes Beschriftungsfeld und Markenlogo [vollständige Notizbuchkopie] Peter Handke: Notizbuch [kopiert und gebunden]. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturarchiv, Sammlung Peter Handke / Leihgabe Widrich. ÖLA SPH/LW/W80. Wien, Österreich Österreichische Nationalbibliothek Literaturarchiv Sammlung Peter Handke / Leihgabe Widrich ÖLA SPH/LW/W80 Es handelt sich um eine gebundene Kopie des Originals. Notizbuch (Spiralbindung), kopiert und gebunden (»Notizen 16.9.-3.11.1976«) 90 Blatt, fol. 1-90 A4 (quer) schwarz-weiß [Notizbuchbeschreibung] Katharina Pektor: Phantasien der Ziellosigkeit. Notizbuch, 178 Seiten, 16.09.1976 bis 03.11.1976. In: Handkeonline, https://handkeonline.onb.ac.at/node/288. 288 m mit Geminationsstrich Die Bedeutung des Zeichens ist unklar, evtl. Einfügungszeichen oder Markierung Import of facsimiles to Transkribus Transcription and basic markup (unclear, add, del, gap and basic hi) in Transkribus Transcription correction in Transkribus Export from Transkribus to TEI-XML Addition of teiHeader Creation of items for all additions in back including objectName and desc and note Addition of figures, including figDescs, labels, head, note Tagging of @style="transform:rotateZ(xxdeg)" Tagging of addresses Tagging of fw @type="pageNum" + @resp="#" + @rend="color:x" Tagging of inventory numbersfw Tagging of date Tagging of hi @rend="allcaps:true" Tagging of rs @type="person" Tagging of rs @type="place" Tagging of rs @type="work" Tagging of handShift @rend="color:x" + scribeRef Tagging of different underlinings hi + @rend="color:x" Addition of add-positions, unclear and gap-reasons Tagging of q and quote Tagging of pc @type="single" Tagging of seg @type="note" Tagging of seg @rend + @rend="color:x" Tagging of abbr Tagging of abbr @type="DEK" Tagging of abbreviations of entities + addition of cert in rs Tagging of foreign Tagging of metamarks and note markings Addition of metamark arrows and lines Changing metamark @type single into g Addition of xml:ids for foreign + metamark Addition of foreign text passages to commentaries Identification and linking of rs @type="person", @type="place", @type="work" Deletion of item @type="archival-notice" Tagging of titles Tagging of terms Addition of terms to commentaries Addition of anchors Identification and linking of quote (where possible) Addition of summary Collating of text Deletion of standardized abbreviations Addition of supplied, including @resp and @cert Text editing (sic-corr, supplied) Tagging of seg @type="dating" Tagging of seg @type="image-desc" Tagging of seg @type="placelist" Tagging of seg @rend="block:true" File transformation: deletion of p elements automatically exported from Transkribus, replaced by div containing ab File transformation: deletion of excess information in hi-@rend atrributes from Transkribus export Werbesticker schematische Darstellung einer alten Frau, mit Blume im Herzen Frankreichs sitzend kleiner quadratischer Sticker mit aufgedruckter Schrift und aufgedrucktem Bild auf dem Material (grün, rot) Es handelt sich um Werbematerial für den "Nationalen Tag der Senior*innen". JOURNEE NATIONALE DES PERSONNES AGEES GUYOMARD Datumszettel mit Entstehungszeitraum der Notizen kleiner rechteckiger Papierstreifen mit eh. Schrift auf dem Material (Kugelschreiber: blau) Es handelt sich um einen von Peter Handke nachträglich zur Sortierung auf die Umschläge aller Notizbücher geklebten Zettel; dieser ist nach Anfertigung der Scans abgefallen und liegt dem Original bei. Sept. – Okt. 1976 16.9.76 Neuilly, Frankfurt, Meudon " La Martinière ", Clamart (ab 1.10.) "PHANTASIEN DER ZIEL¬ LOSIGKEIT" (Titel!) Peter Handke 53, rue Cécille Dinant 92140 CLAMART Frankreich Tel. 645 79 36 Bartling: 5252922 Ins tiefe Österreich Materialien Phantasien der Ziellosigkeit = ║ Titel für all die Materialien seit 1975 Nicht identifiziertes Motiv evtl. Tasche und Mütze kleine Zeichnung (Kugelschreiber: schwarz), Urheber*in nicht identifiziert Appelez: 637 41 16 en cas d'accident L'école d'Amina : 027 15 83 07.10.8 Ein Gefühl der weggezogenen Ge¬ fühlskräfte, der Entsinnlichung, unan¬ genehmen Leichtigkeit bei gleichzeitigen gleichzeitigem Druck in der Mitte der Brust, der Wahrnehmungs- und Aufnahmsun¬ fähigkeit, der Lächerlichkeit und Schlechtangezogenheit, der Formlosigkeit und Erstarrung, des Beleidigtseins ohne Beleidigung, des Kindischseins und des Geschrumpftseins, der umfas¬ senden Blick- und Tonlosigkeit + Verschlossenhei t , Maskenhaftigkeit - das ist der Neid Herr und Frau G. : zwei Waisen¬ kinder, wirklich und auch über¬ haupt Das Kind, das den einen großen Über¬ druß vor den Erwachsenenen davon hat, daß es immer vor der Toi¬ lette warten muß, bis die E. Erwachsenen fertig sind und dann in seiner Not die noch von den E. Erwachsenen stinkende Toilette aufsuchen muß Quer durch die Stadt: an den Rändern der Auto massen stehen noch ein paar vereinzelte Leute, mit geröteten Wangen oder ganz bleich, jedenfalls in völliger Nicht-Übereinstimmung mit mir, 1 in unvereinbaren Zuständen und doch haben sich's die mei¬ sten gerichtet, in der allge¬ meinen Geschichte, haben sich zufrieden ergeben in die Poli¬ tik, mit der sie unzufrieden sind, und wir alle stehen in dem technischen Getöse herum wie Figuren auf Bau¬ zeichnungen zu Füßen der riesigen Gebäude, die die Hauptsachen sind, wie dekorative Kringel Durch die unterirdische Halle gehen und das Gefühl haben, mit den Augen atmen zu können, das alles in sich behüten zu können, das Ver¬ lassene, mit den Schließfächern, den einzelnen auf den Bänken Unter den Neonröhren des Flug¬ hafensnacks fragte er sich, ob er sich selber genüge (Er schaute hinauf zu den Rohren unter einem Drahtgeflecht und wollte sich selber genügen) Ein Essen wurde ihm aufgetischt, ‒ als sei es schon des öfteren ver¬ geblich andern Leuten ange¬ 2 boten worden dicklich vom gerade-noch-ge¬ schlafen-Haben Die Musik im Flughafenrestaurant, die ihm die letzten Illusionen raubt (tote, ergraute, aufgicksende Munterkeit) Die vereinzelt sitzenden Gäste: in gewissen Abständen, immer zu verschiedenen Zeiten, schauen t n e einer zum andern hin und ver¬ achtet ihn, und so geht das hin und her unfrohe Verewigung (wir Gestalten) Wohliges Versinken in die öffentlichen Ver¬ kehrsmittel Männer mit Gesichtern offensichtlich ihrer Ge¬ schichte, ⤺ ihres Abenteuers, besser gesagt, beraubt überall , für das sie im stillschweigenden Spiel des Bewußtsein bestimmt schienen, sitzen hängen trostlos da herum , wäh¬ rend draußen die Tropfen an den Scheiben zittern, und rühren in ruhigem Ärger den Kaffee um; nichts ist mehr ihnen (und mir) gegen¬ über hier möglich: kein Mit¬ 3 leid, keine Freundlichkeit, keine Liebe ‒ nur Aus-dem-Weg-Gehen Holzfaserung an der Trennwand zum nächsten Tisch, wo man nicht weiß, ist es eine Plastikplatte mit nachgeahmter Holzzeichnung oder eine Holzwand, die in den Anschein einer Plastikplatte durch schwaches Übertünchen um¬ gewandelt wurde Als das Haus einer alten Bäurin in Kärnten bei einem Erdbeben einstürzte, dachte sie: Die Parti¬ sanen! Die Augen wurden dunkel, weil die Pupillen größer wurden Vom Flugzeug aus die Autos unten auf den grauen Höfen wie Ordensspangen, hell und bunt (und als ob es unten nur zuas¬ phaltierte Höfe gäbe) die große Stadt liegt in der Gegend wie die ragenden, in einer zufälligen Ordnung in den Wald hinein zerstreu l ten Trümmer einer gigantischen Katastrophe, und ein Dunst 4 geht davon aus, als sei alles noch nicht so lange her 17.9. M. Die Frau, die zu mir , während wir nebeneinander im Bett lagen sagte: "Du mußt noch lange leben!" Und ich freute mich da¬ rüber , . Die Nacht war hell, rein, freundlich, durch und durch ver¬ nünftig Bei der m Lesung Vortrag: die stillschöne Frau, die bei einer Stelle, nachdem sie sich durch einen Blick mit jemandem verständigt hatte, eine verzerrte Heiterkeit in ihrem Gesicht sehen ließ, eine pflichtschuldige Grimasse ‒ und wie ich mich sofort und für immer vor ihr ekelte (was ich später dann freilich bald vergaß: es gab kein "für immer") Ein ma er trat so nahe an mich heran, daß ich ihn nicht er¬ kannte 18.9. Es gelang ihm, nicht ihren Namen zu erfahren Je länger er schwieg, desto erlösender und selbstverständ¬ 5 licher wurde sein Schweigen, desto mächtiger, ruhiger Verlotterung durch die Geschichte Ein diebisches Vergnügen an meiner Verkommenheit Eine Frau, die mich nicht an¬ lacht, sondern bei meinem An¬ blick in sich hineinlächelt stundenlanges Abendglocken¬ läuten in mein Schlafdösen im Gras hinein, Gerüche und Ge¬ räusche wie geträumt Müdigkeit: eine Häufung von déjà-vu-Erlebnissen Eine Handlung, die erst so kurz vorbei ist, daß man sie sich noch nicht vorstellen kann (sie noch nicht rekonstruieren kann) 19.9. Als wir einander an¬ schauten und sie die Augen weg¬ tat, kriegte ich einen Kälte¬ schock Wieder das Gefühl, woanders sein zu sollen und doch nicht wegkönnen von dem tatsächli¬ chen Ort, an dem man sich ganz zwanghaft und willenlos 6 herumtreibt, bis man völlig verloren ist, während ganz woanders, gerade durch seine Abwesenheit, eine Katastrophe sich ereignet, und trotzdem torkelt man, innen ganz hohl vor Schmerz, stumpfsinnig an dem einen Ort herum, auf der Stelle, durch und durch, auch in der Untätigkeit, laster¬ haft Wolken wie Nadeln über der abendlichen Stadt "Ich möchte mich jetzt hinlegen und schlafen ‒ suche nur noch eine Frau, die mir dazu eine Hand auflegt" Nach einer beengten Nacht: schon das mildeste Morgenlicht blendet In der Müdigkeit werden alle Stimmen die Stimmen von Be¬ kannten Ein sich langweilendes Kind unter den zwei älteren Frauen am Caféhaustisch, das grimassen¬ schneidend dasitzt, mit sich 7 die Zähne bleckt und ab und zu sich nach hinten über die Sessellehne beugt und Spei¬ chel aus dem Mund klat¬ schen läßt auf den Gehsteig Eine kleine, verschlungene, vor allem auch innen die ganze Zeit lau, fast kalt bleibende Vagina: ein Horrorerlebnis neuester Art, der Jetztzeit Das Gefühl, daß die Körper der Frauen inzwischen alle ver¬ kümmert sind, in den letzten Jahren 20.9. (Meudon) Die Hand an umklam¬ merung des ersten Schultags; die Mutter, die zu ihrem weinen¬ den Kind sagte: "Mach mir keine Schande. Allons, en route!" Ich erinnere mich, in den dem Mor¬ gensonnenlicht, daß ich gestern einmal Tränen in den Augen hatte, aber nicht mehr, wo, wann und warum Nicht die Zeit finden vor Hotel-¬ Elend, sich auf andre Menschen einzustellen, mit starrem 8 Gesicht seine Funktionen herz¬ los verrichten Die Bosheit und Bösartigkeit der letzten Tage, die Dummheiten und Frechheiten: und tags darauf doch immer, auch kurz nach dem Aufwachen, kein schlechtes Gefühl, keine Reue, sondern ein diebisches Vergnügen daran, so daß man allein vor sich hinkichert Morgentau auf den Bahnhofs¬ bänken Mein Feindbild: sind die Leute, die Feindbilder haben (also sind fast alle meine Feinde?) Eine Französin nimmt nach einer "Bett-Affaire" ihr früheres Leben wieder auf: "Ich habe meinen Rhythmus wieder gefunden" Die fallenden Blätter, die im Sonnenlicht aufleuchten, aus den noch schattigen Bäumen fal¬ lend: als ob die Jahreszeiten die wahre Geschichte seien Jemand, der sich im Autobus ganz zielsicher auf meine Jacke setzt 9 Ein Mann, der eine Frau am Nacken schüttelt Ein Mädchen, das einen blattlosen Zweig im Mund hält (grad von einer Platane gefallen) und an ihm lutscht K.T.-L . , Fernsehsprecherin: "Trimm Trab mit netten Leuten ist eine prima Sache! Ich sehe jetzt immer mehr Lauf-Treffs. D Was mir daran gefällt? Daß man ohne Anstrengung läuft und mit vielen netten Leuten dabei plaudern kann." Ami A. , die verfärbt unter den Augen ist, weil sie sich dort so gerieben hat, um nicht zu weinen (heute, 1. Schultag in der neuen Schule) G. meinte, ich hätte Glück gehabt, weil ich mich schon ganz früh hätte ekeln können G.'s ständiges Gefordertsein, reden zu müssen; es zu keinem Schweigen im Raum kommen lassen zu dürfen Zwischen die Musik im Radio seufzt die Radiosprecherin schnell die Zeitansage 10 Manchmal, beim Lesen von Zei¬ tungen, bei allen offenen Fenstern, Tageslicht etc., das Gefühl, in der Nacht in einem Keller einge¬ schlossen zu sitzen Jemandes einzige Persönlichkeits¬ äußerung, seitdem man ihn kennt , : er hat sich einmal abgewendet, weggeschaut Biermann: "Und dann gibt es noch eine dritte Art von Abhaun: die Flucht in den Tod ‒ dieser Satz (von ihm B. ) wirkte wie ein Schock. Alle dachten an den Pastor Brüse¬ witz. Ich ... fand im 88. Psalm einen Satz, der war mir ein guter Kommen¬ tar zur Republikflucht in den Tod. Es heißt da: Ja, willst du denn unter den Toten Wunder tun?" ( Nackte Dummheit, die den Nackten scharf macht auf sich selber = Biermann) ; bei Bei mir seit langem wieder das Erlebnis eines wirklichen Brech¬ reizes : Jetzt fangen auch schon die Schrei¬benden an, die Opfer zu verhöhnen! ) Jetzt liest A. mir Geschichten vor, wie ich ihr bis vor 2 Jahren "Ich bin der Repräsentant 11 einer Weltfirma" Jemand, der alles nur wahr¬ nimmt mit dem Gefühl der Ge¬ störtheit davon (wie ich es eben merkte beim Anblick des tellerab¬ trocknenden und laut stapelnden Küchenburschen, den ich nur bis zum Hals sah, ohne Gesicht) Als ich im Restaurant sagte, ich wollte vom Menu nur einen Teil nehmen, antwortete die alte Kellnerin : " Les prix sont faits" (Als ob die Tatsachen vollendet wären) das T die Preise Tatsachen seien, und Tatsachen als solche nur vollendet unabänderlich sein könnten) [Nur das Vollendete ist eine Tatsache!] x Ich kam, im Schreiben unter¬ brochen, ans Notizbuch zurück und hatte ein Körpergefühl, wie ich es habe, wie ich wenn irgendwo hin komme, wo ein noch gefülltes Glas Wein für mich steht (Ich suchte wirklich auf dem Tisch das Wein¬ glas) Daß die Leute so oft von "kom¬ fortabler Hölle" reden! Es gibt 12 doch keine Hölle, die komfor¬ tabel ist: dieses Wort ist eine Erfindung des schlechten Gewissens von Leuten, die nur ahnen, daß sie leiden könnten, im Komfort 21.9. Wie schweinisch die Franzosen über "Künstler" schreiben: "Als E erleuchte¬ teter erleuchteter Liebhaber feiner Weine s , richti¬ ger Worte und exakter Noten, hat B. den Geschmack des Authentischen" Stille Weinkrämpfe A.'s an meiner Hüfte (Das Krümmen) Eine steinerne Hauswand sehen wie einen Weinberg (einen kahlen) Wie A. aus tiefstem Herzen sagte: "Ich will in überhaupt keine Schule" Man tut etwas zusammen, nur reden und einander an¬ schauen, und danach müßte man eigentlich für länger irgend¬ wie zusammenbleiben, aber daß man es nicht tut, macht das Schurkische von einem aus, und das Schurkische der allgemeinen Lebensumstände 13 Das beruhigende Rollen der Autos auf der ehemaligen Zu¬ fahrtsstraße zu einem Schloß, mit einer großen Gleichmäßigkeit So oft, bei dem Krach oder Knall eines Gegenstands, der umfällt, kommt mir sofort das Bild von dem jugoslawi¬ schen Automechaniker, dem, als die Winde plötzlich umkippte, das Auto, unter dem er lag, aufs Gesicht drückte, wenn auch nicht so stark, daß er ganz ohnmächtig wurde; er schaute nur, mit stark geröteter Gesichtshälfte, ganz lebendig geworden aus im Schock und im Todesschrecken Helle lange Fingernägel im tiefstehenden Herbstlicht Ich entfernte mich vom Notiz¬ buch, um wieder frei zu sein, was zu erleben In einer Gegend außerhalb von allem, wo es aber noch immer fremde kalte Menschen, fal¬ lende Blätter, Absteigehotels 14 übers Wochenende und Immo¬ bilienmakler neben verfallenden Villen sowie "Masseurs-Kinésithérapeutes" gibt: bauchlastige Trost¬ losigkeit Das Laub hängt so eng und dicht an der kleinen Kastanie, als hätte sich ein Schwarm da nieder¬ gelassen Wie lang die frischgefallenen Ka¬ stanien kalt bleiben in der Hand! Sonnenflecken auf den Waden einer Frau wie Krampfadern Ein Mann im Lokal, der sich nach allem umschaut, aber von über¬ all sofort zur Seite blickt, als ob er jedesmal sofort Bescheid wüßte A. macht es nichts aus, wenn man sie beschimpft; Reden berühre sie nicht, nur Anfassen, Stoßen etc. Aus den letzten Tagen erinnere ich mich kaum an Träume, aber doch kommen mir den ganzen Tag über immer wieder Traum¬ momente dazwischen, wo all meine Zukunftsprojekte und -sicherheiten schon widerlegt worden sind Es ist wirklich eine Stimme in 15 mir, die ein sozusagen UN¬ MÖGLICHES "Ich" verkörpert und sich meldet, mit ganz klaren, hoff¬ nungslosen, lustlosen Sätzen, wenn mein MÖGLICHES "Ich" schon sich einer Zukunft gewiß meint (eine maulende, desillusio¬ nierende Kinderstimme) 22.9. Traum dieser Nacht: daß die Slowenen in Kärnten durch Los Löcher in den Karawanken zuge¬ teilt bekommen (es gab nur wenige Löcher): das gute Los war ein kleiner Quarzstein in meiner Hand, den ich an einen slowenischen Freund verschenkte, für den das das höchste Glück war Die Trostlosigkeit der momenta¬ nen Umgebung führt wieder, wie sehr viel früher, zu vor Zunei¬ gung glühenden Träumen (das unverwüstliche Bewußtsein!) Gerade dachte ich, es müßte mir doch, jetzt, endlich hier ein and er entgegenkommen, der mit mir was gemeinsam hätte Die nächtlich sirrende Mücke zog eine Bruchlinie durch 16 meinen Schlaf, wie ein Haar¬ riß in einem Knochen, und dieser Riß wich, mit den Angriffen der Mücke immer wieder auseinan¬ der Das Zitronenfleisch im kalten Tee schmeckt nach Auster Das Verhalten der Besitzenden oder Besitzen-Wollenden in Frankreich, höfisch ohne Hof Die Leute hier sind so feind¬ selig, so kalt, als ob sie gar keine eigenen Probleme hätten "Ich habe nicht nur keine Lust, dich zu sehen, sondern ich will dich nicht sehen" Nachdem der Schnellzug durch den Vorortbahnhof geschossen war, schlagen bewegten sich nachher die elektrischen Oberleitungsdrähte gegeneinander und einem alten Mann schlotterte noch lange die Hose um die Beine Was so tötend ist in einem chin. chinesischen Restaurant: die vielen Reiskör¬ ner, die nachher auf dem Tisch¬ tuch verstreut liegen Erleichterung in einer mittäglich 17 leeren Apotheke, die sich mild auf die Augen legt Eine hat sich Augenbrauen hoch in die Stirn hinauf gezogen, als eine blutverkrustete Narbe A. bemerkte gestern erstmals ihren Herzschlag in einer schmerzenden Fingerkuppe Er streichelte sie nicht, um nicht mit ihr zu privatisieren B. : "Ich habe eine sehr große Knopf¬ aufmachgeduld" Eine leere, nicht einmal aufge¬ kratzte Wachheit Spieler auf einem Haufen in der Mitte des Stadions, und was ich zuerst für die sporadischen Zuschauer hielt, sind nur ihre verstreuten Kleiderhaufen auf den Sitz¬ bänken Die Mü frühe Müdigkeit in klei¬ nen Zimmern A. , wenn sie etwas haben will, deutet es seit kurzem (nach vielen Predigten gegen das Haben-¬ Wollen) nur noch an, indem sie verschämt, für sich, lacht, und doch so laut, daß es die 18 andern hören und deuten sollen Die zerkratzten Schienbeine vieler Frauen Die lange Busfahrt durch die Vor¬ städte heute, an wie gerade verprügelten Frauen vorbei, wie ein Traum von einem wirren Balkan; die in ihrer Geprügelt¬ heit kurz schön gewordenen Frauen, schön in ihrer sie selber überumpelt habenden Bereitschaftslosigkeit, Bereitschaftslosigkeit ohne Abweisungs¬ mienen oder angeeignetes Ab¬ gekehrtsein; einfach nur erblüht zu etwas wirklich Ansprechbarem im vorübergehenden Verlust der Bereit¬ schaft ...; wehrloser Ernst der jungen Frauen, die sich gerade erst darauf gefaßt gemacht haben, daß sie leiden werden, für eine nicht absehbare Zeit Manchmal wirklich ein schneller Überdruß, in einem Körper zu stecken, auch ohne daß der einen gerade zu lästigen Verrichtungen zwingt 23.9. Eine seltsam heitere Nacht, in der alle Vorfälle einbezogen wurden und in der Heiterkeit 19 mitschwangen, sogar die Mücke, die wieder zu sirren anfing am Ohr, schien ein Partikel davon Einmal fiel A.'s Hand auf das Bett, wie ein Käfer aus einem Baum (so erschien es mir) Der Schulschmerz: sie übt schon vorher, den Krampf nicht zu krie¬ gen, und mein Gefühl der Ohn¬ macht dabei, das sich für einen Augenblick auch zu einer völligen körperlichen Ohnmacht öffnet Zwischen den Alleebäumen das diesige Morgenlicht, nicht die¬ siger als im freieren Raum, aber durch die Begrenzung der Baum¬ kuppen oben wie deutlicher, sichtbarer als diesiges Morgen¬ licht Die blonde Frau an der Rezep¬ tion: nicht einmal die Möglichkeit eines Lächelns ist in ihrem Gesicht (hat sie Krebs?) Eine Gegend, in der die meisten Busse Schulbusse sind (Transport d'enfants) Gerade jetzt, heute zum ersten Mal, habe ich mich aus der Zeit verlo¬ ren in einen Baumwipfel ren 20 Die Busse, die mit ihren Passa¬ gieren durch die Vororte irren Eine Kleinstadt mit Schülerstim¬ men, -bewegungen, -schabernack, -¬ blicken, -rempeln ..., der Mopeds + Fahrräder Die Vorstellung, all die Häuser würden mit einem Tortenheber vom Erdboden gelüftet und .... ... , ja, dann wäre da nur die Erdnarbe, die frische Wie in diesen leeren Räumen, in dieser leeren, nur von Autos und Hubschraubern durchrauschten und durchsirrten Landschaft auch aus dem Kopf und der Brust alles Lebendige herausgesaugt wird und völlig phantasielose, lastende Leere sich ausbreitet, unfähig zur Liebe, zu Wünschen, zu Vorstellungen, die über einzelne Wörter hinausgehen; nur noch etwas hoffnungslos Brütendes ist von einem übriggeblieben (+ keine Stimmen auf den Straßen) Am grauen Himmel nichts wahrzu¬ nehmen ‒ ich brauche ja gar kein Zeichen, nur etwas zum Wahr¬ 21 nehmen (reizlose Bescherung) Jemand hat einmal die Würde erlebt an sich ‒ er hat sie für im¬ mer (ebenso mit der Liebe etc.) Die 3 Kellner kommen immer wie¬ der hintereinander ins leere Lokal, als seien sie immer neue Gäste Das Mädchen erschien auf seinen dicken Schuhä absätzen wie auf einem recht steilen Abhang stehend, und sie reibt sich, so stehend, die Hände, als würde ihr auf die¬ sem Abhang kalt Ich dachte, die für sich traurige A. anschauend, 'Mein Fleisch' Besitzer einer Erinnerung: Er erinnert sich nie mehr Jetzt in der Trostlosigkeit, bei sich nicht schließenden Augen, die Vorstellung, ein allgemeines Gesicht zu haben (und daß, wenn jemand käme, um dies a. G. zu sehen, ich es zu meiner Schande nicht hätte, ) sondern mein mickriges, kleines, persönliches, privates: da ist das Wort privat erlebt) Die Frau mit dem harten Mund: er sieht, kauend, mild aus 22 Die französischen Frauen (die ??) sprechen auch über den Tumortod einer Freundin am Restaurantisch mit der Geschwindigkeit + Geschmeidigkeit einer Rund¬ funksprecherin, auch mit dieser triumphalen Gewißheit In der Nacht im Gehen die Kiesel am Boden: als ob sie in der Mitte auseinanderfliehen Ich (Schriftsteller) bin bei dem allen viel beobachtbarer als alle andern Wahrnehmung (Erlebnis) der Ruhe Ich sitze da im dunklen Zim¬ mer, wie von einem abge¬ sägten Holzstamm hängende Hobelspäne (das war jeden¬ falls gerade die Vorstellung) 24.9. Dieser fast höhnisch ent¬ sprechende Moment heute morgen im Supermarkt, als ich an dem r großen offenen Kühlwand vorbei¬ ging, wo die Frostschwaden stark von oben nach unten zogen Traum: Ein Mann ging mit ge¬ strecktem Arm, wie zu einem faschistischen Gruß, auf eine Tür¬ öffnung zu, und stützte den Arm 23 in den Türrahmen; so stehend, daß alles sofort seine Bedeutung verlor und friedlich wurde Häuser in künstlichen Dörfern werden annonciert (domaines): die Zeichnungen zeigen, wozu die Vor¬ stellungen vom Paradies geschrumpft sind: Ein Kind auf den Schultern des Vaters, der damit, gefletschte Zähne, durch den Garten kurvt; schräg gestellte Sonnenschirme; Stühle, die vor dem Haus zurechtgeschoben werden von schlanken Menschen: "Hier werden Sie das ganze Jahr über wie in den Ferien leben": Auf¬ fallend, daß keine Person auf den Modellzeichnungen beide Füße auf dem Erdboden hat: so fröhlich sind sie alle, herumtollend Der Haß eines Kinds auf das Draußen: es wird immer hinaus¬ geschickt: in den Garten, die frische Luft: "Draußen ist es so schön, warum spielst du nicht draußen?!" Den ganzen Morgen gehen mir nur ungültige Gedanken durch den Kopf, keiner, mit dem ich was anfangen könnte; nur Vorur¬ 24 teile, statt Überraschungen Kastanien vor dem Fuß in der warmen Sonne: Verdoppelung die¬ ses Vorgangs durch die Erinnerung, und doch gleichzeitiges Erlebnis der Nichtdeckung: daß ich damals das gleiche nicht harmonisch wie jetzt erlebt habe, sondern ein bißchen daneben, als Darsteller jemandes, der eine Kastanie schiebt in der warmen Herbstsonne: ja, so fühlte ich meine Existenz in Kronberg Eine der schönsten Beschäftigungen in einem fremden Ort: den Plan anzuschauen; oder immer wieder eine neue, noch nie gegangene Passage zu gehen Verschwommenes Foto des Toten in der Zeitung Eine Frau im Café, die lange still allein sitzt in einer Ecke, und plötzlich tief und stark zu atmen beginnt Unter dem Dach der Bushaltestelle stehen nur kurz- und schwarzhaarige etwa 50-jährige, aber nicht mit¬ einander bekannte Frauen, zu fünft: ein überraschender Anblick "... seine spezifische Art des Denkens ‒ sein tiefstilles Gegeneinander-¬ 25 Führen des zunächst Widerspre¬ chenden, bei zurücktretendem eigenem Lebenshintergrunde, bis zum Einschießen ersten bekannten Fadens in fremdes Geweb ‒" (639, Die Strudlhofstiege) Ich fasse auch "überhaupt nichts auf" Mitten im Abendessen dachte ich an jemanden, der, fremd in Kärn¬ ten, auf dem Magdalensberg ste¬ hend (geschichtsträchtiger Boden) mich zu meinem Verhältnis zur Geschichte meines Landes befragt hatte, und in der Erinnerung daran (und an die verschieden zueinander verlaufenden dunstigen Hügel Kärntens) fühlte ich von der Geschichte mir einen Zellophansack erstickend über den Kopf gezogen D.'s laute, deutschsprechende Stim¬ me im französischen Restaurant und wie ich mich zurückhalten mußte, ihn nicht um eine leisere Stimme zu bitten Nächtlicher Alleengang von älteren Ehepaaren und Männern mit weit vorauslaufenden Hunden und schur¬ kisch kichernden Ausländern, 26 die irgendetwas verborgen in der Faust halten ( A. war über das Profil eines so entsetzt, daß sie wortlos zu schluchzen anfing: und dieses Profil zeigte wirklich das Ur¬ bild eines Böse wollenden ‒ bei der Geiße¬lung Christi ) D. sagte: "Diese Mutterkiste" (Seine Mutter hat Krebs im Endstadium) Und als ich was andres stattdessen hören wollte, sagte er: "Ja, soll ich denn sagen: 'meine Mutter'?" Oft, wenn D. kommt, das Gefühl, daß wir eigentlich gar nichts wenig mitein¬ ander zu tun haben ‒ und so bemühen wir uns besonders intensiv umein¬ ander, wollen alle letzten Daten von¬ einander erfahren ... A. sagte: "Heute ist ein schöner Abend!" und suchte dazu eine Begründung dar¬ über hinaus, daß am nächsten Tag keine Schule war: helle kleine Wolken waren am Himmel : die sah sie, weil sie morgen frei haben würde Auch das nächtliche Paris breitet sich, mit seinen Lichtern, nicht unten aus, sondern bleibt wie böse ineinan¬ der verschachtelt, verzahnt 25.9. Traum vom Tauchen in dieser Nacht, zu einem großen Schiff hin¬ 27 unter, und dadurch in ein para¬ diesisch fruchtbares Land gekom¬ men zu sein (Frau Holle) D. hat das Gefühl, mit seiner ster¬ benden Mutter noch reden zu müs¬ sen ‒ aber er weiß nicht was. "So wird sie ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen. Aber sie hat wahrscheinlich gar keins. Jeder hat eins, ein langes, und einen kleinen Teil davon sollte sie wenig¬ stens noch zeigen offenbaren können." D. gegenüber verliere ich anfangs, wie fremden Offiziellen gegenüber, meine Selbstverständlichkeit, sehe mich gehen, sitzen usw., höre die eigene Stimme (erscheine mir, wieder einmal, unan¬ genehm jünger) schön: Herbstmorgenfrische, mit dunklem Licht und Regenstim¬ mung, der bedeckte Himmel trotz¬ dem wie leuchtend von unten her ohne Diesigkeit, eine Zeder davor mit fuchsartigen Ästen A. war gestern freundlich zu mir: alles gefiel ihr, die Lederjacke, die langen Haare; sie verteidigte mich gegen andere Meinungen schimmernde Lippen des schla¬ 28 fenden Kindes A. : "Ich kann ganz weit sehen, und sogar noch weiter" Seltsam rumorendes Lachen im Zerrspiegelkabinett Paare lachen und reden über eine ihnen entgegenkommende Frau, eine schöne, als wüßten sie viel mehr über sie als ich Im Vergügungspark: das Rascheln der Plastikwindräder, ganz gleichwertig und heimelig wie ein Rascheln von Herbstblättern in der Seelenödnis Jeden Tag, nach den ersten Worten, ersten Formulierungen, lange Stunden der völligen Sprachlo¬ sigkeit, wo mir nichts mehr auf¬ fällt, und wenn, dann gibt es finde ich keine Worte dafür Der Graf von Paris, wenn er jeman¬ den anspricht, schnippt dazu mit den Fingern; Herr . G. schnippte zurück und fragte: "Meinen Sie mich?" Leute, beschränkt auf ihr Wirklich¬ keitsgrab (Die Wirklich -keit , das Grab des Lebendigen) A. sagte, der Tag heute sei so kurz gewesen, und meinte das vor¬ 29 wurfsvoll: der morgige Tag müsse länger sein (übermorgen ist Schule) A.'s Angst vor der Schule als vor der äußersten Fremde (noch schlafend tut sie mir leid ) in der Seele ⤵) Zeitung lesen im kleinen Vergnügungs¬ parkzug, der durch den Park rattert Manchmal wirklich die Überzeu¬ gung, andere über mich inzwischen denken lassen zu können, "was sie wollen" Herbstgewitter, Blitze leu leuchten plötzlich unten in der Allee, zwischen den Bäu¬ men, aber kaum Donner, nur stärkeres Bäumerauschen, ohne Regen; kein Zucken der Blitze, sondern ein Aufleuchten, fast mählich, nach und nach, ver¬ folgbar 26.9. In der Nacht, aufgewacht, erschienen mir Herr + Frau G. wie Leute, die in der sonstigen Unauffälligkeit der Welt mit dicken, brei¬ ten Kostümen, grellbunt, wan¬ dertheaterhaft, sich bewegen (müssen) (können) 30 Im ganzen Haus gingen immer wieder die Lichter aus und an, wo Leute nach den Mücken suchten: nichts zu sehen; doch kaum sind die Lichter aus, sirrt es wie¬ der dicht am Ohr, und man schlägt sich selber ins Gesicht Heute früh die Vorstellung, daß alle die wirklichen Ängste, Paniken, Lüste der Kreaturen bei uns nur noch als eine Art Modell, als umgesetzte Darstellung, als Planquadrat bestehen, und sich nur noch in Betrieb setzen in einem ganz kleinen Maßstab, als bloße Bildtafeln, im Ver¬ hältnis zu den wirklichen Ängsten usw. der KREATUREN, was auch immer diese Kreaturen sein mögen (das System der Ängste, aus der Natur-Umgebung gerissen und eingesetzt in eine begrenzte, um ein vielfaches verkleinerte Kunstumgebung, wie diese heutige Sonntagmorgenzivila isation mit funktionierenden Wasserhähnen ‒ da fiel es mir auf ‒ und frühwachen Kindern eine ist) 31 Eine kurzhaarige Frau, ein idiotisch weltvertrautes Grinsen im braunen Gesicht Ein Restaurant, wo man sich vorstellt, daß das Essen nach den parfumierten Fingern der jungen Patronin schmeckt (aufgesteckte Haare, lila Lid¬ schatten) Die plötzliche, tiefböse Zurecht¬ weisung von Kindern in den französ. französischen Restaurants, worauf die Erwachsenen, tödlich routiniert, ihre bezaubernde Konversation fortsetzen, und das Kind dann nur noch dösend daneben sitzt (plötzlich tauchen aus der Kon¬ versation Zeigefinger und Fäuste auf, gereckte Kinns Kinne , gegen das Kind gerichtet, wie allerletzte War¬ nungen) Als ich dem Blick des blonden, mösengewaschenen, schuhegeputz¬ ten, fürs Restaurant geschminkten Mädchens (Frauenzimmers) begeg¬ nete, ereignete sich DORT ein Augenaufschlag, aber so reflexhaft, daß er hintereinander ein paar¬ 32 mal erfolgte, unaufhaltsam, und dann erst mit Mühe gestoppt werden konnte Beim Anblick dieses Dreierpaars: die fett strahlende ältere Frau, der hosenknopfoffene kleine glänzend-¬ gekämmte Mann, das heranwach¬ sende blondierte Mädchen mit dem vorsichtig (wegen des Lippenstifts) offe¬ nen Mund die Vorstellung, daß die drei gerade noch in einer Wellblech¬ baracke gehaust haben und sich nur durch Schiebung, Kuppeln, Vögeln so weit vorgerobbt haben, daß sie dem Patron s des Restaurants beim Hereinkommen schon die Hand hin¬ halten können Ein junges Mädchen, das jetzt schon ganz damenhaft nur mit dem Mund redet, ohne sonstige Be¬ wegung des Gesichts Seine Augen voll Teilnahmslosig¬ keit auf sie fixiert (frühe Jahre) Sonntagnachmittag, und meine Wut auf die Zeit; ganz große Heil¬ losigkeit; und äußerliche Gereiztheit Allein in einem Zimmer sitzen und sich mit der Zeit immer 33 schmutziger vorkommen "Der wunderbare Herbstabendhim¬ mel" : mehr fällt mir auf den er¬ sten Blick nicht ein; und so sollte ich auch nicht mehr dazu sagen Meine ungeheure Reizbarkeit, nachdem ich den ganzen Tag nur die Stimme eines Kindes gehört habe (Wutanfall, wenn sie nur, in ihren ihrer lieben, feinen Stimme, mich schon wieder anzusprechen be¬ ginnt: wie sich ändern?) Paris in der Abenddämmerung unten sehr nah, erschien A. wie ein klei¬ ner fremder Planet b Blau im Abendhimmel wie ein Mor¬ genblau, ein e ganz andrer Kon¬ tinent des Himmels, und die Kinder auf der dämmerigen Park¬ terrasse nur noch stumm laufend, sehr undeutlich dahinwischend, und doch von großer Deutlichkeit heute nachmittag wieder: DAS ZEITKNIRSCHEN (Kopfweh davon) Gerade merkte ich, daß die Sachen auf meinem Tisch: das Blatt mit den Notizen, das ie Schere, das Wör¬ terbuch, die aufgeschlagene Strudel¬ 34 hofstiege, die Briefmarken; – eine gewiße Würde haben, die mir zugute kommt einem Fremden gegenüber (wenn der da wäre) "... auch jetzt fühlte sich Melzer wie losgebunden vom Pfahle des eigenen Ich ..." Die Angst für alle Zeit von jeman¬ dem wegstreicheln 27.9. A. setzt zum Gähnen an, als wäre das ein jämmerlicher großer Schluchzer "Er brachte fertig, nichts von dem zu denken, was man sich so im allgemeinen denkt; und damit setzte Melzer, freilich ohne es zu ahnen, die zweite erhebliche geistige Leistung seines Lebens" (Do¬ derer) Der gebeugte Rücken eines Kindes, vor Traurigkeit bucklig werden beim Gewahrwerden andrer Schul¬ kinder auf dem verhaßten Schulweg Die kleinen dunklen Wolken (abends) treiben wie tote Tiere über den Himmel Wärme und Geborgenheit, Zugetan¬ heit, als jemand mich nach 35 einer Straße fragte und ich ihm helfen konnte Buben vor der Schule, und ich dachte: da sind schon die zukünftigen Wirtschaftsverbrecher Gestern, hinter der Zentralhei¬ zung nach Mücken schauend, hatte ich die Vorstellung, eine Pose Jagos einzunehmen dabei Die Buchenblätter bewegen sich im Abendwind wie kleine Hitzewellen (in den Kronen, wo sie nur noch (?) schütter sind, schien es auf den 1. Blick so) Die Kranke heute auf der Post, die eine sie begrüßende Frau plötzlich auf den Rücken hieb, und das war ein Angriff, keine Freundlich¬ keit : schmerzhafte Totschlaggier in den Augen Besänftigung der Zerrissenheit, der Wehrlosigkeit bei all den Wi¬ dersprüchen im Vorortzug (Lob der Vorortzüge) Die Unmenschlichkeit in der Müdigkeit Erinnerung an manche Zu¬ stände von Harmonie, wo man ich glaubte, sicher war, daß alles meine Sprache spräche 36 und man sich mit allem also verständigen könnte (schönes, durch Traurigkeit intensives Abendessen und A. , die ihren 6. Zahn verloren hat), wo man sich auf jede kleine Wahr¬ nehmung freudig gegenseitig auf¬ merksam macht: 'Ah, es regnet', rief sie grade, als ich auch das erste Rauschen bemerkt hatte, aus dem Schlafzimmer Ich schaue immer wieder von etwas auf und will mich über¬ raschen lassen In einem unguten, unfreiwilli¬ gen Selbstgespräch (am liebsten hätte ich gar nicht, mit nieman¬ dem gesprochen, auch nicht mit mir selber) "Er wollte nicht fernsehen; und er sah nicht fern; und dennoch war die Vorstellung, daß er jetzt fern¬ sehen könnte (allein die Vorstellung), zuwider, mehr noch, als sähe er gerade wirklich fern (diese Vorstel¬ lung behinderte seine Ruhe, sein Für-¬ Sich-Sein)" Als ich gerade aus dem Fenster schaute, und die Zeder sah, links 37 und rechts ansteigende Bäume, war es wirklich ein Los-Angeles-¬ Canyon Ich sah den Tellerwäscher in der Hotelküche, von außen in der Regen¬ nacht, wie er das Besteck trocknete und es virtuos aus dem Tuch heraus in die richtigen Fächer schnellte ‒ und wie mir wieder einmal so ein Bild als eins aus meinem fernen künftigen Leben erschien, ich mit einem ebenso schmalen Haar¬ kranz wie dieser alte Küchenge¬ hilfe, gekrümmt, mit seiner blauen Schürze und seiner immerhin Ab¬ trocknervirtuosität ... 28.9. Meine sporadisch immer noch durchbrechende Krankheit: mich an mir selber kurzzuschließen, auch körperlich (ich lehne mich immer noch manchmal an Bilder von mir an, die gar nicht mehr gelten) Heute seltsame Freude an den Nachrichten in der Zeitung Die lächerlichen weichen und harten Ärsche der Frauen Der Wind im Fell des Hundes, der die Haare nur sanft (obenhin) bewegt, 38 erinnert mich seltsamerweise an den Frühling Menschen in Alleen, in der Obhut von Alleen, immer weiter grade¬ ausgehend, geschützt vorm Regen, die Mäntel über dem Arm, fallende Blätter vor und hinter ihnen, das Kratzen der Rechen, mit denen das Laub zusammen¬ gescharrt wird, Sonnenschimmer selbst schon an den unteren Baum¬ ästen, so schütter ist das Laubwerk A. sagte von dunklen Wolken, die am hellblauen Himmel quollen, sie paßten nicht zu dem Himmel Meine irgendwie sadistische Vorstellung, daß Amina ihre entsetzliche, abgewandte (von allen) Verlassenheit nie ganz verlieren möge Erleichterung: sich vom Blick auf den noch so pittoresken, noch so phanta¬ stischen Himmel nichts mehr erwarten, keinen Ausweg, keine Ablenkung (In der Senke am Hori¬ zont ist er gelb, darüber blau, darüber fast schwarz, und 39 die Zeder steht vor dem allem, dieser überirdische Fuchsbau) Es ist schon Nacht, und einige der Wolken werden an den Rändern wieder hell, für kurze Zeit unbewohnte Zimmer gar nicht erst unheimlich werden lassen Das schnelle Wetterleuchten draußen hinter den Alleebäumen: es entspricht (ganz zu andern Zeiten in mir aufzuckenden) Schrek¬ kensmomenten, die sich sofort danach, noch während sie zucken, als harmlos herausstellen Wie gut ich immer in der Verlassenheit + Unbeständigkeit aussehe, wie trainiert, wie geformt (besser)! Im Raum der Duft einer gerade gelöschten Kerze (aus einem Kriminalroman) Die Häßlichkeit eines Quer¬ strichs (Schrägstrichs) Einmal am Tag (wenigstens) sollte es mir gelingen, gar nichts sein zu wollen, so wie es dem Melzer ge¬ lang, gar nichts zu denken, 40 von dem, was man üblicher¬ weise so denkt 29.9. Nach einer schwierigen Nacht die Träume durchgehen und im nach¬ hinein das Gefühl haben, an einer Stelle (als großer Lärm war von Autos und man, obwohl man schrie, sich nicht mehr verständigen konnte) in tatsächlicher körperlicher Lebensge¬ fahr gewesen zu sein (knapp dem Tod entronnen zu sein in der Nacht) Donner am Morgen: ein richtiges Fauchen am Ende, und ein Brum¬ men, ganz nah; dann wieder ein Donner, sehr lange, der über den ganzen Himmel geht, und dann wieder zurück !, umkehrt, und nach langer Zeit ganz woanders aufhört "Weißt du, was Wirklichkeit ist?" ‒ "Ja." ‒ "Was denn?" ‒ "Sag ich nicht." Zufriedenheit: an einer Bushalte¬ stelle in der warmen Sonne mit einem Kind auf einer Stufe sitzen A.'s Traurigkeit, weil nur ich 41 Post gekriegt habe Beim Kinderfest mit den "liebens¬ würdigen", routinierten, ihr Lebens-¬ Spiel absolvierenden bürgerlichen Frau¬ en im Garten: das alte Gefühl meiner Beflissenheit in solcher Gesellschaft, und doch des immer falschen Han¬ delns, unnötigen Zugreifens, ge¬ zwungenen Freundlichseins zu die¬ sen Fremden und ihren noch frem¬ deren Kindern, die da z.B. im Garten aufeinandersitzen und feind¬ selig still und starr zueinander sich verhalten, immer wieder zwi¬ schendurch bei ihren Schieß- und Kampfspielen; wo wieder mein altes Gefühl (Nichtgefühl), einer unteren Schicht anzugehören, durchbricht, ein unstatthafter Emporkömmling aus KEINEM Milieu zu sein Der Mathematikprofessor, dessen Kind an Leukämie gestorben ist, hat drei Jahre lang gebetet, selbst in den Sprechpausen, wenn er Unterricht hielt, hat er still gebetet 30.9. Ich komme mir vor, als hätte über Nacht mir jemand 42 heimlich die Haare gestutzt "Jung bleiben durch in den Spiegel schauen!" Allmähliches Aufwachen aus dem schönen harmonischen Schlaf: wie einer der sich an einer Wand angesaugt habenden Gummipfeile, der sich allmählich loslöst und dann zu Boden fällt Diese fahle Gewitter luft wand in der Straße, von der ich dachte, daß es eine Hauswand sei, und die dann wirklich eine Hauswand war Jemand sagt in Gesellschaft etwas, was er für sich schon öfter gesagt hat; dann unter¬ bricht er sich und sagt: "Eigentlich ein Unsinn, was ich da rede. Gut, daß man manchmal in Gesellschaft ist!" Schönheitsschauer auf der öden Straße, die am Bahn¬ damm entlangführt, während man zugleich fürchtet, aus dem Auto, das da auf einen zukommt, würde auf einen im nächsten Moment geschossen werden 43 Die verschwisterten Vorstädte wie Malakoff, mit dem 1. Moskauer Arrondissement (so wird Moskau greifbarer) Das explodierte Haus, wo es vor 2 Tagen (France-Soir) jemanden im Schlaf aus dem Zimmer auf d. Straße warf und töte tötete : heute sah ich die Tapete, den Vorhang im Fensterkreuz, das wissende Lächeln des Versicherungs¬ angestellten, die Räumung der Nach¬ barhäuser Scheiße im Pißbecken der Vorortstation, wie Blattspinat A. hat heute früh nur noch 5 (fünf) Tränen geweint in der Schule (sie ging schnell zum Zaun hin): sie zählte tat¬ sächlich die Tränen! heute morgen: die große ruhige Lust, das schlafende Kind möglichst lange zu betrachten; mich in einen Sessel gegenüber¬ zusetzen und es anzuschauen Zeit, vergeh doch, ich möchte in dir zu blättern haben! Ein Mann, der schon mit über die eine Schulter gehängtem 44 Rock das Restaurant betritt (trotzdem knurrt der Hund aus irgendeiner Ecke) Schon jetzt weiß ich, daß ich mich an die Abende in diesem Talmi-¬ Hotel mit den imitieren imitierten Holz pforten (unter denen das Preßspanholz sicht¬ bar wird), mit der Radiomusik und der scheinheiligen Sprecherinnenstim¬ me, die dazwischen ganz unschuldig die Zeit ansagt, mit dem mürri¬ schen blonden Mädchen an der Re¬ zeption, dem alternden Schurken mit dem dünnen weißen Rollkragen¬ pullover, durch den man das Unter¬ hemd sieht, mit den Sitzgrotten im Vorhof (unterirdisch) mit Sehnsucht erinnern werde (ohne Angst war ich da, nur mit sirrenden Mücken in der Nacht), und wo stille, selt¬ same Männer abends im Restau¬ rant sitzen wie Ausländer und, wenn das Essen kommt, die Plüsch¬ sessel an den Tisch rücken (ich dachte an russische Spione ...) In der Allee, im Laternenschein, fallen mitten in der Nacht lang¬ 45 sam die hell beleuchteten Blätter Vollmond: Erleichterung bei seinem Anblick, ich hatte die Erklärung für meinen Nachtschmerz + meine -bedrückung Das Profil des Bösen in der Allee als bräuchte er wirklich nur sein Profil hinzuhalten, damit ein Kind noch lange danach vor ihm Alpträume hätte (und die Allee mit den ge¬ schlossenen Baumkronen gehört zu dieser panischen Angst): am hellen Morgen darauf, als "der Böse" kurz sich zwischen dem Vorhang eines Par¬ terrefensters zeigte, verzückt sein Gesicht und völlig abwesend, erkannte er die nicht wieder, die er in der Nacht verängstigt hatte, wohl aber umge¬ kehrt die Betroffenen ihm n , der ganz blicklos, überdies wie ein Torso, nur Kopf, ohne Ohren, ohne Arme, ohne Rumpf, sehr schräg gegen etwas aufblickte, was der Himmel sein konn¬ te, aber vielleicht nur eine vergangene kleine Untat war, als kleine Bewegung an seinen starren Augäpfeln, eine erinnerungsunfähige Nach-Bewegung ei¬ 46 nes gelungenen Schreckens, den er in einer Nachtbeleuchtung hatte viel¬ leicht nur spielen lassen, die tölpel¬ hafte Tapserei dieser Gestalt am Fenster wie bei einem wilden Zootier, halb gezähmt, nachdem es doch ge¬ rade jemanden gerissen hat ... (überhaupt heute die Vorstellung , daß ein Gesicht von den in der Allee hier stillstehenden Menschen, die alle entstellte, stiere Gesichter zeigen wie Gewaltverbrecher ) ; tote brutale Ge¬ sichter in dieser säuberlichen, herri¬ schen, vornehmen Allee deutlicher und erschreckender als in der Métro oder sogar in der Rue de la Goutte d'Or, ) vor allem durch die Vereinzelung unter den Bäumen, durch das stille Stehen neben den Baumstämmen, verbrechergaleriehaft ) : und kaum trat ich gerade ans Fenster, schon bewegte sich in der Allee einer heran und holte seinen Sch wanz aus der Hose ...) Der Kerzendocht glimmt noch ein bißchen im Dunkeln, nachdem ich die Kerze ausgeblasen habe 47 1.10. Ich suchte Vorstellungen für das schmerzhaft klopfende Herz und dachte an Frauen; das Klopfen blieb, der Schmerz verschwand (eine wie un¬ bekümmerte Nacht) Gerade gelang es mir nicht, beiseite, wie üblich, über mich zu lächeln Ich sehe noch keine Perspe e ktiven heute morgen: die Badezimmertür erscheint mir, schräg gegenüber, un¬ gewöhnlich schmal, schilderhäus¬ chenhaft (Meudon→ Clamart) Die lebensvolle, braunhaarige starke Frau in der Métro: alle andern Gesichter wurden künstlich - und während sie noch ausstieg, dachte ich schon an sie als an jemand für immer für mich Verlo¬renen , noch während ich sie ansah Schöne Verschlossenheit von uns allen, die wir durch die Métro¬ gänge uns bewegen Vorsicht vor Leuten, die immer wie¬ der sagen, daß sie mit Geld nicht umgehen können, daß ihnen dieser Bereich ganz fremd ist: vielleicht stimmt das sogar – aber gerade dann , werden sie, überraschender und brutaler in ihrer schlechten 48 Nachahmung dessen, was sie für den Umgang mit Geld und Geschäften halten, dich, ohne es vielleicht selber sich bewußt zu machen, noch viel erstickender, verletzender dran¬ kriegen als die sogen. sogenannten routinierten Geldmenschen! Daß ich so gar kein Gefühl habe für die still und starr im Café an der Bar hockenden oder stehenden Nach¬ mittagstypen; ich dachte an Ed¬ ward Hopper dagegen: ich konnte mir nicht vorstellen, sie zu zeichnen; bei der Vorstellung, eine dieser Visagen zu zeichnen, wurde mir ungut, wider¬ wärtig (Nur das Klopfen des Patron¬ ringfingers auf die Kaffeemaschine ist zu hören eine Zeitlang) Herbstnachtwolken in der Form von Kometen, nur fixiert Der traurige algerische Busfahrer, der seinen Job aufgab, weil er zu sehr weinen mußte, wenn ihm die Fahr¬ gäste ihre Scheine hinhielten, mit denen sie sich vorher in den Zähnen gestochert hatten Bei manchen würde nicht einmal die Tatsache, daß sie einem das 49 Leben retten, einen veranlassen, über sie stutzig zu werden, ihnen was anzuvertrauen Den letzten Bus in der Nacht nannte der ehemalige Busfahrer "balai" (Besen, Kehrer) Dieser Mathematikprofes¬ sor sagt wohl kluge Sachen, aber man vergißt sofort den Zusammenhang mit ihm – er wirkt dumm bei all den klugen Sätzen Seine Frau: eine verwirrte Eigentümerin (kurz danach sah ich eine entschlossene Besitzlose) 2.10. Wiedereinschlafen nach langem Wachsein in der Nacht: ein Punkt auf meinem Rücken, dessen ich mir noch gerade bewußt war, spielt im näch¬ sten Moment schon in einem Traum mit, während der übrige Körper noch ein Wachkörper ist: an diesem Punkt begann der Schlaf und erfaßte all¬ mählich den gesamten Körper Wie bei der Tochter des Busfahrers der Mathematikprofessor schmutz¬ empfindlich wurde, und der Busfahrer voll Angst auch Das Zeichen des Narziß, im 50 Triumph der Bestätigung von außen Mein geheimer Faschismus: je¬ mand lehnte in der Métro an mir mit heißem Rücken, und ich wich leise zurück vor dem Schwar¬ zen, wie ich meinte, mit seinem Schweiß; und war besänftigt!, als ich merkte, daß es ein Weißer war (oder mein Zurückziehen, nur innerlich, der Hand, als nur das Haar einer D dasitzenden, älteren Frau sie streift in der Fahrtbewegung) Wie geduldig und selbstverständ¬ lich A. im Métrogedränge unten, kaum mehr sichtbar, steht Der Busfahrer erzählte von sei¬ ner Depression wie von einem üblichen Lebensvorgang: " Je j'ai J'ai fait MA DÉPRESSION là-bàs à Meudon-La Fôret" Das Herz schlug im Körper wie ein Überbleibsel, nicht mehr zugehörig Ein Haus unten in der Häuser¬ vielfalt ist immer wieder als das einzige von der Sonne beleuchtet, es steht als einziges so, daß die 51 Sonne es beleuchten kann (in einem solchen Winkel und so frei); die andern Häuser stehen alle in einem andern Winkel Zu Füßen der Hochhaussiedlung erstrecken sich die tradionellen Häuser wie nur noch wie weg¬ zuräumender Schutt, der bis zum Fuß der Hoch h Häusertürme reicht "Auf dem Land, wo es still ist, ist in meinem Kopf ein Krach" Der Vorortzug kommt an in der Metropole am Samstagnachmit¬ tag: abenteuerlich blickende, freche Frauen; ein junger Mann mit geschwollener Nase steigt aus; ein Mädchen mit Hautabschürfungen an der gleichen Stelle steigt ein In die Natur geraten, mit Reiter¬ zeichen sofort am Weg, wie in eine alte, langvermiedene Falle; nur noch Mundfürze austoßen statt reden Paris unten in der Ebene: Unter diesen unzählbaren Häusern scheint auf ganz wenige irgendwo die Sonne, die gelb sind in der trüben Fläche 52 Eine Liebe, die ohne Umstände nur auf rasche Einverleibung aus ist, auf Vollzug, auf Tätigkeit, Abwick¬lung Die Vorstellung, daß nichtlesende Leute gar nicht wissen, was sie tun; auch gar nicht erreichbar sind Der Wald in der Nähe großer Städte, vor allem der Laubwe alt d: das ist die verödetste, höllischste, menschen¬ fresserischste europäische Allerwelt: sich auf den Bauch werfen und blöken, während wieder einmal Buben mit Platzpatronen durch die Gegend knal¬ len und ein paar griesgrämige Fami¬ lienspaziergänge mit niedergeschlagenen Augen einander kreuzen; tropfnasse Glitschigkeit, Hundedreck auf den Baumwurzeln, stachlige Maronen¬ fruchtkugeln, s Schwärze vor den Au¬ gen; und trotzdem erscheint jeder im¬ mer wieder von neuem in dieser unüber¬ bietbaren Ödnis, als könnte es einfach nicht sein, daß die Idee von Wald nichts Wirkliches wäre, und nur Hohn und Hinter-dem-Haus-Gegend: irgend¬ wann wird der Wald sich vor einem ausdehnen, wird das sein, "was der 53 Name gesagt hat" (Beim Knall der Platzpatronen sagte A. , sie kriege jeden s falls mal nicht außen Angst, sondern innen) 3.10.76. Nach den ungeheuerlichen Träu¬ men dieser Nacht: Ich glaube wieder, seit langem, an Träume: nicht in dem Sinn, daß sie was bedeuten oder aus¬ sagen oder mitteilen oder andeuten; sondern daß sie eine große erhabene andre Welt zeigen, die sich über die Wachwelt wölbt und spannt, und in der das Personal der Wachwelt noch einmal erscheint, doch endlich, dämonisiert oder verklärt, statt am Gängelband oder der Kette seiner (der) Geschichte wie alter Kot ver¬ kümmer t nd, hineingeholt in einen phanta¬ stischen, prächtigen, pompösen, ewig¬ keitsdurchschauerten (Kühltruhe-Schwa¬ den) Weltenraum, durch den die Leute nun, nachdem die niedrige Decke ihre ihrer Ge¬ schichte verschwunden ist, gestoßen sind wie zu ihrem eigentlichen, ersten und letz¬ ten Leben, wo in der dunkelsten Nacht alles voll sein kann von friedlich wandelnden Leuten und der hellste Tag ganz totenstill, mit einem r einzigen gestalt Gestalt in der Ferne, die eine kleine 54 Vorgabe hat vor einem Atomblitz, der nun wie eine Staubwolke über die Landschaft rollt und den Laufen¬ den auslöscht, und wenig später auch uns, die wir zuschauten ...... Einzelne Bilder: A. , nachdem die Atomwolke uns wie ein Wolkenschat¬ ten passiert hatte, fing zu sterben an und wurde immer dicker im Gesicht, ich auch, und wir grinsten uns sterbend an, grinsten extra, um uns noch unsre Gesichter zu zeigen, es war ein scheu߬ liches Grinsen, und trotzdem voll letzter Heiterkeit: wir lachten mit unsern zu To¬ tengesichtern aufgegangenen Gesichtern, um den andern zum Lachen zu brin¬ gen (die Gestalt, die vor den Atomschwa¬ den am Horizontrand weglief, war S.U. ); oder ich brachte gegen Mitternacht, nach all den Abenteuern des Traums, endlich die todmüde A. nach Hause, und wir fuhren in einer Kutsche, wobei ich die Zügel hielt, auf einer asphaltierten Straße in der frischen Nacht; es kamen uns aber immer wieder Leute entgegen, wie von einem Kirchgang, und als ich eine ältere Frau fragte, wo es hier nach 55 Grünwald gehe, deutete sie mir, umzukehren: es war aber das Ge¬ fühl, das wichtig war an dem Traum, nicht sein Ablauf: das Ur-Gefühl, nach langer, erschöpfender, entwürdigen¬ der Zeit in Gesellschaft (Feste, Messe, Sexualspiele) endlich weg zu gehen und mit einem Kind heim zu kehren in einer Kutsche mit einem verläßlich en trabenden Pferd davor; und das Bild dann des Nachhause¬ kommens, es war schon ganz heller Tag, aber noch ohne Sonne, der Großvater war auf dem letzten Teil mit uns, und nach einer Biegung lag vor uns der grüne Heimathügel mit seinem geraden Rücken, über ihm ein ziehendes, flocken¬ helles Wolkenfeld, dessen einzelne Flocken genau die Form von Schwalben hatten; "Schau, wie Schwalben!" sagte ich auch wirklich zu dem Großvater, in dem ich mich nach ihm umschaute, und dann erschien oben auf der Hügellinie, genau vor dem weißen Schwalbenwolkenfeld, lautlos ein schwar¬ zer Hund, der sofort anhielt und bewegungs¬ los vor dem Himmel stand: bei all sei¬ ner Unheimlichkeit war er doch wie ein Hofhund, der uns empfing: das Bild war so schön und erhaben, daß 56 das Furchtbare darin GEBANNT war (Gute, verläßliche Träume in der hallenden leeren Fremde) x Stille Schritte in der Bahnhofs¬ toilette hinter mir Gespräch über Literatur mit dem Math.-Prof. Mathematikprofessor und seiner Frau, die im Hintergrund immer wieder stehenblieb, um zuzuhören und teilzu¬ nehmen: beide spielten wir mit den Händen in der Tasche vor Zwang, zu reden, und er schaute immer ganz kurz zur Seite in die Richtung seiner Frau, während er was sagte, während ich auch immer wieder ganz kurz zu Seite schaute, wo aber niemand war, eigentlich jederzeit bereit, das Gespräch sofort abzubrechen, und doch immer weiterre dend und -erklärend, und immer wieder einer dem andern schnell zustimmend und rechtge¬ bend, bis der unbeteiligte Körper nur noch schwer und kalt am engen Kehlkopf hing, weggesackt von ei¬ nem, und man wollte lieber dieser weggesackte kalte Körper sein als die räsonierende Stimme ohne Klangraum x trotzdem die banalen Bemerkun¬ gen des Wachseins beibehalten 57 Gespräch mit dem Mathematiker: den "ésprit mathématique" erklärt er als die Fähigkeit, zu jeder Erschei¬ nung die Umkehrmöglichkeit zu sehen: Warum "Das Glas steht auf dem Tisch" und nicht: "Der Tisch steht unter dem Glas"; und zweitens als die Fähigkeit, jede Folge von Operationen zu mini¬ malisieren, also zu versuchen, welche Operation wegfallen kann, und welche noch, um noch immer dasselbe Er¬ gebnis zu erreichen (Schon sein Sohn hätte, ohne Mathem. Mathematiker zu sein, diesen ésprit: "Warum kann der Tisch nicht auf 3 Beinen stehen, wa¬ rum nicht auf 2 ... ?") Ein Bild: das kleine schmale Haus unter andern an der Hauptstraße, mit 2 niedrigen Stockwerken: im 1. steht ein Bursche am beleuchteten offenen Fenster, Abend; im 2., genau darüber, steht noch eine Gestalt, rauchend, im beleuchteten Fenster¬ rahmen, aber hinter der Jalousie: große Traurigkeit des Sonntag¬ abends Das Kind im Restaurant, das 58 sich die Hände nicht vors Gesicht, sondern an den Kopf hält, als sich die Mutter ihm nähert, nach¬ dem sie gesagt hat, als es sich nicht setzen wollte: "Du wirst sehen, was ist, wenn ich dich holen komme!" Als es wieder im Raum herumirrt, mahnt es der Vater: "Das ist kein Sport¬ platz hier!", und als es Erdnüsse haben will, sagt der Vater: "Das ist kein Kino hier!" Trinkend: Plötzlich habe ich Zeit! Der Mathematiker: Wie kann man eine Ordnung durch eine andre Ordnung ersetzen? IM TAUMEL DER FREM¬ DHEIT 4.10. Wie ich schon die ersten Momente des Wachseins benütze, kreuz und quer in mir herumzu¬ forschen und zu suchen, ob es etwas Bemerkenswertes zum Aufschreiben gäbe (doch: die Leute, die abends lachend aus dem Fenster zu mir herunter schauten, der auf dem Geh¬ steig vor der Haustür stand und noch nicht schlafen wollte, und ich sah die Gesichter über mir 59 wie eine dichtgedrängte Gruppe in einem barocken Deckenge¬ mälde) Ich kam nach Hause, voll Bangen, daß A. den Leuten was von meinem Reden gesagt hätte , (ich wäre lieber allein im Haus usw.) ( Wieder einmal ver¬ fluchte ich meine Unduldsamkeit, und mehr noch meine mangelnde Verschwiegenheit ) ; vor dem Haus¬ tor traf ich A. und hob sie hoch: "Du hast den Leuten aber nicht gesagt, daß ..." Und obwohl sie nicht wissen konnte, was ich meinte (mein Klagen über das Nicht-¬ Alleinsein war schon Tage zurück), sagte sie sofort: "Nein, ich habe nichts gesagt, daß du lieber allein in dem Haus wohnen möchtest!" Die Sonne hinter den Regenwolken: an an einer runden, sich erwei¬ ternden Stelle sind ist die das sonst dunkle n Wolkenfeld schimmernd weiß, als ob da etwas schmilzt, und ich dachte an einen Schnee¬ ball helle Rauchwolken vor der dunklen Wolkenwand am Morgen am Bahnhof (wo jetzt am Nachmit¬ 60 tag immer noch das Hahnkrähen zu hören ist, wie all die letzten Tage) Die Stimme des Hausherrn, die morgens aus der obersten Etage seines Hauses dringt: wie aus einem technischen Gerät, so gleich¬ mäßig, deutlich und drohend künstlich erklingt seine Stimme (In Klammern: die SPD bleibt an der Regierung, und "Die links¬ händige Frau" erschien heute in der Bestsellerliste: ein schöner Tag) Wieder einmal die Angst, vor der Schule wartend: und der Baum mit seiner Rinde, der an den Rän¬ dern noch die grünen Blätter hat, im Kern aber nur noch die Rinde, erschien mir solchermaßen als das der Rauch einer Feuerkatastrophe: die das graue n Astgewirr als Qualm A. gähnt oft im Schlaf Die Pupillen des Mathema¬ tikers, so schien es mir heute abend, schnellen manch¬ mal im Auge auf und ab + kreuz und quer wie die weißen Punkte an 61 den Tennisautomaten in den Cafés Pupillenbewegung als durch Pfeile verbundene Punkte dargestellt kleine, in die Zeile eingefügte eh. Zeichnung (Fineliner: schwarz), mit korrespondierender Notiz .... Nur nicht ergriffen werden von dem, was man plötzlich sagen kann! (so kann man ruhig schla¬ fen) Spät in der Nacht, mitten im Gespräch plötzlich ein leises unheimliches Stöhnen im Haus; wir hielten alle inne und dachten, ein Kind ‒ dabei waren es nur die Bremsen eines fernen Last¬ wagens 5.10. Sie schrieb: "Du warst so fremd und verschlossen, als Du am Morgen weggingst." Ihr antworten, aber nicht: "Ich bin halt so", sondern: "Das war halt so." f Für Augenblicke, während sie mir zu¬ hörten, wurden die Hausleute ge¬ stern abend ganz andächtig, als erführen sie gerade wirklich, was ein Dichter sei, und das waren sehr peinliche Momente, wo ich mir und ihnen nur helfen konnte, in dem ich sie anschaute und sofort ab¬ lenkte (auf das Tragen von Blue 62 jeans Jeans etc.) Der Zug, der im Bahnhof steht, und wie immer noch jemand und noch jemand die Treppe heraufge¬ hetzt kommt, vor Aufregung beim Einsteigen den Schritt ungeschickt wechselt, und dann jetzt noch einer geruhsam die Treppe heraufkommt, am Bahnsteig entlanggeht und plötz¬ lich doch noch, in einem schnellen Ent¬ schluß, auf den Zug zurennt; und wie dann drinnen alle im endlich losfahrenden Zug sich über die starr gewordenen Gesichter streichen Im Café: als ich aufstand und an all den Gesichtern vorbei¬ ging, wieder einmal die Vor¬ stellung der Unsinnigkeit + Lächerlich¬ keit von uns allen, all unserer verschiedenen, zufälligen, nichtssagenden, aufdringlichen Gesichter n Das Gefühl des Hungers, zum ersten Mal seit meinem Gedanken: ein Brennen, Zehren, Saugen im ganzen Körper Das Gefühl, daß mein bisheriges Leben eine Art Schatz ist, und daß, indem ich gehe, mich 63 bewege, ich immer wieder Kleinigkei¬ ten davon gewinnen kann Wie leicht ich immer dumme Fehler mache! Der Fernsehjournalist: "Wir hätten gern ; , daß Sie Stellung nähmen zu dem Film ..., der den bekannten Skandal ausge¬ löst hat." Ich: "Aber ich habe weder den Film gesehen noch das Buch gelesen." Der Journalist: "Das macht nichts. Wir brauchen nur ein paar Sätze." Die Herbsttage, wo es am späten Nachmittag erst ruhig, friedlich + warm wird, bis in den Abend hinein Das ewige sinnlose grundlose Lachen der Schulmädchen Die singend zu ihren Kindern spre¬ chenden Großmütter Sexualitätsstimmung in der Luft wie eine Mordstimmung Das mexikanische Au-pair-Mädchen ‒ beim Bügeln ‒ singt ein Beatles-¬ Lied ganz genau mit, das aus dem Radio kommt ("You're sixteen, you're beautiful and you're mine"), dazwi¬ schen hört man das Schleifen und Klicken des Bügeleisens, und 64 riecht die bügelwarme Wäsche durch die ganze Wohnung Wieder der Mythos vom Narziß: Ob nicht vielleicht das lange unver¬ wandte Anschauen des eigenen Spie¬ gelbilds (im weiteren Sinn der von einem verfertigten Sachen) die Kraft und Offenheit zu langem, unver¬ wandtem, sich vertiefenden Anschau¬ en andrer geben kann? (Der sterile, neue Narzissmus scheint mir der umgekehrte zu sein: das unverwandte, hysterisch Teilnahme a priori behauptende Anstarren andrer ohne Erfahrung, unter Ver¬ leugnung des eigenen Ich: das ist der neue Narzissmus als alte Menschenleere und -feindlichkeit) Die durch den nachtdunklen Raum fliehenden Licht und Schatten, wenn draußen auf der Straße ein Auto fährt, erscheinen als Rauch Ich bin, im Moment, so glücklich, daß ich nicht lesen kann Leute, die sich in meinen Augenwin¬ keln bewegen im Restaurant: sie haben Menschengröße, und es ist bei dem allem doch gut, daß 65 es Menschen sind, statt z.B. Insekten Das Herrische, statt Selbstverständ¬ liche, dieser bedientwerdenden Bür¬ gersöhne; auf der andern Seite das un¬ selbstverständlich Unterwürfige, schein¬ heilig Demütige (bei Fleck auf dem Tischtuch) Zwei junge Burschen, die einander mit undurchdringlich leeren Au¬ gen essend immer wieder kurz anschauen, völlig fremd und doch schülerhaft fremd ... Als ob ich hier, in einem anderen Land, eine Würde hätte, die ich in Ö. nicht habe; als ob, wenn ich dort wäre, das Furzen in jedem Sinn wieder um sich griffe in und an mir [Ich habe hier keine Umgebung] Ein Kind, das auch im entspannten Ruhezustand überall helle weiße Knöchel hat (der Sohn des Mathematikers) Filme des M-lehrers Mathematiklehrers aus dem Sene¬ gal: immer nur Leute in Bade¬ kleidung am Wasser, im Wasser, auf dem Wasser, oder "der Markt", der "so lebendig ist", nicht "so steril wie hier", oder Wasser¬ vögel; als ob nur Freizeit wäre 66 in all diesen Filmereien, und als ob die Freizeit zugleich e völlig in Freizeitgebieten vor sich gehen, ablaufen, verenden müßte 6.10. Zwei alte Männer starben am Ziel eines langen Weges, und im nächsten Moment lagen von ihnen nur noch die Gesichter als flache, ausge¬ schnittene Bilder am Boden Ein Philosophieprofessor fixierte mich und fragte, gleich nach der Vorstellung: Lieben Sie Frank¬ reich? Ich liebe Deutschland nicht. - [Ich konnte nichts antworten] Ich weinte, wieder einmal, im Traum, und ging beiseite, um das zu verber¬ gen, wo ein Friedhof war und sogar die Toiletten durch Kränze an den Türen bezeichnet waren Die Kinder in den Amateurfilmen: als ob sie ihre Persönlichkeit verlören + nur noch Kinder in Amateurfilmen wären und nichts als sogenannte Kinder¬ beschäftigungen mehr verrichteten (sie müssen dann, für den Film, spielen, baden, Wasser spritzen, radfahren ....) A.'s Gurgeln im Badezimmer: wie Urwaldlaute 67 Die Stimme des M. Mathematikers erscheint mir heute morgen wie ein ununterbrochenes, leises Rülpsen Ein Fortschritt: Als ich ein Schimpfen und einen Streit hörte auf der Straße, ging ich einfach, ohne Blickverschwen¬ dung, vorbei Unter dem ganz bedeckten, aber doch schimmernden, strahlenden Himmel ziehen kleine dunkle Schleier von Wolken Manchmal am Tag macht die Zeit doch unvermutete Sprünge, wie wenn man eingenickt wäre Erfahrung, heute, in der Wohnungs¬ dämmerung, im öden Zwieli cht, in der Funktionslosigkeit, daß ich unter der Zeit tatsächlich leide; lächerlich, ich hielt den Atem an , und spürte richtig ein Leiden in mir ziehen, nicht Schmerzen, sondern eine tiefe, gleichmäßige, scheußliche innere Krankheit ‒ und ich konnte zum ersten Mal das Wort "leiden" auf etwas von mir anwenden, wobei doch alle, denen ich davon zu erzählen versuchen würde, nur fragen würden: Wie bitte?, und 68 ich könnte sie natürlich verstehen (Die Empfindung einer alten Nähma¬ schine, die sich langsam in meiner Brust bewegt, ) seitlich) x Die Kinder saßen auf Klapp¬ sitzen in den 4 Ecken des sonst leeren Abteils (Moment der Zuneigung) xDas war ein Augenblick, an dem man entdeckt, daß die Anfälle von Unbehagen nur bis jetzt nur Zeichen eines beständigen Leidens gewesen sind, und als Unbehaglich¬ keiten erlebte man sie bloß, weil man das Leiden sich ver¬ tuschen wollte: Es ist so, wie wenn man sagt: Jetzt bin ich wirklich krank! (Sprechun¬ fähigkeit, absolute) Den Tod eines, den man kannte, unmittelbar mitkriegen: nachher ist das Gefühl, wenn man den Be¬ treffenden nicht gerade liebte, statt Trauer nur Angst Wie A. immer von allen Seiten herbei¬ kommt, die Hände auf dem Rücken, und dann sagt sie, wie gerade: "Ich freu mich, daß ich lebe. Ich freu mich auf irgend etwas, aber 69 ich weiß nicht, auf was. Es wäre schon schlimm, wenn ich nicht le¬ ben würde. Ich freue mich einfach so." 7.10. A. , die sehr leise und sanft im Schlaf sagte: Nein Wie mir immer wieder ein Zusammen¬ sein, das schon ganz offen und selbst¬ verständlich, und weil das so über¬ raschend war, auch warm wurde, da¬ nach abreißt, aufhört "schlagartig", nur weil ich die Antwort auf eine ganz einfache Bemerkung nicht mehr über die Lippen kriege und dann ganz panisch nach Antwortmöglichkeiten suche n , worauf das Zusammensein wieder aus¬ einander flüchtet in ein leeres Ritual von Bewegungen, Sprechen usw.: nach der Harmonie wieder die große Ruck¬ haftigkeit der Augäpfel, der Köpfe, aller Gliedmaßen, der Sprache auch (gestern das Abendessen mit dem M. Mathematiker + Frau) Im Streit und Kampf eines Kindes mit einem stärkeren K. Kind : schließlich nur noch ein gellender, wiederholter Schrei, bei unbewegtem Gesicht, als Waffe ‒ worauf wirklich das andere Kind die Flucht ergreift 70 Wie lang dieses Jahr schon dauert! (Ein stiller Morgen heute, kaum Autos draußen; General¬ streiktag) Ein "notgedrungener" Körper Jemand, der von Kind an keinen freien Ausblick, keinen freien Aus¬ lauf in die Umgebung hat, an der alles ihm feindselig nahe und immer noch näher kommt, würde den einzigen Ausblick an sich selber entdecken, an seinem Körper, und dies wäre eine sehr leichtfertige Begründung für die Selbstverschränkung (oder den Nar¬ zißmus) dieser Person: die eigene Person als Weltgegend ‒ was viel¬ leicht ganz ähnliche Ergebnisse bringt wie eine wirkliche Weltumseglung; und eins der Abenteuer dieser Person wäre die Ent-Schränkung seines Kör¬ pers, der immer übereinandergeschlagenen Beine, der Hände, die immer auf der Brust liegen und sich am Kopf fest¬ halten, zugleich diesen festhaltend ‒ daß schließlich am Körper jeder Teil für sich, ohne Berührung mit einem andern Teil bliebe, in völliger Ruhe, auch ohne Gespreiztheit, nur die 71 Nicht-Berührung zu erreichen, und daß eine Berührung der Teile unter¬ einander dann auch möglich wäre; aber nicht als Anklammern, son¬ dern als beiläufige s , vernachlässig¬ bare s Nebenhandlung, Nebengeschehen, als flüchtige BEGLEITERSCHEINUNG Sonne in der Dusche, und ein Regenbogen im sprühenden Wasser Generalstreiktag in Paris: immer wie¬ der doch offene Geschäfte, fahrende Busse, und doch ein Gefühl, als be¬ stünde bestünden zwischen den einzelnen Tätig¬ keiten und Bewegungen keine Ver¬ bindungen mehr: es herrscht ein loses, abgerissenes Nacheinander, ein zaghaftes Klopfen da, ein An¬ fahrrauschen an einer Ampel dann, und die Leute wandeln wie ver¬ loren, ratlos die Kinder oder Hunde ausführend, wobei man sich selber auch so ausgeworfen und ausge¬ spuckt fühlt wie wohl sie; es ist laut auf den Boulevards, und doch ein bißchen leiser als sonst, sodaß die Halluzinationen an¬ fangen und man vielleicht gleich in ein Auto rennt (und dann 72 wunderte ich mich, daß aus der seltsam entleibten Stadt der Eif f elturm Eiffelturm ragte, hatte die Vor¬ stellung, er müßte an diesem Gene¬ ralstreiktag auch verschwunden sein, wie die meisten anderen Phäno¬ mene der Stadt! ‒) Dann plötzlich wieder, wie jetzt gegen Abend, von der Zeit FREI¬ GELASSEN: mildes, inniges Freiheitsgefühl, wie nach einer tra¬ gischen Erfahrung, die man überstan¬ den hat Unten auf der Straße im Geschäft ist schon Licht an, während oben auf dem Dach eine tiefrote Abend¬ sonne leuchtet: nicht nur rotes Licht auf den Gebäuden, sondern die Gebäude für sich erscheinen als seit jeher rotleuchtend, von sich aus, das Licht erscheint als Farbe der Steine, nicht als Beleuch¬ tung Ein Polarmond mit kalten Wolken¬ feldern darunter Die Haltegriffe im leeren Waggon schaukeln noch immer, obwohl der Zug schon lange steht 73 Einem Kind die Angst ausreden wollen, die man selber hat: "Schau, es gibt so viel Angst in der Welt. Da ist unsere Angst gar nicht mehr nötig. Hören wir doch auf mit unsrer Angst. Es gibt viel wichtigere Angst." So redet man angstvoll dahin, und eine schöne kurze Liebe tritt ein. Nacht; ein Handwerker raschelt und bohrt im Haus; welche Sicher¬ heit! "Wenn man arbeitet, stört man niemanden" (der Schwarzarbeiter) 8.10. Herr G. gestern abend mit einer schrägen Wunde am Hals vom gegen die Reiter über den Weg gespannten Draht Schon am Morgen nur Erinnerungen, die einen in Wut bringen Sich zwingen, an etwas andres zu denken: ein taumeliges Schmerz¬ gefühl, eine Gleichgewichtsstörung; dann lieber die Dummheiten weiter¬ denken, bis sich von sich aus was andres ergibt! Morgendlicher Blick aus dem Haus auf die Straße, wo schon ein noch ganz junger Mann mit seinem schmalen Köfferchen geht und aus einer Dachluke ein 74 Tuch geschüttelt wird, fahlgelber Himmelstreifen im Osten: zum ersten Mal das Gefühl, mit meinem Geld wirklich was zu erleben (das Wolkenfeld bläulich ) , eine Frau, in Hauspatschen, wackelt dahin wie ihr Hund) "Un Paris-beurre" ist ein Sandwich mit gekochtem Schinken und Butter Ein Café, wo der Mann hinter der Bar den Hereinkommenden vorschlägt, was sie nehmen sollten Bierschaum platscht auf den Boden des Cafés Der Mann stellt sich hinter das Mädchen an der Theke und redet so, sich über ihre Schulter beugend, obszön auf sie ein Welke Blätter, die hinter einem hertreiben, als verfolgten sie einen Tage von so klarer, tiefer Schön¬ heit, daß man meint, es könnte nichts Böses von jm. begangen werden; Schönheit, die wirklich jeden, der sie erlebt, überwältigen muß, wer er auch sei, was er auch vorhat: Frieden durch Schönheit, und ein altes Bild steigt auf: die Luft hat Schwingen 75 (liebebegünstigende Tage, An¬ einanderrück-Vorstellung) Ein junger blonder Amerikaner mit unablässig bleckenden m Obergebiß, hat eine fette, wie auf einem sitzende Stimme, als sei er schon ein alter, routinierter Öffentlichkeitsamerika¬ ner, daß einem die Ohren wehtun (Nachdem er vergebens versucht hat, sich französisch dem Kellner hörbar zu machen, wartet er zurückge¬ lehnt, bis der Kellner ihn doch einmal sieht, sehr lange, und fährt dann fort mit seinem Satz: "L'addition") Diese immer bei den l's so vor¬ schießenden Zungen der Amerikaner! Sie ging in einem weiten Kleid auf die Straße hinaus, zum Wahn¬ sinnig werden "Daheim im Supermarkt" Im Unglück unter vielen, die ganz gleichgültig sind: (das Atmen wird zum Klagen) Atmen als Klagen Wie die Redeunlust zu Mordlust wird bei mir Die gleichgültig en plappernden Leute im stehenden Zug, während ich in stummer Panik 76 war: meine ununterbrochenen Kopfabschlagbewegungen gegen sie in Gedanken Und doch, wenn ich, wie jetzt, lange Zeit ohne Angst war, habe ich das Schuldgefühl der Wesen¬ losigkeit Schreckensgeräusche jeder Art dringen ununter¬ brochen aus dem Fernseher Ich prägte mir im hellen Licht die Einzelheiten der Gegenstände ein, die mir später Angst machen könnten Mein Ausdruck, die Äußerungsform der furcht¬ baren Unharmonie ist Wut: Wut auf alles und jeden als Ausdruck des schlimmstmöglichen Wahnsinns (wütend wie die Irre im Postamt!) Stimmen im Fernseher: diese dünnen und doch lauthalsen, naseweisen Stimmen ‒ das kann nur eine Theater¬ übertragung sein Jetzt habe ich vorübergehend vergessen, Angst zu haben (ein Versäumnis) 9.10. A.'s unbeherrschter Schlaf: Körper und Gesicht völlig an den Schlaf hingegeben; die Lippen öffnen sich jeweils leicht beim Aus¬ 77 atmen, so daß die Zähne dann auf¬ glänzen; zugleich bildet sich beim Ausatmen eine kleine Speichelblase zwischen den Zähnen; je näher es dem Aufwachen zu kommen scheint, desto öfter platzt jeweils diese Blase, und die Lippen, dick im Schlaf, öffnen sich immer mehr, während die Augenbrauen zucken und die Wimpern zittern Wie der M. Mathematiker , nachdem er eine Unter¬ redung mit "Okay" beschlossen hatte, nachher auf der Treppe plötzlich das "Okay" nachsang ‒ so peinlich und gestellt mußte ihm dieses leicht¬ fertige Wort vorgekommen sein, daß er es wegsingen mußte Einmal ein ganz langsames, allmähliches Aufwachen erleben. Für viele scheint die Sexualität die einzige Erfahrungsmöglichkeit zu sein, die einzige Weltberührungs¬ möglichkeit Nach jedem langen Schlaf die Selbstberührungssucht verloren haben; es vergehen immer wieder Stunden, bis vielleicht gegen Mittag wieder zwanghaft die Selbstberührungen 78 einsetzen: diese Stunden ausdehnen wollen Eine Schlafkur machen, um end¬ gültig von sich loszukommen In einer neuen Umgebung, und schon wieder stehe ich schwerfällig in den Räumen herum Vorstellung: mit dem neuen Anzug werde ich heute abend keine Angst haben, und nichts kann mir zustoßen Trübe Angst: Meine Augen dürfen sie erst gleich nicht zulassen, müs¬ sen nicht selber noch zur Verfinste¬ rung beitragen; ganz offen und genau schauen ‒ so wird das Licht nicht eingetrübt von der Angst (Vorsätze ) Der gelbe Stuhl, von der Sonne leuchtend im Garten x Der Vollmondhimmel kurz nach Mitternacht ist fast blau, wie kurz vor dem Mor¬ gengrauen; wenige, aber sehr helle Sterne Eine Frau ließ mir sagen, sie habe Angst, gerade ich x sich viel im Haus bewegen, um einem Außenstehenden mehrere Be¬ 79 wohner vorzugaukeln könnte sie verletzen, und hörte dem zu wie einer Tat¬ sächlichkeit, und komme erst jetzt dazu, mich zu fragen, was sie damit meinte (Mein Widerspruch entsteht oft erst im nachhinein, fast nie un¬ mittelbar) 10.10. Plötzlich das Flattern eines Vogels im Haus, am frühen Morgen Als Wie ich gestern einmal, als ich wieder nicht zuhören konnte und meine Anwesenheit nur noch eine künstliche, erzwungene war, dachte, daß der Wahnsinn als absolute Katatonie nur noch eine Frage der Zeit sei D er as trostlos-lahme Glockenschlagen Die Nacht muß mein Element werden! Erdbebensicherheit bei Holzhäusern auf Wiesen Die Literatur betreibt Politik, aber auf eigene Faust Eine allein in einem Park herum¬ wandernde Frau (Jane Austen) "... doch da ihre Art zur Zufrieden¬ heit und ihr Wesen zum Glücklich¬ sein neigte ..." ( J. Austen) 80 "Mach eine Bewegung, damit du wirklich wirst." A. , nachdem sie den ganzen Tag nur mit mir zusammen gewesen ist, ist gegen Abend, als endlich ein Kind kommt, sehr nervös und ratlos; nachher sagte sie, sie wüßte schon , nur mit einem Erwachsenen zusammen, schon gar nicht mehr, wie Spielen geht, hätte das Spielen schon verlernt Ein Auto, das an dem Haus vorbei¬ fährt, und kurz ein wohltuendes Gefühl, als würde man endlich geerdet Ein Buch, das vor fast 200 Jahren geschrieben wurde, aufschlagen, einen Satz lesen und plötzlich das Gefühl haben, man selber habe das ge¬ schrieben ("Schweigend gingen sie weiter ‒ beide tief in Gedanken ver¬ sunken") Eine verlegene Frau "Sie sahen überhaupt vieles, was sie sehr interessierte, aber nichts, was sie zu Fragen berechtigt hätte" Der Zeitkrebs breitet sich aus: jetzt schaue ich auch schon am Abend, der bis jet sonst doch so 81 leicht verging, immer öfter auf die Uhr Auf der Straße wird geredet: angst¬ blocklösend "Sie bedeckte ihr Gesicht mit einem Taschentuch und versank in Gedanken" In der Dämmerung auf lähmend-¬ stillen Straßen gegangen, wo alle Häuser als Fallen für die Bewohner erschienen Der heitere Sonnentag heute und doch kaum ein Moment ohne Angst vor der Nacht, sogar ohne Angst auch vor dem Tag, schon akute Angst, obwohl es noch lange Tag war sein würde; ich las mein Horoskop in diesem Zustand oder, wenn allein, dann unterwegs 11.10. Nach Monaten immer in Gesell¬ schaft, ╯: wieder wie üblich vergessen, wie lastend, nervös machend, gelinde gesagt, das Alleinleben ist; das Gefühl der Schwer¬ hörigkeit am Tag, das Gefühl der Hellhörigkeit bei Nacht; Gespenster¬ seherei Tag und Nacht; das Schuld¬ gefühl des Alleinseins; trotz Lesens, Schauens, Arbeitens, Musikhörens, wie damals oft in der Studentenzeit, die Vorstellung, nichts zu erleben, müßig und 82 dumm und faul außerhalb des Laufs der Dinge zu sein vegetieren Dunkler, windiger, tröstlicher Mor¬ gen: im Abstand fallen die Türen zu, wenn die Leute weg zur Ar¬ beit gehen; Quietschen von Garagen¬ türen; ein Topf wird vor der Haus¬ tür ausgekratzt; ein Mann, auf dem Weg zu seinem Auto, blättert in seiner Brieftasche, den Mantel hat er im schnellen Weggehen über den Arm ge¬ legt; ein Plasti c ksack wird in die Müll¬ tonne geleert und wieder ins Haus ge¬ tragen; alle Leute gehen mit offenen Mänteln; weiße Krägen am Nacken vorschauend, eine Zigarette im Mund; knapp über der Straße immer wieder tauchende Vögel Spatzen, die dabei kurze Morgenschreie ausstoßen; schwan¬ kende Stromdrähte; jemand tritt aus dem Gartentor, nur in offener Strickweste (er ist Pensionist), und schaut nach links und rechts, geht wieder hinein (sperrt das Gartentor zweimal ab); jemand geht in der allgemeinen Eile gemächlich, die Hände am Rücken, mit seinem Hund, der mit dem erhobenen Schwanz 83 wedelt fächelt; das Blinken der Autos erscheint an dem dunklen klaren Morgen als Scheinwerferlicht; ein junges Mäd¬ chen mit der Einkaufstasche, das sich schon mit den Armen rudernd weiterbewegt, als sei sie eine ältere Frau; Keuschnig mit dem schwar¬ zen Köfferchen, einen hellen Wirbel im schwarzen Haar, der freie Arm schwingend beim Geradeausgehen, bewegt sich, festauftretend, unbeirrt vorwärts, ohne einmal zur Seite zu blicken; eine Frau im Popelinemantel, die zwischendurch, mit schwerem Hintern, ein paar Schritte läuft, Handtasche in der Ellenbogenbeuge, große Einkaufs¬ tasche in der andern Hand, und mit ihr erscheint mir sofort ... ‒ und jetzt geht mir auf, daß all die Personen aus meiner erfundenen und tat¬ sächlichen Vergangenheit da am frühen Morgen unten auf der Straße vorbeigehen, und ich selber, das Gesicht dicht an der Fensterscheibe, komme mir vor wie der Idiot des Hauses, der so den ganzen Tag das Gesicht an die Scheibe preßt 84 und hinausstarrt; wieder eine Frau, die mit schwerem Unterleib zu laufen versucht, aber immer nur mit Armen und Schultern Laufbewegungen macht, indes von den Beinen doch immer, wie beim Gehen, eins auf dem Boden bleibt; am Rand fahlheller, sonst fahl-¬ dunkler Himmel Manche sagen statt "Mode": "das historisch Richtige" . , später bezeichnen sie das historisch Richtige als Mode: historisch e Denker Das Gesicht einer jungen Frau, die am Montagmorgen ein Warenhaus betritt: Eigentlich ist es erstaunlich unversehrt (Mein unwillkürliches Selbstgespräch) Der Kritiker R.-R. , der über die " L. F. " schreibt, der Autor, der sich eine Ehekrise so vorstelle wie ich (ein Auseinandergehen ohne Grund, von einem Moment auf den andern, nach 10 Jahren Glück) sei infan¬ til, und die Personen der Geschichte seien "reif für die psychiatrische Klinik" (weil eine sich einmal auf die Erde legt, vorher einen Purzelbaum auf dem ge¬ frorenen Rasen schlägt): diese Fi¬ meine kurze Fassungslosigkeit: dann endlich Wut, die sich in ein 85 gur ist ein Bild auflöst: von einem Exkrement, und nicht einmal einem menschliches n, sondern einem Exkrement ohne Mensch 12.10. Vier Stunden Schlaflosigkeit; Ausbeute: zwei kleine Sätze: danach wohlige schwarze Müdigkeit (In der Schlaf¬ losigkeit werden alle aktuellen Bedrük¬ kungen gleichsam um- und umge¬ wendet, bis jede von ihnen sozusa¬ gen "durchmüdet" einen stillen neuen Platz im Feld des Bewußtseins gefunden hat: dann schläft man allmählich wieder ein) Wolken, lang über den Himmel ge¬ zogen vom Wind, von unten nach oben S.U. am Telefon: sich verabschiedend, geht er gleichzeitig auch schon wirk¬ lich mit dem Mund allmählich vom Telefon weg ( fade out auf Schallplatten) Eine Gegend, wo man laufen darf, ohne daß sofort von allen Seiten die Hunde jaulend gegen die Gitter springen Die Mutter vor der Schule, die end¬ lich ihr Kind sieht, das auf sie zu¬ läuft: im Mundaufreißen geschieht eine scheußliche Grimasse der "freudigen Überraschung" 86 Eine weitere Son deridiotie der Woche: In der L.F. beobachtet das Kind ein Zeitungsfoto vom Hochgebirge im Spätherbst mit der Legende: "Auch um diese Zeit noch locken, wenn das Wetter mitmacht, die Gipfel." Das Kind versteht die U Zeitungs-Sprache der Legende nicht und fragt die Mutter, was das heiße. Die Mutter "übersetzt": "Auch im Spätherbst kann man bei schönem Wetter noch auf die Berge steigen." Diese simple Sprach¬ kritikgeschichte versteht kriegt der Kritiker W.S. nicht mit (Ein Kind, das sich die offizielle Zeitungssprache übersetzen lassen muß), hört versteht bei der ganzen Geschichte nur "Gipfel" und " Berge Besteigen" und wirft dem Autor also "Symbo¬ lismus" vor: Unfähigkeit einer kritisierenden Figur, anders als symbolisch be¬ fangen zu lesen, führt absurder¬ weise dahin, daß er diese Figur dem Autor symbolische Beengtheit vorhält; Vorstellung, daß manche, die über meine Sachen schreiben, diese gar nicht lesen, auch nicht lesen wollen, sondern sie nur rasch auf Indizien absuchen für ihre vorgefertigte kleine "Tat¬ hypothese" 87 Einen Tag war ich jetzt zufrie¬ den und paradiesisch geborgen in Gesellschaft ‒ und schon wieder habe ich mich bei dem chronischen Laster erwischt, das darin be¬ steht, allein sein zu wollen Rückschritt: In der neuen Umge¬ bung fange ich wieder zu laufen an, wenn das Telefon läutet; in der alten Wohnung war ich schon lange so weit, daß ich nur ruhig hinging Fortschritt: Wenn L. früher ihre lyrischen Bemerkungen hören ließ, verzog ich zumindest den Mund, jetzt ziehe ich nur noch die Au¬ genbrauen hinauf In der Pfanne rühren: die Trost¬ losigkeit, die sich über mich stülpt, als ich so wieder einmal die Bewe¬ gungen der Mutter verdopple: die Vorstellung, einfach das Gesicht in die Pfanne stecken zu müssen Meine Beklemmung in dem stillen Haus steckt A. an zur Angst; und meine eigens muntere Ängstlich¬ keit, sie könnte Angst haben, macht ihr dann erst recht 88 Angst Wie ich aus Beklommenheit meine übliche Abendmüdigkeit auch nicht habe im Moment Endlich Jetzt ist auch sogar mir wieder ein¬ mal ein Kalauer eingefallen: "Endlich habe ich das Rätsel dieser Lösung gefunden!" Fast ist es mir schon im Lauf der Jahre selbstverständlich geworden, die Hose an den Bügelfalten über den Stuhl zu legen (ich merke schon gar nicht mehr, daß ich es tue) Und nun, nach der Beklommen¬ heit, gähne ich doch unversehens wieder friedlich 13.10. In der Nacht dadurch auf¬ gewacht, daß ich A. ganz vergessen hatte; Gefühl einer bloßen Hülle, die da lag Es ist wie immer: diese Frau kommt hierher, macht für ein winziges Gericht (Kartoffelpuffer) alle Töpfe der Küche schmutzig; läßt die Butter anbrennen, dann auch die Kartoffelpuffer, daß das ganze Haus bis zum Dachboden stinkt, und muß dann schnell 89 wieder weg, zu einer Sitzung, so daß ich die angebrannten Töpfe, verrußten Pfannen etc. langwierig, fast eine Stunde lang, abwaschen muß, sowie das in der ganzen Küche verspritzte Fett aufwischen, wozu noch kommt, daß ich gar nicht mitgegessen habe ‒ endlich, beim Schreiben, gelingt es mir, diese sich wiederholenden Situationen komisch zu finden Eine Frau, die auf der Bahnhofs¬ bank in der Sonne saß und schmunzelnd einen Brief schrieb Erlebnis einer Hausfrau: In der Küche den angesaugten Schwamm ein¬ mal weniger oft als sonst ausdrük¬ kend, dafür aber auch stärker und langsamer, erlebt sie in ihrem Kopf dazu plötzlich die Musik: zwei Ganztöne einer pathetischen Symphonie (Musikalische Vorstel¬ lungen, Harmonie, wenn die täg¬ lichen Bewegungen verlangsamt werden?) Ein Haus, wo man gern in der Dämmerung ist, ohne das Licht einzuschalten Tag, an dem alles nur schleier¬ 90 haft war, kein klarer Moment, keine Einheit, und wenn, dann ist sie gleich vergessen worden (zu viel Zeitungen gelesen) Eine schlagende Autotür: spürbare Linderung "Eine fühlte für die andre und natürlich auch noch für sich selbst" ( J. Austen) Alle Geräusche fangen bedrohlich an im Moment, werden danach erst erkennbar und harmlos "Doch war ihr Gemüt so sehr beschäf¬ " J. ... war ehrlich überzeugt ebenso¬ tigt viel zu sprechen wie immer. Doch war ihr Gemüt so sehr beschäftigt, daß sie nicht immer wußte, daß sie schwieg." In d er öden Beklemmung erscheinen sogar die kleinen Fliegen als liebe Haustiere "mit dem Ausdruck halb lachender Angst" D. lachte heute morgen dauernd am Telefon, als ich sie fragte, warum, antworte¬ te sie: "Ich habe nämlich schon zu arbeiten angefangen." (Sie hatte also beim Reden immer wieder ge¬ lacht, weil sie sich gestört fühlte?) Stolz und Leidenschaft Vorurteil : Ein Buch, 91 das einem, ganz langsam, bei¬ bringt, daß eine Liebe möglich ist, ja selbstverständlich und notwen¬ dig "Ein Abend der Wunder" Endlich rechtschaffen müde, wiedererweckt durchs Lesen 14.10. Der verweigerte Todesschrei (Vorstellung von einem, der vor den durch den Vorstadtbahnhof schießenden Zug läuft) Heute morgen habe ich A. gar nicht gesehen, obwohl sonst alles wie immer war Heute auf der Straße das Gefühl, viele Leute wüßten, wer ich bin, aber sie gingen weiter, ohne mich zu ver¬ raten (gäben mir auch einen kurzen Blick, der mich in Sicherheit wiegt) Die dicht am Boden dahinjagenden Blätter am Boden: wirklich der Eindruck einer Kavalkade, vor allem, wenn man, über Stufen zu dem Park hinaufsteigend, sie oben dahinsausen sieht An einer Stelle stoben die Blätter von einem Mittelpunkt aus gleichzeitig in alle Richtungen auseinander 92 und ließen einen ganz leeren Kreis zurück Wieviel verbindlicher, harmloser, bübischer ich bin, wenn ich mit jemandem zusammen den Mund aufmache, als wenn ich allein für mich mich durch die Straßen bewege (Vorstellung, auch die andern Be¬ kannten, Friedlichen heimlich zu beobachten, wie sie mit wildem, kühnem Ge¬ sicht fast unkenntlich allein an den Häusern aller Weltstädte vorbeistürmen) D. erzählte von einem "Jungen", dessen Art es war, immer mit Leu¬ ten zu sein, auch wenn er allein war: er war immer drauf eingestellt, Leute zu treffen, auch Freunde, und sofort für sie da, zu allem immer bereit Gegen Mitternacht fangen wieder einmal die Gegenstände (wie z.B. ein übers Sofa geworfener Pullover) zu krauchen an, in den Augenwin¬ keln (Monster) 15.10. So wie ich oft etwas nur geistesabwesend tue, so denke ich manchmal nur geistesabwesend (und fordere mich dann auf, doch 93 auf das zu achten, was mir durch den Kopf geht) Als ich ihm einen den Vorwurf machte, lächelte er abwehrend, als hätte er es mit diesem Vorwurf schon oft zu tun gehabt, aber nicht von Seiten andrer, sondern von sich selber Die sonnenbeschienene Steinmauer am Morgen: sie nur beiläufig aufnehmen, damit das nicht wieder so ein schöner Moment wird, nach dem dann vieles andere sich be¬ sonders kalt und feindlich zeigt Frauen, die zum stehenden Zug laufen, halten dabei eine Hand geziert von sich weggestreckt, Daumen und Zeigefinger zusammen¬ gelegt, kleiner Finger abstehend, als hielten sie eine Tasse Tee Ich saß lesend da, und der vorbei¬ rasende Zug blätterte mir das Buch um Tief in Gedanken mich eine schöne Viertelstunden durch die Métrogänge bewegt "Silent Movie": das Gefühl, mich gesund und stark ge¬ 94 lacht zu haben "Er besann sich gerade noch recht¬ zeitig auf seinen Humor" Die Journalistin zog auf das, was ich sagte, immer nur zustimmend den Atem ein: antwortete t "Oui" immer nur mit den m Einatmen King-Kong: Nun fing sein Herz zu bluten an Den Bauch voll Pommes frites wie eine Friteuse , phantasielos davon Jemand, der mitten im Vögeln aufhör t en und sag t en würde: "Ich weiß nicht weiter" 16.10. "Er warf sich wie ein Fisch im Bett herum" Die Métro fuhr in einem entfern¬ ten Flur vorbei wie ein "anderes Gespenst" (ein wenig erinnernd an die Gespenster in Disneyland , die alle auch nie nahe kommen) Die Frau hockt mit dickem Hintern meditierend im Zimmer, so daß die Kinder nur noch zu flüstern wagen, und der Mann wäscht in der Küche Geschirr ab Ein anderer Blödsatz der Woche: "In der Tat, wir müssen wieder ler¬ 95 nen, geschichtlich zu denken, Ver¬ gangenes und Gegenwärtiges, Fortschritt¬ lich-Latentes und Rückschrittlich-Po¬ tentes einander gegenüberzustellen, und das sehr konkret ... Geschichtlich be¬ gründet, vernünftig denken, das heißt lisieren ..." ( W. Jens): "Geschicht¬ lich denken" ist also gleich: Vernünftig denken, und solche ein Sa ätze ist sind also ein geschichtlich begründete r , vernünftige r Sa ätze, und geschichtlich denken heißt also rollschuhfahren, und rollschu hfahren heißt also Ohrensausen, und ab jetzt werde ich also "geschichtlich denken"; das ist die beste Ausfallversicherung , für den Fall, daß die Gedanken völlig aus¬ bleiben (O Wittgenstein, komm wieder!) Frage, die mir durch den Kopf ging während eines Telefongesprächs mit der Frau eines Toten: "Ist W. immer noch tot?" ÜBER DIE DÖRFER (Theaterstück in 5 Abschnitten, Kapiteln) : Großstadt / Autobahncafé / Dorf / Autobahncafé / Großstadt) 17.10. Frau G.'s echter Schmerzens¬ schrei, als ich den von ihr gebügelten Hemdenstapel einfach in eine Lücke 96 der Plastiktragetasche stopfte Frau G.'s Lamento über das Motten¬ loch im Handschuh als gäbe es nichts Tragischeres als solch ein Ereignis; dagegengesetzt das Lob ihres trocke¬ nen Kellers , wo es keine Motten geben könnte Frau G.'s Wortaussprechschwierig¬ keiten (es kommt oft ein völlig verballhorntes Wort heraus beim Reden ‒ wie bei mir übrigens auch; L.'s Stocken mitten in ihrem feierlichen Gerede mitten in einem WORT ) ; und dann sie trennt Wörter beim Reden, aber nicht nach Silben, sondern so¬ gar gegen die Silben) Ich bemerkte, wie ich beim Schach¬ spielen mit Herrn G. von der Stelle des Schachbretts, extra wo die ich be¬ drohte, extra woandershin schaute Die Eile, am Morgen sofort das Bett zu machen, als hätte man etwas zu vertuschen Am folgenden Tag: die Frau hockt in schnaufender Meditation vor der Tapetenwand, das Kind spielt da¬ neben mit Münzenhaufen, der Mann wäscht im Badezimmer die Socken des Kindes. 97 Alleine am Tisch sitzend und aus dem Fenster blickend die schon verlorengeglaubte Energie zur Zuneigung wiedergewonnen Die Blätter glänzen an den Bäumen, als ob es wirklich die letzten wären Gedanke: Würde ich jetzt sterben, wäre ich ganz verschwunden, weil ich nicht darauf gefaßt war; in anderen Momenten wäre ich aber durch den Tod nicht abgeschlossen ‒ nur eben jetzt gerade, wo ich nur so dahinexistiere, dösend (lesend), ohne ganz existent zu sein In der Nacht schüttelt jemand am offenen Fenster Decken aus 18.10. Als ob mich auch die Träume nicht mehr über¬ raschen könnten Beim Gehen, als es allmählich schön wird, die Arme heben Wie seltsam das Schachspiel an¬ fing: keiner von beiden wollte spielen, wir m nahmen nur die Figuren in die Hand, die besonders schwer waren, probierten einen Eröffnungszug mit dem Bauern, der andre probierte eine Erwi¬ derung, und schon zogen wir 98 weiter, schon spielten wir, stumm zwei Stunden lang, in der beiläufigen, unbequemen Hal¬ tung, in der wir uns zu dem auf dem Boden stehenden Brett hinge¬ hockt hatten Auf einem Plastiksitz des Vorort¬ zugs steht mit Kugelschreiber ge¬ schrieben: " J'ai lu un poème / BARCAROLLES de PABLO NÉRUDA coll. Gallimard / L e isez-le, je vous en prie. C'est trop beau" Darunter, in einer anderen Schrift Er schaute im Morgenzug aus einer Entfernung eine Frau an, mit der er früher einmal zusammen gewesen war, und dachte: Was für eine Schande. Eine genaue, gefühlvolle Ge¬ schichte; und das Gefühl liegt in der Genauigkeit des Erzählten, nicht in der Aufzählung eines Gefühls Kalter Regentag: Sich in die Arschfalte einer schönen Frau bergen Jemand liest eine Zeitung, die so aussieht, als sei damit schon je¬ mand zugedeckt worden Unter meiner Arbeitsjahresbilanz an¬ führen: 4 Socken gestopft Ich wies laut das Kind zurecht, 99 mit Worten, mit denen ich aber vor allem zugleich die Frau zurecht¬ weisen wollte (Ich schimpfte vor A. über den Schmutz und die Unordnung in ihrem Zimmer und merkte, daß ich diese Vorwürfe so indirekt feige ihrer anwesenden Mutter machte) Ganz erleichtert, daß für den Rest des Abends keine Hoffnung mehr ist, etwas zu denken In der nachmittägigen geschäftigen Bahnhofs¬ halle ein maschinelles Schaben als einziges durchdringendes Ge¬ räusch: es kommt von einem einzelnen alten Mann, der beim Gehen die Füße nicht heben kann und langsam dahin schlurfen muß Im Stumpfsinn erschien er sich als ein fast geschmolzener Rest von einem Schneemann, ein schmutziggrauer Haufen, das ie Form schon weggefressen von der normalen Welt Gedanke an eine Journalistin, die von der schon lange nichts mehr zu lesen war: Hat sie denn Krebs gekriegt? (Gefühl, daß Kultur¬j. besonders früh sterben) Seltsamer Moment gerade, als ich mich auf die Angst freute in der ich endlich wieder aufmerksamer und wacher sein würde, nicht 100 so reduziert zu einem spießigen Menschen in einem Haus, wie jetzt, da ich mich in Gesellschaft weiß 19.10. Wenn ich, wie oft, mein mir eigenes Lebensgefühl verliere, erscheint mir das Leben andrer wie eine Drohung; die Definitionen der Realität kriegen ihre erpresserische Gesetzeskraft zu¬ rück Ich wunderte mich gerade über den runden dunklen Kuhfladen unten im Gar¬ ten, mit dem Loch in der Mitte; es war der aber nur ein nasser Baumstrunk Mit Herrn G. in der Bäckerei zum Kuchenkaufen; er sagte: "Nein, den Kuchen bezahle ich, Sie geben ja den Tee." (Die immerwährenden Revan¬ chen, bis zur Lächerlichkeit, zwischen Leuten, die doch nicht ganz befreundet sind) Tag der Verwechslungen: Ich hörte unten im Haus ein fürchterliches unterdrücktes Weinen, als sei nun die Katastrophe da, und das sei die Art ihrer Mitteilung ‒ aber es war nur Hundegebell in einem Garten irgendwo Wieder einmal die f Freund¬ 101 lichkeit und Heimeligkeit eines blöd dahängenden flauschigen Handtuchs er¬ lebt Immer wieder im Lauf des Tages ver¬ gesse ich, was ich tue, denke etwas, es gleichzeitig schon für immer ver¬ gessend, und halte doch manch¬ mal wenigstens inne und VER¬ FOLGE MICH ZURÜCK , bis es nicht weitergeht , bis ich mich eingeholt habe und davon stark werde Tischgesprächen zuhören, wie z.B. jetzt über Norwegen und "die Nor¬ weger": wieder einmal der Vorsatz, nie mehr was zu sagen (vor allem, weil ich in mancher Ver¬ legenheit = Gefühlsunsicherheit , mir auch ähnliche Sätze dauernd zu¬ stoßen und mich dann auf einige Zeit nachträglich existenzunfähig machen) Ganz selten: erweckt durch ein Essen statt stumpfgemacht und auf diese entfremdete Weise "sinnlich" ( geistlose Sinnlichkeit als Funktionsd bloßer d Drang) Eine Frau, die in ihrem Körper drinsteckt, eingezwängt, und so nichts anfassen kann, höch¬ stens mit spitzen Fingern 102 Ein alter Mensch mit rotem Gesicht, triefender Nase und blauer Arbeits¬ hose rief einem Nordafrikaner, der mit Besen und Eimer auf der andern Seite der Gleise ging, zu, wie es ihm gehe. Der Nordafrikaner fragte das gleiche zurück, und der Alte, während ein Zug ╭ schon sich rumpelnd näherte und sich zwischen die beiden schob, schrie hinüber: "Ah, es geht überhaupt nicht, ich werde bald krepieren!" Dann zog er ein rot schwarz rot-schwarz kariertes Taschentuch heraus und schneuzte sich, daß ihm die tränenden Augen noch mehr hervortraten Wenn in einem Film ein Mann, von dem man nichts weiß, bei einer Frau stehenbleibt und sie anschaut, breitet sich sofort Trivialität aus, und daß er das vielleicht aus Verlassenheit tut, wird kaum mehr glaubhaft werden: der Film hat die banalen Augen einer banalen Frau in solchen Mo¬ menten (nicht nur in solchen) [Rich and Strange] Gesichter von Frauen im Zug: es fehlt nur noch der Geschlechts¬ akt, daß sie schön würden 103 A.'s Unfall mit dem herausgeschla¬ genen Zahn: Ich bemerkte an mir, daß ich erst di da ein "straffes" Ge¬ fühl bekam, als ich jemanden gefunden hatte, gegen auf den ich wegen des Unfalls eine Wut richten konnte Jemand will schreiben und sucht wieder und wieder im Haus nach einem Stuhl, der auch ja nicht knarrt; meine Wut bei der Vorstellung dessen, was er so schreiben würde nach der langen, wichtigtuerischen Suche nach dem nicht-knarrenden Stuhl (ähnlich der kalte n, tiefe n Wut Abscheu damals vor Jahren, als bei mir in meiner Wohnung sich jemand an einer Er¬ zählung versuchen wollte und vorher wichtig meinen ganzen Schreibtisch mit Zetteln auslegte, auf denen je eine Satz Notiz stand) Doch noch kurzes Wärmegefühl tagsüber, wenn man weiß, daß am Abend ein seltener Film im Fernsehen sein wird [wie heute ein alter "Tarzan"] oder ein e Fußballspiel (auch wenn man den Fernseher danm n gar nicht anschalten wird) Am Seine-Ufer, wo es windiger ist als woanders, ist das Laub schon viel schütterer 104 Als ich wieder an dem explodier¬ ten Haus vorbeiging, war schon eine neue Mauer aufgezogen, wo es vor 3 Wochen jemanden auf die Straße geschleudert und getötet hatte; nur die Tapeten waren noch immer die des toten Bewohners Wieder Noch eine Verwechslung: ich glaubte, schlechten Atem zu haben, dabei fingen nur die Kochgerüche an ( wieder einmal meine alte neue Mordlust bei Küchengerüchen in meiner Umgebung) Beim Kinderfernsehen wünscht der Wunsch, daß endlich das Reklame¬ fernsehen folgen möge Plötzliches Lustgefühl bei dem Ge¬ danken an Holz, das man gleich sehen und in der Hand halten wird A. , die, wenn man sie anfährt oder wenn sonst eine Feindseligkeit auf sie eindringt, sich auch sofort, und zwar schon reflexhaft, zu einem Buch flüchtet, wie ich "damals" (statt in ein andres Zimmer zu gehen oder in eine Ecke) Das laszive Gesicht einer kaugum¬ mikauenden Blinden (das Laszive waren die Augen) 105 Eine fixe Idee: Ich könnte ohne meinen Willen, gegen ihn, in Ge¬ schäften etwas stehlen (mitgehen lassen, ist da der bessere Ausdruck); heute hätte ich im Restaurant beinahe automatisch nach einem Schirm ge¬ griffen und ihn "mitgehen lassen" Ein schöner Anblick heute abend: Als Cheeta, der Schimpanse, vor einem Löwen floh wie eine zusammengerollte schwarze Spinne "Jemand, dem alles körperlich schon mißfiel, was nicht sein Eigen¬ tum war " ; andrerseits verachtete er jedes Eigentum" Im "Spiegel" das Wort "tot" le¬ sen: als ob das in dieser Zeit¬ schrift ein unerhörtes , Wort wäre (ein Fehlgriff ) , ein Stilbruch) Noch ein Exemplar der "Fixen-¬ Idee-Sammlung": Ich hätte noch so lange zu leben, als Zahnpasta aus der Tube kommt Zeitweise Existenz, wo einem zwar alles be¬ wußt ist, aber nichts einen beschwert: Gefühl der Wurstigkeit, das auch un¬ heimlich ist; Momente der FRECH¬ HEIT gegenüber dem Tod 106 20.10. Schöne Zeit des Aufwachens, wo man noch selber zwischen dem Ge¬ rümpel und Durcheinander der Träume liegt, ein Teil davon, behaglich, und das Gehirn sich noch nicht davon abgesondert hat, um darüber nachzudenken, als ein bloßer, fühlloser kalter Punkt von außen, aber doch als Wach-Ich ganz unvollkommen die Stelle des gerade noch gefühlten, warmen, ins Durcheinander aufgegangenen Traum-¬ Ichs einnehmend x Zum läutenden Telefon hingehend, wußte ich schon, daß ich, wer es auch sein würde, nichts zu sagen hätte x (und erst mit dem Aufstehen und den ersten Tätigkeiten wachsen Körper und Gehirn wieder zusammen) Empört über ein neues Loch im Socken Die Fensterflügel aufmachen, und die Geschehnisse der Nacht fliegen hinaus in Gestalt einer kleinen Fliege Meine "Angstvitalität" Wie lange ich immer oft brauche mit den Entschlüssen; erst wenn ein Entschluß mein Körperteil geworden ist, kann ich ihn ausführen Obwohl ich, mich einer Gesell¬ 107 schaft nähernd, nicht vorhatte, auch nur ein Wort zu sagen, räu¬ sperte ich mich vorher unwillkür¬ lich Ein Kind wurde schon so oft von Erwachsenen gerufen: "Komm ein¬ mal her!", ohne daß dann etwas geschah, daß es auf diesen Ruf schon gar nicht mehr reagiert "Just a perfect day": Wie lang ist es schon hier her , fällt mir ein, als ich dem Lied zuhöre, daß ich einen geglückten Tag beschreiben wollte! Ich suchte Papier, um einen Brief an eine Freundin zu schreiben, und während ich suchte, fiel mir plötzlich ein: Sie ist ja gar nicht meine Freun¬ din! Langausgestreckt auf dem Bett nach der Auflösung der Panik, als A. , die um 4 kommen sollte erst gegen 8 kam, er¬ lebte ich die Erscheinung der Mutter als tiefsten Schmerz, über den die Erscheinung zugleich in tiefstem, sanftestem Ver¬ ständnis zu lächeln begann Vor der offenen Haustür stehend in der Panik: der Nachbar und die Nachbarin kamen nach¬ 108 einander nach Haus, und ich er¬ widerte ihren Gruß mit ganz norma¬ ler Stimme, die nur beim zweiten Mal, in der höchsten Panik, schon etwas belegt war Wie Panik beschreiben? Äußerlich: Alle Unarten jagen einander: am Hand¬ rücken schnüffeln, in der Nase bohren, kratzen, Haare ausreißen, dabei sich in einem fort nach Stäubchen auf dem Boden bücken ‒ eins gibt das andre oder geht gleichzeitig vor sich, wobei ich dauernd Andeutungen mache, die Hände zu falten und Betfragmente ausstoße; alles wird bedrohlich sym¬ bolisch: der Abendstern, der mir noch gerade als Offenbarung erschien, wird nun nachträglich in seinem Auf¬ glitzern am Westhimmel das Zeichen für den gerade passierten Todesfall, Aufscheinen des geliebten Toten in die¬ sem schon lang nicht mehr so offen¬ sichtlichen, deutlichen Stern; sich unablässig bewegen müssen; die absolute Hilflosigkeit bei der Vorstel¬ lung der Entfernungen in der auf einmal ungeheuer großen Stadt, in der man, der alles verloren hat in Gefahr ist, alles zu verlieren, nichts 109 verloren hat; Gefühl der tiefsten Nacht, obwohl erst früher Abend ist; Gedanken an das Messer, das man sich hineinrennen wird; und dazwischen Gedanken an die in diesem Fall zu viel gezahlte Miete; Schadenfreude sich selber gegenüber: "Geschieht dir recht!", daß man die Katastrophe verdient hätte, weil man sich bis jetzt zu oft bei Nebensächlichem aufgehal¬ ten und dieses aufgeblasen hätte als Leben: Un- Gefühl der Schande und der Schuld, ohne Tragik; die Panik ist gefühllos; und doch gab es Ansätze zu den tägli¬ chen Verrichtungen, als ob deren Ausführung eine Ordnung die übliche Ordnung nach sich ziehen könnte: Schließen der Fensterläden, Ab¬ waschen von Gläsern usw.; große wunde Leere in der Brust, und die nicht einmal traurige, einfach nur fühllos tatsächliche Gewi߬ heit, daß einem nicht einmal der Wahnsinn oder der Selbst¬ mord offenstehen, sondern daß man einfach fassungslos 110 weiterleben wird müssen, bei vollem Bewußtsein, auf un¬ absehbare Zeit (und jetzt, nach der banalen, und trotzdem, wie bis jetzt immer ‒ und deswegen ge¬ rade die Panik ‒ nie vorhersehbaren Auflösung der Nachklang des heime¬ ligen Geschirrabtrocknens, das mir schon morgen nichts mehr bedeuten wird) Ich sah v Vor kurzem das Gesicht eines Mannes, der eine Frau anzu¬ sprechen versuchte: er war ähnlich in Panik und durcheinander wie ich heute, völlig verzerrtes, hoffnungsloses Lä¬ cheln im Moment des Ansprechens [Wieder einmal die Zwei-Einigkeit mit der Mutter im Welten-Schmerz] Sie hat keine Gefühle; was sie dafür ausgibt, sind immer nur Ideen, die sie davon hat, wie Gefühle sein sollten: sie ist voll Ideen von Gefühlen (Zugleich war ich voll bitterer Wut auf den, der mir diese Panik machte ...) Und nach allem wiegt mich mein Herzschlag richtig wie einen 111 Irren oder einen Säugling Alle 21.10. Alle Die Politiker, die ich bis jetzt in Fleisch und Blut gesehen habe, erschienen mir fleischlos und blutleer, im Brustton gespielter Überzeugungen quäkende Puppen; in immerwährender, lippenbewegender, gestikulierender Kommunikation begriffen wie De¬ bile, der Mund und die Augen vom permanenten Auf¬ merksamkeitsvortäuschen wie für immer zu schiefen Parallelogrammen verzo¬ gen, von Leibwächtern grundiert, deren stumpf-lauernde Teilnahmslosig¬ keit eher an Irrenwärter denken ließ, während die von ihnen Bewachten im Vordergrund weiterhin der frechen Beteuerung ihrer wohlwollenden Verständnisbereitschaft nachkamen, vom Selbstmord so unend¬ lich weit entfernt wie vom Leben Im Vor dem blau dämmernden Tageslicht vor dem Himmel im Fenster erscheint die Spitze der Bal eisernen Balkonverzierung, noch ganz schwarz und festumrissen, jetzt als ein Pfeil, oder als ein einzelner mo¬ numentaler Zeiger, der schon auf den bevorstehenden Morgen zeigt und Tag gerich¬ tet ist (jetzt, im Tageslicht hat die Verzierung das Pfeilhafte verloren, ist nur noch Verzierung Zierrat) Leute, die am frühen Morgen 112 auf der Straße wie noch in Haus¬ schuhen gehen Balkonverzierung kleine eh. Zeichnung (Fineliner: rot), mit korrespondierender Notiz Gestern in der Panik die Vorstel¬ lung, daß ich was opfern müßte, was zerreißen, wegwerfen müßte, um das Unheil doch noch abzulenken (so wie ich beim Tod der Mutter mir sofort die Haare ganz abschneiden, abrasieren wollte: "I almost cut my hair" ) ; immer wieder die Vorstellung, die Haare abzuschneiden, wenn die Katastrophe droht; die eitlen, langen Haare) Und jetzt fällt mir ein, daß ich panisch überall die Heizung abstellte, in einer wahnwitzigen Vorstellungsver¬ bindung von Wärme und Verwesung: die Kälte heute morgen im Badezim¬ mer! (Bei dieser Entdeckung der komische Gedanke: Aus mir wird nie ein ordentlicher Sozialist!) Durch die in der Panik ausgerissenen Haare kann ich mich heute wenigstens leichter kämmen ... Selbstlose Bereitschaft zur Außenwelt, zu den Erscheinungen nach einem 113 tiefinnerst vor sich gegangenem gegangenen Ereignis bei m Meine komisch medaillonarti¬ gen Abbilder auf den vielen kleinen Blasen in der Teetasse, die nun all¬ mählich platzen Nach der Panik: Traum von der Verleihung eines Literaturpreises Der mürrische alte Faschist geht vorbei, während ich die Fenster putze; nun sieht er, daß ich nützliche Ar¬ beit verrichte; aber ist im Kopf eines F. Faschisten das Fensterputzen eines Mannes eine nützliche Arbeit? G. rief mich an, die aus dem Büro, wo sie arbeitete, entlassen wurde, weil sie einmal vergessen hatte, einem Brief die Unterlagen hinzuzufügen, und ein andres Mal nur den Namen des Adressaten, nicht seine Firma, auf den Umschlag getippt hatte; sie weinte und sagte, Sekretärinnenar¬ beit sei keine Beschäftigung für sie; was also? Nichts, sagte sie: für mich gibt es keine Arbeit. Nun, arbeitslos wieder einmal, malt sie , wieder ein¬ mal ein Bild. Während ich ihr zu¬ hörte, war ich zuerst mehr bei dem Herbst¬ 114 licht draußen , : hinter den schat¬ tigen Blättern durchleuchtete Blätter, ich wollte weiter das Fenster putzen, um das besser zu sehen; plötzlich die Vorstellung, G. wäre tot würde bald sterben und hätte mir vorher so am Telefon (= kaltes Medium) ihr Leid deklamiert: so gelang mir eine episodische Anteilnahme Der Machtstreit in China jetzt: wie schnell da die Berichte über die Mächtigen, Machtgierigen, Entmachteten etc. das die Vertrautheit mit einem Volk wieder aufheben; über das Inbild von selbstlos selbstbewußt arbeitenden und lebenden Menschen, mit denen ich mir an einem Tag vorstellen konnte, ohne persönliche Umstände umzugehen, am andern Tag ihrer elysisch en idiotischen Ge¬ meinschaft nichts als Arsch-Tritte zu geben, drängt sich das er alte dumme Abbild Inbegriff von ein paar Leuten auf, die "verraten", "fälschen", "morden", " Inbegriffe mordlüsterner Buchhalter auch dort, alte Palastgeschichten, schweinische Geschichtsdramen, die andre schauern machen vor der Erhabenheit der Ge¬ schichte, bei mir aber nun einen unüberwindlichen Widerwillen 115 gegen China auch dieses gepriesene System festsetzen, das nun auch der Inbegriff eines STAATES geworden ist, NACH¬ RICHTENINTENSIV statt ERZÄHL¬ BAR. ( Wann wird Erst wenn es endlich Er¬ zählungen aus diesem Land g e äbe n statt Wandzeitungen, Gedichte statt Pekingopern, Bilder statt Emblemen, würden d vielleicht hinter dem totenstarren Inbegriff Staat wieder ein Land und nähere oder fernere Leute erscheinen: so aber ist erscheint auch China, nicht allein durch die Art der Nachrichten darüber , sondern schon dadurch, daß es, statt weites Erzähl be feld, bloßes Nachrichtenobjekt ist, als ein staats¬ starrender Leviathan wie nur irgendeine Menschenverwaltungs¬ maschine, zu derem Wesen es gehört, auf den Kosten der Namenlosen verrückt zu spielen) Wie die andern Leute wohl ihre tägliche Schuld aushalten? Be¬ herrschte Gesichter jedenfalls Aufatmen sonst immer, wenn ich ins Freie trat; hier passiert es mir zum ersten Mal, daß ich aufatme, wenn ich durch das Haus gehe 116 Wieder mein Blick zur Seite ins Leere, jener Blick Ben's aus "Schau heimwärts, Engel", der, anderen zuhörend, stumm damit sagen wollte: "Nun hör dir das an!"; ich freilich meine mit die¬ sem Blick eher, "mein Engel" solle sich anhören, was ich gerade, in Ge¬ sellschaft redend, von mir gebe: dieser Blick zur Seite, wo nie¬ mand ist, als eine Art Ansuchen um Absolution Nach der überstandenen Panik: Heißhunger Dieser Tag heute ist so schön, so (innerlich wärmend), daß man mit niemandem reden, niemanden Treffen, niemanden kennenlernen möchte Neugier, wie dieser "Roman", an dem ich hier täglich schreibe, enden wird (und ich möchte ihn bald enden lassen sehen, ) und ganz zufällig) Schön: in einen wartenden Bus einstei¬ gen, wo schon ein paar still sitzen, aber der Motor noch nicht angelassen ist Paradiesische Vorstellung von einem mathematisch waltenden, ohne Verwalter und Regierer 117 funktionierenden Weltstadtstaat, während die Herbstsonne in den Bus hereinscheint und wir da alle zusammen sind, ohne voneinander was wissen zu wollen oder zu sollen "Laß mich doch einmal unbeschwert sein ‒ morgen gibt es für mich habe ich eh wieder nur meine kalte n Füße" "Ich komme mir schön vor nach den überstandenen Todesmomenten" Wie sie mich herumkriegen wollte: "Du hast so eine traurige Stimme." Dabei war ich nur teilnahmslos. Erinnerung an das Gedicht eines Schriftstellers, wo mir, damit ich erführe, was Wirklichkeit sei, vorge¬ schlagen wurde, als Tankwart zu arbeiten: die Biographie dieses Au¬ tors (jedenfalls, die er immer anführt), ist auch gepropft mit solch wirklich¬ keitsfetischistischen Berufen; wahr¬ scheinlich war er auch Tankwart, und wahrscheinlich vielleicht ist deswegen das, was er dichtet, so harmlos wie die Geschichte der "Drei von der Tankstelle" Jetzt endlich: wohltuende Taub¬ heit gegenüber allen möglichen 118 Eindrücken Die lieblichen kleinen Mädchen im Schulhof, und die Männer, die sie von denen sie alle kaputtgemacht werden werden Die Zahnärztin konnte keinen Satz zu A. sagen, ohne ein Kosewort dazu¬ zusetzen, in rer zur Voraus-Beschwich¬ tigung ╱ x als sei sie zu lange Hausfrau gewesen, Die schüchterne Vertreterin in der Apo¬ theke, x die, nachdem sie schon lange im Hintergrund gestanden hatte, zum immer eleganten Apo¬ theker (immer im schwarzen, gestreiften Anzug, ge¬ färbtem Schnurrbart) sagte: "Ich glaubte , Sie seien beschäftigt und habe Sie deswegen nicht gleich angeredet!" Der A. Apotheker , der untätig, mit seiner Haltung und seiner Stellung im Laden beschäftigt, dastand, gab sich einen Ruck, aber einen Ruck von der Frau weg, und sagte: "Ich bin auch so beschäftigt." Es war, außer der Vertreterin und dem A. Apotheker , niemand im Geschäft außer mir, und ich war schon abgefertigt. Beim Hinausgehen grüßte mich der A. Apotheker freund¬ lich wie nie, fast inbrünstig, als wollte er der Vertreterin den Unterschied zwischen ihr und einem Kunden vorführen Schwierig: im Zorn trotzdem 119 die Beherrschung nicht verlieren (als sei das nur in alten Romanen möglich gewesen ) ; was heißt "nur"?) Der Sommer ist vorbei, und wieder fängt die Fernseherei an Kaum schlief das Kind ein, wur- den seine kalten Füße warm Der im Nachtwind trocknende Geh¬ steig 22.10. Wenigstens im Traum denke ich nicht ans Schreiben: Erleichterung durch Träume n ; das wird diese werden jedenfalls nicht immer wieder angehalten zum Formu¬ liert werden .... ... Im Lauf der Zeit Fortschritt: Im Lauf der Zeit habe ich akzeptiert, daß andere im Moment was Nützlicheres und Besseres tun als ich gerade ... Noch einmal China in den Nach¬ richten: als seien dort alle die Wesen verstaatlichte, leergeschleuderte Funktionen, funktionierende Funktionäre ihrer Funktionen, Claqueur-¬ Existenzen der Cliquenwirtschaft in einem dialektisch-materiali¬ stischen bloßem WIRTSCHAFTS¬ LEBEN ‒ und doch glaube ich nicht all diesen Nachrichten von den Todeserklärungen durch Verstaatlichung; die Verschollenen 120 werden sich einmal melden und ihre Geschichten erzählen; und dabei lebendig erscheinen wie das nur möglich ist bei schon Totgeglaubten ("Der Totgeglaubte erscheint springlebendig"): Nieder mit den Nachrichten! Und andre Erzählungen als die der "Reisenden" ! Sie fragte mich, ob ich mich schon er¬ holt hätte von vorgestern. Dabei wollte ich mich gar nicht "erholen", sondern die Ruhe und durchlässige Ruhe der Nach-¬ Panik immer behalten Beim Schuhputzen gerade, als ich alles Nötige sofort zur Hand hatte, fiel mir ein: "Er hält seine Sachen gut beisam¬ men ," ", als ob eine ältere Frau das an¬ erkennend von mir sagte: pedantisch werden mit den Jahren In Ekstase nach 1 Stunde Haus¬ arbeit (vielleicht nur vom Dampf der Wäsche unter dem Bügeleisen) Gerade dachte ich: Vielleicht Es wird es doch einmal möglich, daß ich meine Beklemmung vor der Schön¬ heit und dem Glücklichsein verliere (Ich merkte, daß ich beim Notieren das "Gerade dachte ich" unterschla¬ 121 gen wollte: als hätte der dazuge¬ hörige Gedanke schon von vornherein eine Gültigkeit und Fertigkeit über den Augenblick hinaus) Der Ausdruck z.B. : "Nicht einmal im Traum" [habe ich daran gedacht, hätte ich mir das das vorgestellt]: Die Umgangs¬ sprache, die bis jetzt immer mein Arbeits¬ material war, erscheint kommt mir inzwi¬ schen oft so schlagend, wahr vor, daß sie zugleich jede ä Änderung smöglich ¬ keit der von ihr ertappten Menschen zugleich unmöglich erscheinen läßt; meine Vorstellung, daß es immer wieder eine andere, neue Umgangssprache geben sollte, keine einzige, ewig wahre; aber diese neue Umgangssprache (ich meine nicht Jargon od. Dialekt) kann ein einzelner nicht erfinden ... Ein Mann in einem blauen Blazer geht mit einem Kind spazieren, als sei er ein frisch Arbeitsloser (so unge¬ wohnt scheint ihm am Werktag das Gehen mit einem Kind ) ; er bewegt sich leicht nach hinten geneigt, unbehaglich, als leiste ihm diese Welt einen Wider¬ stand, und sei nicht sein Element) 122 Angebettelt, schaute ich in Verlegen¬ heit auf andre Leute; verlegen, daß ich mich zu andern geflüchtet hatte, schaute ich auf die Uhr (Gedicht) Langweiliges Pissoir: keine Auf¬ schriften Ein Polizist, der sich bloß nach etwas bückt, das einem andern hinunter¬ gefallen ist: bei mir sofort die Vor¬ stellung, der Polizist sei dabei, jemanden zu überwältigen und ab¬ zuführen (nur wegen der un-ordent¬ lichen Bewegung) Jetzt ist Mittag, und eine Bürodame ( "Ladenmädchen" gibt es ja keine mehr) nach der andern tritt mit verkniffenen Augen blinzelnd, mit zitternden Wangen und eingekniffenem Hintern mit kurzen Schritten auf die Straße; doch allmählich schwingt alles wieder aus, wenn das Café nicht zu nahe ist (doch schon bei der ersten mit einem anderen Ausdruck, mit überhaupt einem Ausdruck, das Gefühl, allen Unrecht zu tun) Ein Vorstellung eines schönes n Gesprächs, bei dem 123 alles, was man in verschiede¬ nen en Selbstgesprächen durcheinan¬ der gedacht hat, plötzlich nachein¬ ander zusammenkommt und, durch das Sich-Zusammenschließen sonst entlegener Fragmente, dem Gegenüber gesagt vergegenwärtigt werden kann, und vergegenwärtigt auch einem selber, der spricht, durchs Sprechen, mit der Leidenschaft Auf regung geregtheit , des Wiederfindens von Verlorengeglaubtem Ich mit Geldscheinen in der Hand: wieder einmal das Gefühl, ich hätte sie gestohlen Immer offen erscheint der Staatsprä¬ sident im Fernsehen, jetzt schon am hellichten Tag in den Schaufenstern der Elektrogeschäfte, ein kämpferisches Gesicht schneidend; und je öfter er so erscheint, desto gespenstischer wirkt er, desto weniger vorhanden, nur noch eine Attrappenfigur der Elektrogeschäfte "Eiskalter Profi": das höchste Lobes¬ wort dieser Jahre Puppenhafte Bewegungen in der Panik (Blackmail) Zwei Frauen steigen ins Zugabteil und setzen sich mir gegenüber, 124 mit Bewegungen wie Roboter, oder wie ver als Frauen verklei¬ deter Polizisten, vierschrötig, und identische Frisuren wie Perücken Freitagabend in der Stadt " Aglomeración aglomeración " : an allen Ecken wartet einer, in die Luft schauend, der dich gleich um Geld ansprechen will wird , und jeder, der daneben steht, könnte sein Komplize sein ; der Bus nimmt eine andre Route, weil die übliche Fahrstrecke verstopft ist , aber die Ausweichroute ist gerade eine Baustelle geworden ; / drinnen im Bus seufzen selbst die an alles Gewöhnten und steigen wollen vorzeitig aussteigen xx ; allseits schüttelt einer den Kopf über den andern Kopf ; und doch beim Versuch, die Straße zu überqueren, suchte eine entgegenkommende alte Frau deinen Blick, als brauchte sie wenigstens für eine diese Sekunde irgendeinen Verbündeten . Den bekam sie , vor dem und das Chaos erschien x wenigstens monumental Ordnung x vor dem gelben Himmel xx(vergebens) wieder einmal Mitternacht vorbei: als hätte man die Zeit besiegt, wieder einen Tag lang (Die Zeit, der Feind) , will 125 deinen Tod) Nach Mitternacht im Gartenzimmer wieder das heimliche Rauschen der Blätter und immer woanders; 1 trüber Stern am Himmel und ich lehne etwas betrunken an einem Birn¬ baum: geduldige Rinde, ge¬ duldiges Papier (nachdem ich im Finstern mit mir selber um einen Baum herum fußballge¬ spielt habe) Meine Neigung zum eine Zeitlang in meiner Umgebung vor dem Schlafengehen alles zu lassen, wie es sich ergeben hat am Abend jeden Tages, wie heute z.B. das Schachbrett inmitten des Raumes stehen zu lassen, die klei¬ nen Zeichen jeden Tages als in der Wohnumgebung möglichst lange zu belassen: das Schachspiel, die Zeitung, die Platte auf dem Apparat: alles, was nicht Unordnung bedeutet, sondern tägliche Lebenszeichen, die sich an¬ sammeln und überschichten; und eines doch dann Tages, nicht lange, bedeuten auch diese Überschichtungen der Tage plötzlich nichts als Unordnung, und ich räume auf, so daß nichts mehr auf etwas Geschehene s , auf eine Geschichte in dem Raum, 126 in dem ich lebe und gelebt habe, hindeutet: Niemand soll sich er¬ frechen, eine Geschichte in meinen Räumen zu erschnüffeln! 23.10. Wie peinlich es mir war, als Frau G. das Zimmer hier im Haus, wo ein Schreib¬ tisch steht, als mein "Arbeitszimmer" be¬ zeichnete; sie wollte wissen, was der an¬ schließende Raum sei, und ich nannte ihn "Bügelzimmer" Frau G. liebt jede Art von Tür, die etwas von einem Tor hat; sie liebt überhaupt Tore Wieder: Als ich Herrn G. zu mir ein¬ lud, sagte er: "Dann sorge ich aber für die Getränke." Frau G. sagte: "Ich bin nicht schön; dazu bin ich zu wild." A. ant¬ wortete: "Ich möchte auch nicht sanft sein, sondern lieber wild", und zeigte ihre Zahnlücken Sie hatte gesagt: "Ich bin mit allen Männern, die ich einmal geliebt habe, fremd geblieben!", und ich dachte dabei sofort: "Nun, mit mir soll es diese Schweinerei nicht geben!" Klopfzeichen aus dem Rumpf einer gesunkenen Fähre erweisen 127 sich als die Geräusche von den im Schiffsinnern herumtreibenden Lei¬ chen Der erste Schmutz des Tages: schwarze Finger von der Zeitung Die blanken Gesichter der Faschisten; und als ob alle eine ein Toupet trügen, auch die ganz jungen; Ausdruckslosig¬ keit, die als Stolz erscheint (über die Fähigkeit, ohne Ausdruck zu sein): Sie können nicht hoffen, sich nichts vorstellen; nicht einmal WARTEND kann man sie sich denken G. : Sie hat eine so große Distanz zu sich, daß sie es leicht hat, dauernd in sich verliebt zu sein; das Distanznehmen fällt ihr so leicht, daß sie nie streng und genau mit sich selber umgehen kann Zwei Kinder im stehenden Zug: "Quelle heure est-il?" ‒ "Cinq heures." ‒ "L'heure de la mort." 24.10. Das klare, dunkle Tageslicht gestern, bei dem alle Häuser "im Freien standen" ( K. Valentin) Der Einkaufsnachmittag: die Straßen waren so voll, daß die Kinder schrittweise sich be¬ wegen mußten wie Erwachsene; 128 wenn eins zu einem bloßen kleinen Hüpfer ansetzte, wurde es zurecht¬ geschrien Am frühen Abend fiel mir ein, daß noch Leute jemand kommen würde, "um mit mir zu reden": tiefe Küchendepression, wie vor dem An¬ tritt einer Gefängnis straße strafe; und dann kamen der die Besucher, und in drei zwei Stunden waren alle im Moment gebräuchlichen Gemeinplätze "abgefahren". (Ich war nachher doch ein wenig stolz, daß es mir gelungen war, wenigstens manchmal, wenn ein Satz sich ganz offensichtlich angeboten hatte, zu nichts zu sagen, ) und bei der Vorstellung, was sie nachher über mich bemer¬ ken würden, ganz befreit gleichgültig zu bleiben) : Mein Talisman war der kleine Apfel in der Hosentasche, nach dem immer wieder meine Hand roch) Nachher allein: Zeitungslektüre, und dabei die Vorstellung, all die Sätze da auf dem Zeitungspapier seien entstanden entstanden, so wie durch das Hinein¬ hauchen von Betrunkenen in den Testsack sich dieser dunkel färbt Oft in den Träumen lähmende Müdigkeit; Träume von nichts anderm als Müdigkeit 129 Der Tod: "Et in arcadia ego" (Panofsky: "Was eine Bedrohung war, ist zu einer Erinnerung geworden." ‒ Was eine Erinnerung war, ist wieder zu einer Bedrohung geworden.) Sonntagsstimmung auf dem Bahnhofs ¬ plateau, wo kaum einer der Warten ¬ den redet; höchstens ein Niesen, und nicht einmal der Hahn kräht; und die schrammende Absatzplättchen der Sonntagsschuhe Im Zug sitz Im stehenden Zug aus dem Fenster schauend, bin war ich in Ge¬ danken schon vorausgefahren; dann fuhr auch der Zug ab und hatte mich bald eingeholt; seltsamer Mo¬ ment, als meine Gedankenfahrt und die Zugfahrt sich plötzlich kurz wie aufleuchtend deckten, und dann nur noch der Zug in dem dunkel klaren Licht fuhr weiter¬ fuhr Wieder auf den ersten Blick drei Totenköpfe unter einem Café¬ tisch gesehen, und erst dann die abgestellten Sturzhelme "realisiert": Bestätigung des Blicks von vor mehreren Monaten, andrerseits auch Bestätigung meines unveränderten Bewußtseins¬ 130 zustandes? Wie ich immer noch hinter ganz fremden Leuten in den Kinosaal gehe mit der Vorstellung, hinter älteren Angehörigen herzutrotten Plötzlich und erstmals der Wunsch, ewig zu leben, und auch das Zutrauen, das zu auszuhalten In dem Moment, als aus dem Nieseln plötzlich ein Regen wurde, gab es überall auf dem Platz einen Ruck in den Bewegungen Die Menge am Sonntagabend, wie ins künstliche Licht geflüchtet und dort in verrenkten Haltungen sich tot stellend, Genreszenen, nachgestellt mit Puppenwesen, an den Rändern ist alles schon abgestürzt, in der Mitte die austauschbare Figur eines Feuer¬ schluckers, und man sieht keinen, dem man trauen kann Mich ertappt, wie ich, als jemand Fremder zu Besuch kam war im Haus, die Stiefel anbehielt, bevor ich ihm gegen¬ übertrat (während ich vor Freunden immer barfuß oder in Socken gehe): ich wollte ihm nicht als privat erscheinen (ebenso gestern, als die drei Frem¬ 131 den plötzlich im Haus waren, fehlte mir die Lederjacke ihnen gegenüber; im Pullover Hemd fühlte ich mich nicht "gewappnet") "... das Gefühl eines belebenden Friedens ..., welches mir der ungeschickte Führer durch seine Gelehrsamkeit verkümmerte, um¬ ständlich erzählend, wie Hannibal hier vor¬ mals eine Schlacht geliefert .... ... Unfreund¬ lich verwies ich ihm das fatale Hervorrufen solcher abgeschiedenen Gespenster ... Man solle wenigstens die Einbildungskraft nicht mit solchem Nachgetümmel aus ihrem friedlichen Traume aufschrecken ... Ich konnte ihm freilich nicht deutlich machen, wie mir bei einer solchen Vermischung des Vergangenen und des Gegenwärtigen zu¬ mute sei." (4. April 1787) Eigentlich denke ich von morgens bis abends, fast ohne Unterbrechung, meist sehr leichtsinnig, unernst und ober¬ flächlich, wie in einer unablässig erneuerten Wette frivolen Wette mit mir selber, an den Tod Meine "Feinde": kein Impuls, sie zu beschimpfen, zu bekämpfen, zu ver¬ nichten ‒ nur die Befürchtung, sie könnten mich überleben: das wäre 132 meine die schändlichste Niederlage Der Sternenhimmel mit allen Bil¬ dern ganz klar, doch ohne Gegen¬ wart, abwesend, geheimnislos 25.10. Als ob die Erde gestern nacht stärker, kräftiger gewesen sei als der wie schwankende Sternen¬ himmel: der Himmel als bloße flüchtige Erscheinung der Erde, wie eine vorüber¬ ziehende Wolkenformation "Verstehen Sie mich nicht?" ‒ "Ich verstehe Sie. Aber gleichzeitig ekelt es mich, Sie zu verstehen." Die stillen Wolken am Himmel, von denen nur ein paar noch plötzlich schnell ziehen: die Vorstellung von "letzten Kämpfen" Die erwachsene Frau, die sich zum Weggehen in die Stadt ihre beim Früh¬ stück nur angebissenen Kekse und das Rosinenbrot in die Manteltasche steckte: diese Geste löste zum ersten Mal seit langem bei mir ein gutes Gefühl für sie aus "Zufällig schaute er aus dem Fenster und sah ...": das könnte man von mir auch meist sagen Die angestrengte, laute Höflich¬ 133 keit der neuen Besitzer im Restau¬ rant; die noch angestrengtere der Bediensteten Ich ging schon schnurstracks auf die Baumwurzel im Schulhof zu und setzte mich hin als auf meine Wurzel Man hört über jm., er sei "sehr krank", und denkt sofort, daß er Krebs hat Bei so vielen Leuten das Gefühl, sie seien "zu früh geheilt" und würden so nie erleben, was es heißt, "entlassen zu werden" Die so oft beim Gehen im Knöchel ein¬ knickenden kleinen Mädchen Sorglos die Leute anschauen kön¬ nen, so daß sie sich gleichzeitig auch in einem selber bewegen Etwas Schlimmeres als die Angst vor Unbekanntem n: die plötzliche Angst vor jemand Bekanntem 26.10. Von jemandem, der be¬ schlossen hatte, eine Zeitlang einmal allein zu leben, wurde gesagt: "Warum versteckt er sich denn?" Als ich wieder einmal etwas von mir gegeben hatte, schaute mich Frau G. nur feierlich-still an und sagte dann zu ihrem Mann: 134 "Herr H. ist wirklich eine Persönlich¬ keit." Herr G. lachte verlegen; L. spitz; ich hatte das Gefühl, allen das Profil zu zeigen Meine Manier, manchmal mit Ratschlägen und Anfeuerung in die Zukunft andrer einzugreifen: als wollte ich Stellvertreter mir verschaf¬ fen für etwas, was ich an mir selber nicht entwickeln kann Während ich die Fenster putzte, hörte ich auf der Straße Beifall¬ klatschen; es waren aber nur lau¬ fende Kinder (die Notwendigkeit schöner Sinnestäuschungen wenigstens einmal am Tag, damit sich das öde Neben- und Nacheinander ein bißchen ineinander schiebt) Der Hund fing an zu bellen, wie ein geängstigtes Schwein grunzt (überall am hellen Tag das Bellen von Hunden bei sonstiger Geräusch¬ losigkeit) Die vielen Fahrschulautos in den stillen Vorstädten Beim Fensterputzen wollte ich von dem Faschisten (der vielleicht gar keiner ist) nicht gesehen werden, 135 jedenfalls nicht schon wieder: das sei keine Tätigkeit für einen Mann, würde er denken; ich zog mich, während er vorbeiging, ins Zimmer zurück "Ich ging so lang, bis sich endlich ein selbstloses Vergnügen ein¬ stellte" Nach einem bedrückten, wie tauben Tag, wo auch am Abend nichts of¬ fener wird: Wo ist meine Seele? (Und: Das können ja schöne Träume werden!) Zwei Figuren, "als Gegenbilder die Köpfe nach verschiedenen Seiten ge¬ kehrt": das heißt, sie gehören zu einer "mythologischen Familie" "das gestaltlose Palästina und das gestaltverwirrende Rom" Und wenn ich auch jetzt die Erleuch¬ tung hätte ‒ nichts könnte diesem Tag mehr aufhelfen Leuten verbieten, vor mir Wörter wie "Mehlschwitze" zu gebrauchen! Heute war ein langer, langer Nicht-¬ Tag L. ist scheint oft unfähig zum Schweigen, außer zum feindseligen 136 Die 27.10. Die schwächliche Melan¬ cholie des Alleinseins als Kraft hinüberretten ins Zusammensein Starkstromleitung, fall herunter auf mich! (Meine tägliche, rhetorische Litanei) Regentage, wo man nicht weiß, ob die Tropfen unter den Augen der alten Frauen von den tränenden Augen kommen oder vom Regen (alte Frauen, die mit aufgefal¬ teten Rezepten im Autobus sitzen) Ein Kind, das mit dem Finger im Mund aus dem Haus kommt, wie gerade gescholten "Augenblicke der Ziellosigkeit" "Ergebnisse der Ziellosigkeit " ? "Erlebnisse der Ziellosigkeit" "Erlebnisse durch Ziellosigkeit"? "Phantasie durch Ziellosigkeit" (Ich beschloß, das Ziel aufzugeben, das mich nur noch als jemand darauf Gerichteten, in Zeit und Raum sozu¬ sagen, ausschließlich funktionieren ließ, und endlich, zum ersten Mal heute, fühlte ich mich existieren; eine herzhafte Phantasie beflügelte mich und die Welt ‒ da war kein Unterschied mehr: "die Lichter 137 gingen wieder an, die Musik setzte wieder ein": die Reihen der in den Bahnhof Gehenden, aus dem Bahnhof Kommenden, hörten auf, Reihen zu sein; im Postamt waren alle meine Freunde und warteten friedlich auf ihre Ferngespräche; und um noch etwas zu erleben, wollte ich vor der Zugabfahrt schnell auf die Bahnhofstoilette: ich hatte meine Stimme wieder gefunden!, ) heute, am 27.10.76., in der Däm¬ merung, in der Menge ‒ und jetzt bin ich in der Aufregung eine Station zu weit gefahren ...) x) → S.140 Errungenschaft: ich kann in¬ zwischen meist unbekümmert aus einem Raum gehen ohne mich um die die Blicke der Zurückbleibenden zu kümmern spüren Goethes Namenprunkerei: oft, statt die "Einbildungskraft" zu be¬ mühen, fährt er die doch so zufälligen, so phantasietötenden, so tyrannischen Namen auf der Dinge auf ("reiche Tep¬ piche von amarantrotem Klee, die Insektenophrys, Alpenröslein, Hya¬ zinthen mit geschlossenen Glocken, 138 Borraß, Allien, Asphodelen ...") Erlebnis der Erinnerung an die Scham , beim Anblick der Müllabfuhrmän¬ ner, die die geleerten Mülltonnen jeweils vor die Gartentüren nicht hinstellten, sondern davor hinwarfen, wie in einer Verachtungsbezeigung für die Bewohner, und so auch vor "meine" Gartentür Ich komme mir heute abend so "durchatmet" vor, daß ich es nicht mehr nötig habe, aufzuatmen, überhaupt aufs Atmen zu achten Moment der Befremdung: die Stimme von jemand, den man schon lange kennt, zum ersten Mal am Telefon hören (Gefühl der Lächerlichkeit) Und sogar G. schreibt Wendungen wie: "einfach, aber schön" Mücken, die nicht mehr stechen, und Wespen, eine letzte Wespe auf dem Kuchen in der Bäckerei, die man aber auch nicht mehr töten will "Die Realität des Guerillakriegs" (andere "Realitäts"-Floskeln sammeln) "Verwirrt sagte ich flott" (Harpprecht) 28.10. Gut, daß man manche Fragen nicht mehr stellt ( "Wie alt sind 139 Sie? Haben Sie diesen Film schon gesehen?" usw.), und doch oft blöde Sprachlosigkeit, dadurch, daß man daran denkt, solche Fragen zu ver¬ meiden Zu jedem sagen können , der in der Öffentlichkeit, in einem Geschäft, an einem Schalter, zugleich mit mir sich anstellt: "Allez-y, je ne suis pas pressé. " Gehen Sie nur vor. Ich habe Zeit ..." x (138) "Ah, das lachende Gesicht der s Laufen¬ den in der Feierabendmenge! Ah, der umwickelte Schädel des Ma¬ rokkaners! Ah, schade, heute keine Kontrolleurin am Ausgang! (Schade) Ah, der Bibliotheksbus beleuchtete Bibliotheksbus vor dem Bahnhof! Ah, die schönen Bücherreihen!" Vorstellung, daß, wenn ich nur auch einen Pyjama-Oberteil anhätte, mir nachts nichts zustoßen könnte (Geschütztheit durch ein Hemd) In China werden nicht nur die Texte der Wandzeitungen notiert; Jungen und Mädchen zeichnen auch die Wand¬ zeitungskarikaturen der Angeprangerten kichernd in ihre Notizbücher ab Die ganz kurze Verächtlichkeit im Gesicht der Mutter, als das 140 Kind nicht mit ihr spielen, nur zu¬ schauen wollte: Verächtlichkeit, die sich äußerte in einer ruckhaften Ma ruckartigen Maskenhaftigkeit des sonst so beweglichen Gesichts: wie ein Film, der kaum merklich angehalten wird und dann weiterläuft ("Das ist ein lang¬ weiliges Kind!") Böser Blick davon, daß man je¬ manden immer nur aus den Augen¬ winkeln anschaut Der bedeckte, ziehende Himmel: Zugehörigkeitsgefühl Das leere Badezimmer und die Zeit: Im Waschbecken rinnt noch ein Tro¬ pfen zum Abfluß Wie nötig ich es habe, mich beim Auf s Schreiben jede jede Sekunde zu besin¬ nen, wie ich lebe ‒ so ewiglich wirkt die Fliehkraft der zäh-toten Sprachmodelle, die einen immer wieder abdriften lassen in eine Sprache, in der ich nie gelebt habe und die mit jedem Wort mich und alle andern verrät Die verhaltenen, schwächlichen, zaghaften körperlosen Bewegungen einer Hausfrau, etwa beim Aus¬ 141 schütteln eines Tuchs Die furzenden Bauernsöhne, die vor die Klasse geschickt wurden, um sich auszustinken Fixe Idee, zu sterben, bevor eine Arbeit beendet ist; und innerhalb dieser f.I. fixen Idee die fixe Idee, sich zu fragen, ob, wenn man jetzt und jetzt stürbe, das, an dem man ge¬ arbeitet hat, wenigstens als Fragment Gestalt angenommen hätte ... Die Tragik wiederherstellen In der Müdigkeit bewegten sich die Gestalten auf der Fernseher¬ bildfläche wie in einem tiefen Raum, tiefer als das Zimmer Obwohl schon lange alle r Prüfungen ledig vorbei sind, immer noch das Prüfungsgefühl vor vielen alltägli¬ chen Handlungen, das zur Vorbereitung im stillen Stillen auf die selbstverständlichsten Tätigkeiten (fremde Kinder nach Hause bringen) führt Wieder das Kind, das hektisch wird vor Langeweile, deswegen anschreien wollen, es zurecht¬ rütteln wollen: zu welcher Art Tätigkeit? "Der Mythos vom Vergessenwerden" 142 29.10. "Traumalltag" Langeweile, Gefühl des falschen Le¬ bens: ein tatsächlich SITZENDER stetiger kleiner Schmerz am unte ¬ ren Ende des Brustkorbs, eher eine Linie der Empfindlichkeit die Rip¬ penenden entlang (Gefühl des falschen Lebens, aus der Lan¬ geweile eines Kindes ent steht standen, die allein als Anblick schon fürchter¬ lich ist, wenn man dazu kein Gegenmittel weiß; welche Vorstellung z.B. : einem Kind das Gehen ' " vorzuschlagen"); Beklemmung, das falsche Leben zu leben, dessen "Begleiterscheinungen", wie in ganz frühen Jahren (Internat, Schule, Zweikammer-Wohnung) Fürze wären. waren und man von einer stinkenden Langeweile zur andern schlief. ↝ Wann hat mir zum letzten Mal "alles wehgetan vor Lachen"? (Dieser Schmerz des falschen Lebens am unteren Ende des Brustkorbs erinnert mich zugleich an den nach einem konvulsivischen, immer wie¬ der neu ausbrechenden Lachen). Trotzdem die Idee, es könnte gegen diese Diktatur der rasch wechselnden, einander stürzenden Dikta¬ 143 turen der Gefühle einen "Triumph des Willens" geben (aus dieser Idee nur keinen Vorsatz, keine Vorsätze werden lassen); denn ich habe so oft schon sind wenigstens die gleichen Gefühle wiedergekehrt, daß sie einmal vielleicht, jedenfalls jene, die ich will, willkürlich sein werden. Wirklich versuchen, sich einen Tag lang nicht unterkriegen zu lassen von den ständig wechselnden Gefühlen, sondern die Gewißheit, eine Gewi߬ heit für sich, ohne Objekt, einfach WALTEN lassen Aufhören, sich immer sofort an die Träume der Nacht erinnern zu wollen: im Lauf der s Tages stel¬ len sie sich ohnehin wieder ein Lernen, bei der Hausarbeit immer wieder aus dem Fenster zu schauen (wenn es ein Fenster gibt zum Hinausschauen) Auffällig, daß bei den wenigen hand¬ werklichen Tätigkeiten, die ich zu verrichten weiß, ich nicht zu beschreiben wüßte, wie ich sie im einzelnen schaffe: es sind unbewußte Bewegungen, die, wenn 144 ich sie bewußt zu machen versuche, sofort durcheinander ge¬ raten (kein Taylor-System mög¬ lich, mit dem ich mich selber ra¬ tionalisieren könnte: jede meiner Verrichtungen mit der Hand ist ein Versuch, mit Hinzuwursteln zu einem glücklichen Ende) Zustand schwerer Sprachlosigkeit zwischen zwei Leuten, doch dann fällt in der alles nur immer vernagelter wird, bis einen r von beiden zwar nicht weiterweiß, aber doch für den Zustand eine Formulierung findet, die ihn so heiter macht, daß er auf einmal doch weiterweiß Meine Amoklaufphantasie heute nachmittag auf offener Straße (rue Delambre): ein e Wahnsinns¬ anfall, der nicht mehr gerichtet war auf den, der ihn ausgelöst hatte, sondern, im Bewußtsein, daß gegen den Auslöser keine Äußerung, auch keine Tätlichkeit mehr möglich war, sich sofort amok¬ artig auf die Umwelt richtete: auf die Frau fremde Frau, der ich 145 sofort ein Messer hineinrennen wollte, auf das Schaufenster, das ich eintreten wollte auf der Stelle eintreten wollte; gleichzeitig aber, in der Amoklaufphantasie, die so heftig in mir oszillierte siedete, daß wieder einmal nur der kleine Ruck, "der ein kleine fehlte ein leichter Schubs fehlte, das Ge¬ fühl der absoluten Schwächlichkeit; die Körper und Seele völlig entleerend entleerende Schwachheit und Ohnmacht als Auslöser der Amoklaufphanta¬ sie; dabei war die einzige Bewe¬ gung, die ich dann machte, ein Griff an den Hinterkopf (Und nachher, einer Bekannten im Café gegenübersitzend und, obwohl völlig sprechunfähig, doch hin und wieder nach völlig toten Wörtern fischend, dachte ich immer wieder: Ja, ich bin richtig wahnsinnig. Bald werden es alle wissen, daß ich richtig wahnsinnig bin.) x) Zuviel Selbstgespräche und zu viele Vorstellungen von Gesprächen, so daß ich, wenn ich dann tatsächlich mit jemandem 146 spreche, sehr oft das sage, was ich im vorgestellten Gespräch schon gesagt habe: Nicht Gef das tatsächliche Gespräch wird dann zu einem bloßen Aufsagen Erlebnis der Liebe: dankbar über das weinende Kind x) Und wieder der Gedanke, daß all meine Änderungsphanta¬ sien nur Phantastereien seien : Erlebnis des Wortes: "Gehirngespinst" Der Fernsehjournalist sagte, er hätte "interne Schwierigkeiten" ge¬ habt; ich meinte, Schwierigkeiten mit seiner Anstalt ‒ er sprach aber von einer Depression Sprache = Münchhausens Schopf Während ich D. zuhörte, dachte ich plötzlich: Ich nehme ihn ja gar nicht ernst; und danm n nahm ich ihn ernst, nach und nach Jemand geht hinter mir in der Nacht, kauend: vor einem, der ißt, habe ich keine Angst Immer wieder jemand, der mit Schluckauf durch eine dunkle Straße geht 147 Wenn unversehens ein Abend und ein Gespräch befreiend über das Geplante hinausgehen und nur noch Abend und Gespräch sind Vorstellung eines Mörders oder Politikers, zu oft als Kind beim Pinkeln unterbrochen Ich ging mit den Gitarrenakkorden mit, die nachts jemand auf einer Bank anschlug Stolz, daß mich inzwischen überall die Huren ansprechen (eher Ge¬ rührtheit; und ich grüße freundlich zurück) ‒ also muß ich mich doch geändert haben! Immer wieder die Vorstellung von W. , der inzwischen jetzt 8 Monate in der Erde liegt und inzwischen dort heimisch sein müßte (das ewige Immer-Wieder) Freitagnacht, und Küsse überall in der Stadt (wenigstens Wangenküsse) Das Geländerband der Roll¬ treppe warm wie eine befreundete Hand (für mich halb Betrunkenen) Hunde, die nachts durch die Bahn¬ hofshalle geführt werden ‒ aber eher die hinter ihnen Gehenden 148 weiterziehen SOCIETÉ GÉNÉRALE: Une banque des hommes, des solutions Nächtlicher Bahnhof, voll von warten¬ den Leuten, die ich "beobachten will"! Und ich merke, ich kann sie nur wahr¬ nehmen und erleben, indem ich sie nicht beobachte Eine GRUPPE, die freitagnacht in Paris ankommt, mit Knickerbockern und vollbepackten Rucksäcken (?) Eine Frau küßt jemand und stellt sich auf die Zehenspitzen; woanders wird eine geküßt (auf die Stirn) und stellt sich dabei auf die Absätze (Ich setzte mich extra ins Dienst¬ abteil des Zugs, wo niemand war, um nichts mehr wahrzunehmen; von dort schickte man mich weg in s ein halbbesetzte Abteil, das wieder voll von Leuten ist ...; ) jetzt blicke ich an mir herunter, ) wahn¬ sinnige Ausgeburt, , ICH) Das bloß Phantastische der Erlebnisse heute, das Nicht¬ geschehene, Wiederrufbare ‒ das bedeutet auch: Verweigerung der Würde 149 Typisch für mich: Es war mir heute gelungen, den "Faschisten" zu grüßen, und er lächelte sofort zu¬ rück, so revolutionär, wie man es sich nur denken kann Angst: Fledermausnest in meinem Scheitel Sorglos in der Nacht am Fenster sitzen und weiteg r weg die Lichter aus-, an-, ausgehen sehen, den Wind in den Bäumen hören, ohne Nebengeräusche, an der Zim¬ merdecke immer seltener das Licht¬ netz eines Autos sehen und denken, als alter Mann dürfte man nicht so nachts am offenen Fen¬ ster sitzen Aggressive Parterre-Zimmer, die bei of¬ fenen Fenstern, statt daß die Außenluft in sie eindringt, hinaus auf die Straße miefen (Hausver¬ walterszimmer) 30.10. Die Alternativen, die einem vorgehalten werden (Politisch ‒ Privat; Geschichtliches ‒ Geschichtsloses Denken) sind logische Fehler; aber es wäre falsch sinnlos, das nachzuweisen, weil die Logik selber der Fehler ist 150 W. Benjamin, der in den "Denkbildern" die Buden mit Heiligenbildern, die im nachrevolutionären Moskau , neben den Ständen mit Lenin-Bildern stehen, so sieht, als würden jene von diesen >"flankiert", "wie ein Verhafte¬ ter von zwei Gendarmen"; der Philo¬ soph als Hilfspolizist; das geschicht¬ liche Wunschdenken ("Sehen kann gerade in Rußland nur der Entschiede¬ ne ... Nur wer, in der Entscheidung, mit der Welt seinen dialektischen Frieden gemacht hat, der kann das Konkrete erfassen") als Abtreiber des Denkens, Sehens und Fühlens; es möge mir gelingen, den dialek¬ tischen Frieden mit der Welt noch möglichst lange hinauszuzögern ("Denkbilder", wo das Denken die Bilder krummschließt, und die Bilder die Gegenstände durchs revo¬ lutionsfromme Wunschdenken ver¬ raten dunkeln ) ; Servilität der Intellektuellen gegenüber der Macht, von der er ent¬ schieden hat, daß sie die historisch ver¬ nünftige ist ‒ als ob es, historisch oder sonstwie, eine vernünftige Macht geben könnte) 151 Was ich, während ich rede, zug gleich¬ zeitig denke (etwas Verschiedenes) gerät mir oft, nur als kaum be¬ wußte Initiation, ins Sprechen hi¬ nein und macht läßt dieses stocken; starkes Wonnegefühl, wenn Sprechen und Denken zusammenfallen: Existenzgefühl Traum von einer Zigarettenreklame, wo die rauchende Frau zugleich eins meiner Bücher in der Hand hielt; aber als ich näher hinschaute, war das Buch doch nicht von mir, sondern, natürlich, von einem Amerikaner! Ich ertappte mich bei einem Selbst¬ gespräch e , wo ich jemandem das Haus beschrieb, in dem ich wohnte: "Das Haus ist ein bißchen verschlampt, weißt du, die Eigentümer sind nord¬ afrikanische Juden ..." (Meine eigene Geschichte, zu klären nicht zu er¬ von der ich noch x so wenig klären ‒ weiß, das die macht mich schon neugierig) x immer Nötige sprachliche Hochstimmung zum (trostlosesten) Gedicht Immer wieder bei Blicken durch Fenster auf Menschen draußen 152 oder drinnen d ie Vorstellung, daß es die letzten Blicke auf diese Menschen wären Friede: ich bin UNTER ̸ MENSCHEN Blick aus den Augenwinkeln in die Küche, wo die meine Lederjacke über einem Stuhl hängt: Schreckvor¬ stellung, mich selber da sitzen zu sehen Van Morrison : als ob er manch¬ mal beim Singen lächelt ("Saw you early this morning with your brandnew boy and your cadillac ... I know you're dying, baby, and I know, you know it too"), Oui, J.! Zuneigung zu einem Schauspieler, wegen dessen gekrümmtem Rücken, der einmal im Film kurz zu sehen war Recycling: Leute, die den Sinn des Lebens wiedergefunden haben und wieder teilnahme¬ berechtigt sind, als Alt-Material Wieder, seit langem wieder einmal, ein triumphales Lebensgefühl, niemand und alles zu sein, und unsterblich (und ich denke 153 mich "natürlich" sofort wieder nach Amerika): und als "Amerikaner" ist mir auch nichts Menschliches mehr fremd Die (seltenen) Stunden und Tage, wo alles, jedes Ding Sprachgestalt kriegt hat und zur Erscheinung wird, zu mir in Zungen redend Während ich vom n mir spreche und einen Stolz auf mich fühle, sehe ich die im Wind gerüttelte kleine Tanne vor dem Fenster im Herbstgrau, und die unterstützt x meinen Stolz ⤺ und hält zugleich die Rührung Selbstrührung ab⤵ x (VERSACHLICHT) Wieder einmal die öde Uner¬ forschlichkeit einer Frau Die Musikgruppe in der fahrenden Métro über der Seine: der das Geld einsammelte, ohne Instrument, machte, war das der Tambourine-Man n , indem er mit seinem Fingerring zur den Gitarrenakkor¬ den gegen die Fassung der Waggontür schlug A. , die seit Tagen begierig auf den Besuch einer Freundin wartet, die sie vor Monaten zuletzt 154 gesehen hat (morgen soll sie end¬ lich kommen), sagte plötzlich, an den Geschenken für sie hantierend: "Ich rieche Charis schon!" Die Eitelkeit der intellektuel¬ len Selbstmörder, die Frecheit und Dünkelhaftigkeit ihrer philosophischen Selbstmordphantasien, ihre verdäch¬ tige Eile, die eige ihre tragische Lebensfaulheit Verantwortungslosigkeit sogleich in ein an¬ dachterpressendes Ideensystem um¬ zulügen. (x) Kindische Todesphantasien beim Zeitungslesen: her mit einem Buch! Handarbeit, die die Angst Bedrückung gegen¬ standslos macht mit Leimgeruch Vorstellung, daß auch die Wansin¬ nigen immer langweiliger werden x) Jetzt ist es Abend geworden, und ich denke schon wieder anders Das Schmatzen und Schlürfen eines Kindes im stillen Haus: O, wärst du doch erwachsen! "Nach einem tatsächlich haarsträu¬ benden Alleinsein, nach wahnsinni¬ gen Tötungsvorstellungen, von denen der ganze Körper zitterte und die Stimme versagte, stieg er 155 in den Zug und setzte sich, obwohl er sonst Zigarettenrauch schwer schlecht aushielt, sofort in ein stinkendes Raucherabteil, wo sofort eine Linderung eintrat" (des Schmer¬zes der Unwirklichkeit) Überall die Vorstellung von Leuten in den eisig¬ dunklen oder siedehellen Wohnungen, die sich selber s Angst bedeuten; Wunsch, in die Gegenstände "sich zu entgrenzen", um die Angst Panik loszuwerden; und doch dann ist man selber ist der Angst , nämlich der Angst Anlaß: Angst gäbe es nicht mehr, wenn man nicht abwesend wäre mit seinem r unheimlichen Gestalt aus den nicht weniger unheimlichen Räu¬ men Depression: Hinfallen und aus¬bluten; Mordphantasien des Alleinseins Beruhigung: daß es anderen ︷ nicht so ergeht wie mir (unter denselben äußeren Umständen) Und doch wieder gegen Mitternacht, zu rauschenden Blättern, frech ans Fenster treten ( ; B bemerkt, daß im Lauf des Tages gegen die Nacht zu meine Vorstellungen sich immer mehr um mich selber legen ) : z.B. Beruhigungs¬ wirkung des Haselnußstrauchs unterm Fenster, zusammen mit dem Wort "Haselnußstrauch"; jede Un¬ 156 ordnung, jeder Schmutzfleck als in der Panikstimmung als diese noch verstärkende Geistererschei¬ nung (Ausbruch des Wahnsinns über einen kleinen Schmutzfleck zu viel, wie über ein kleines Wort zuviel); mit dem Abend vereinen + erheben sich die kör¬ perlichen Zipperlein des Tages, das Zwicken und Zwacken, zu einer einzigen, den Körper nur noch als Hülse nachtorkeln lassenden wilden Jagd der Seele (Du und deine Exorzismen der Angst: nach jeder Austreibung erscheint bald schon eine neue ...) 31.10. Und doch begriff ich gestern die Verlassenheit andrer Leute allein in ihren gespenstischen Zimmern, auf eine schon allzu gerechte Weise, indem ich z.B. völlig das Elend einer reichen Witwe im Pelzmantel mitfühlte, die sich für jeden Tag einen neuen Plan machen muß Morgen: Widerwille vor dem schein¬ heilig durchsonnten Haus Der Moment, da man, vor dem Ins-¬ Bett-Gehen, sich ausgezogen hat: nun ist sind die Sch Wehrlosigkeit einer¬ seits, die Bedrohung andrerseits, 157 ABSOLUT, so daß bereits eine ruckhafte Vorwegnahme des (metaphysischen) Angriffs eintritt Vorstellung, in der dieser Springprozession dieser von einem Ungnadenort zum andern, wo jeweils jedesmal man von einem jeweils neuen, unvoraussehbaren Unwirklich¬ keitsschock gerührt wird, trotz aller V vernünftigen Vorkehrungen und HAUSMITTEL, allmählich zu ertauben (Ich merkte eben, wie ich stilistisch ‒ x ‒ nicht werde, sondern schon bin, x durch die Isoliertheitsphantasie, ) nicht nur, wenn ich dann schreibe, sondern schon, wenn ich mit mir selber spreche) Der täuschende Tag ‒ und jetzt werde ich erst recht auf die Täu¬ schung eingehen! Eindruck, daß meine "Vernunftsper¬ son" immer weniger zu sagen hat; schon beim Bettenmachen am Morgen denke ich an das Ins-Bett-Kriechen in der Nacht (glückliche andere, die z. B. wacker an Revolution denken ) können) Um die Laternen in der Nacht waren Kugelregenbogen 158 Ich brauche nur zu wissen, wo alles was im Haus ist, und alles wird gut Bei der Vorstellung, ich würde ver¬ rückt, gleichzeitig die Vorstellung der schadenfreudigen Dorfbewohner Das Unternehmen, das eine Super¬ marktkette führt mit der Besonder¬ heit, daß dort die Produkte keine Markennamen haben (Reklame¬ plakate: "Hier ist das Öl 'Öl'" / "Hier das Waschpulver 'Waschpulver'") be¬ findet sich im Abschwung: die Produkte ohne Namen, obwohl billiger als die Markenartikel, werden weniger ge¬ kauft Der Nationalfeiertag in der Botschaft ein gespenstisches Bild von Leuten in dunklen Anzügen, die sich immer wieder beim geistesabwesenden Reden in die Haare fuhren: Haupterlebnis diese Bewegung der Hände, abwechselnd zu einem Kopf, dann zum andern!, und überall sprach einer von seinem Heimweh nach Ö. ... Ein französischer Deputé prahlte vor mir, daß er keine modernen Schriftsteller lese (nur immer wieder 20 Seiten Balzac, 10 Seiten 159 Proust), die wüßten nichts von den Sorgen des Volks, mit denen er als Abgeordneter täglich zu tun habe (und dann zählte er die den mo¬ dernen Schriftstellern unbekannten Probleme des Volkes nahe auf ); vor einig er habe sich vor kurzem den Sport gemacht, sich auszurechnen, wieviel Zeit im letzten Jahr er durchschnitt¬ lich jedem seiner Vorzimmerbesucher gewidmet hatte: 20 Minuten pro pro Exemplar vertretenen Volks; und in dieser Zeit erführe er immer alles über die Sorgen seiner Wähler (auf meine Frage, ob nicht vielleicht auch moderne Schriftsteller ihm was über geheime, sonst sprachlose Sorgen der Leute was mitteilen könnten); mit dieser Bemerkung, die ihm ein guter Abschluß zu sein schien ‒ er hatte, noch während er mir die Meinung sagte, einen be¬ freundeten Politiker erspäht und ihm dazwischen zugelächelt und zu¬ gewunken ‒, gab er mir einen Klaps auf die Schulter, als hätte er nun alles verlautbart, 160 was jemandem wie mir zu ver¬ lautbaren wäre, lächelte mich mit vollg plötzlich mehr viereckigem Mund an und nahm weiter sein Bad in der Menge Meinen Humor wiedergefunden, als mir jemand etwas über mich sagt, was ich noch nicht wußte; und mit dem Humor kamen auch Hunger und Durst zurück Zwei Alteingesessene, die sich am Morgen auf der Straße treffen: "Es geht uns gut hier in C. , nicht?" ‒ " J Ja, wir wollen noch ein bißchen hier bleiben." Gesichter, wie zum dauernden Wohl¬ wollen geliftet begütigende Vorstellung, nur noch in den Vorstellungen Fremder zu existieren F Schwangere Frau, die auf dem Pflaster saß, wo sie mit Kreide ihren Bettel¬ aufruf hingeschrieben hatte: zu den Gründen, den Aufruf zu erhören (Waise, schwanger, Jahre in einer psychiatrischen Klinik) hatte sie auch hinzugefügt, daß sie Bretonin sei Gegenüber dem Schmutz gleichgültig werden 161 Ich selber bin mein Phantomfeind, und dieses Biest muß sterben Immerhin einen Moment erreicht, da ein Rülpsen ︷ ganz an meinem Ohr bei mit weit offenem Mund mich völlig ungerührt ließ In einem Howard Hawks-Film er¬ zählt jemand von einem Mann, der ohnmächtig wurde von der Schönheit einer Frau Und manchmal habe ich das Gefühl, mit meinen Ängsten nur ein Opfer der Boulevardzeitungen zu sein Jahre, um sich eine Geste anzu¬ gewöhnen Albernheiten der Angst (für diese einen anderen Namen finden): daß man auf den Rand des Teppichs tritt wie auf eine Schlange: daß man auf die Be¬ merkung: "Die Luft wird schon blau" sogleich ein Sterbender in der Atmo¬ sphäre wabert ... Die "Angst" aushalten (wie einen kakophoni¬schen "Ton") ohne Alkoholwatte Heute abend die Bibel wiedergelesen und "Young Mr. Lincoln" wiedergesehen: machtvolle Erhebung aus den täg¬ lichen Verlegenheiten, wobei 162 diese täglichen Verlegenheiten aber nicht abgetan werden, vielmehr erstrahlen als etwas ewig zu Ertragen¬ des, Erträgliches (Hagar, die von ihrem Kind, in die Wüste geschickt, als sie meint, es würde verdursten müssen, nicht weggeht, sondern sich wegsetzt ; über sein Los klagend; und H. Fondas A. Lincoln mit Bewegungen, so ruhig und deutlich wie Buchstaben einer Heiligen Schrift) "But that's the way it is. Good evening, judge." (Und ich mußte natürlich wieder schnau¬ fen, um nicht zu weinen.) 1.11. Heitere Nacht voll bewußter, ausgehaltener Angst, die dadurch nie in Gefahr war, in Panik umzu¬ springen; dabei immer ein Gefühl der Stärke: Vorstellung, daß das Bett so hoch g sei, daß ich daraus ohne Umstände aufspringen könnte; Bild von einem ganz hohen Bett, über das sich niemand beugen kann A. will von mir wissen, wo eine Sache sich befindet; ich kann es ihr nicht sagen, aber ich kann das Gesuchte andrerseits sofort auf eigene Faust finden 163 An der gleichen Stelle, wo gestern am Vorabend schon der Mond leuchtete, ist jetzt ein Sonnenfleck kurz hinter den Wolken über dem Dächerhorizont sichtbar: nur ein Bild, ohne Strahl, so¬ gar ohne Schein; dunkler, irdischer, gespenster ver fremder Morgen ‒ bleib so! Gestern abend bemerkt, daß ich, um die üblichsten Bilder im Fern¬ seher (gerade die) mitzukriegen, mich genau konzentrieren muß wie beim Lesen der komplexesten Sätze Morgens im Bus ; die werden die Melodien des gestrigen Fernsehpro¬ gramms gepfiffen Die Natur in der Stadt und um die Stadt: sie WUCHERT wenigstens nicht (Österreich: wuchernde Natur, x); und die Hauptnatur (und Natur genug) ist hier der Himmel x nur im Gehen erträglich " Sie sind nur Du bist eine Zeiterscheinung!" ‒ "Und Sie sind du bist leider keine Zeiter¬ scheinung." Frage an die Hausfrau: "Was sehen Sie vor sich bei dem Wort 'Apfelku¬ chen' ?" ‒ Die H. Hausfrau : "Brösel auf 164 dem Fußboden." Mit welchem extra- maskulinem Schwung ge Männer oft Bewegungen ausführen, die sonst in der Regel von Frauen gemacht werden, Bewegungen in der Küche etwa, beim Wegwerfen von Abfällen, lässiges Vermeiden von Bücken oder In-die-Knie-Gehen, was die Bewegungen feminin erscheinen lassen könnte (Darum g ihnen verfehlen auch so viel Akti solcher Aktionen das Ziel, wie z.B. mir vorhin, als ich, statt das Geschirrtuch an den Haken zu hängen, von weitem es auf den Haken werfen wollte und daneben¬ traf) [oder: etwas statt mit den Händen mit dem Fuß zu machen] erquickendes Geschrei mehrerer Kinder im Haus: ( C. und L. sind mit A. ) erstmals seit über 4 Monaten) und doch habe ich es in Kauf genommen, daß die Kinder sich nie wieder sähen, nicht weil ich es so wollte, sondern aus Apathie, ausführlicher gesagt, weil das Wieder¬ aufnehmen dieser doch so innigen und notwendigen Beziehung mit jedem Tag der Getrenntheit der Kinder unselbst¬ verständlicher geworden ist, als ob die Zeit als gleichgültige Welt mach macht , 165 , ohne Eingriffsmöglichkeit mehr durch mich, mit jedem die Tag der ¬ nur ein Stück mehr von der von vorn¬ herein schon unvermeidlichen Trennungs tatsache im Bewußtsein erscheinen ließ, dabei zugleich gerade durch das Ge¬ fühl der Gelähmtheit, des Zu-Spät, des Nicht-mehr-Eingreifen-Könnens, einen Trennungsschmerz ab und zu durchschlagen ließ, als den man als unsühnbare Schuld erlebte, weil man kurz zuvor (immer wieder: kurz zuvor) noch hätte handeln können; doch JETZT (immer wieder: jetzt) ist es für immer versäumt worden (Und so geht es mir auch mit meinen persönlichen Be¬ ziehungen: ein ab und zu gräßlich schmerzhaft werden der Vergessens¬ vorgang, in den ich, seelisch ge¬ lähmt, aber ganz bei Bewußtsein, nicht eingreifen kann) Die Blätter fallen sehr schnell von den Bäumen; jedenfalls erscheint mir ihr Fallen heute schneller als in den letzten Tagen (trockener und härter geworden) 166 "Auf der See, 12. Mai 1 787": "Diese wahrhaft seekranken Betrachtungen eines auf der Woge des Lebens hin und wider Geschaukelten ließ ich nicht Herr¬ schaft gewinnen." Aber wie nicht? "gum-boots" Die drei Kinder wie ein einziges ideales Kind; auch körperlich stecken sie manchmal ganz zusammen, ein¬ ander Geräusche vor- und nachmachend, einander umschlossen haltend, krei¬ schend und schreiend ganz zufrieden Der Vorortzug, der eine Weile neben einem Zug fährt und dann von die¬ sem überholt wird, wo hinter ganz bedunsteten Fenstern Leute sitzen, die vom Meer kommen Sich verschlucken in Gegenwart unbekannter Leute Die Absurdität für mich: mich plötzlich antreffen in einem Salon mit versierten umgangsfreudigen, meinet¬ wegen "großbürgerlichen" (?) Frauen, die alle Formen des Nebenbei vollkommen beherrschen: eine, deren Mutter Polin war, bereitete ein "œuf à la Polonaise", und als, während ich zuschaute, ein Kind nichtsahnend dazwischentrat, zog 167 die Frau das Kind wie zärtlich an sich (in Wahrheit zur Seite), da¬ mit ich weiter die Zubereitung des pol¬ nischen Eis es verfolgen könnte; später, im SALON, in mir reglose Heiterkeit bei dem Gedanken, daß gerade ich, durch mein Kind, immer wieder in eine solche sogar meine A&Ω- Eigenheit, die Neugier, sofort abschneidende Gesellschaft (mehr Sippschaft) hineingewürfelt werde, eine winzige Alltags-Tragödie nebst freud¬ losem Lachen des Beteiligten; Vor¬ stellungen, in ihre Gespräche hin¬ einzufurzen; und als ich dann endlich unten aus der Haustür trat, habe ich wirklich sofort gegen den Sockel gepinkelt, mit großer Freude Kinder Ein Kind in der schüttelnden Métro: sie es hält sich wie an einer Startlinie auf und schießen t in einem ruhigen Moment der Fahrt sofort los, um die rettende Stange zu erreichen Ich sage mir: Meine fixen Ideen (z.B. tagtäglich "Mitternacht" zu überleben) sind vielleicht meine Privatsache; aber was unter¬ scheidet die fixen Ideen einzelner eigentlich von den Mythen mehrerer? ‒ Es 168 ist noch keine Sprache gefunden bemüht worden, die diese fixen Ideen einzelner als den Mythos vieler über¬ setzt; die zu Krankheitsindizien entwirklichten Einzelheiten sind noch nicht begriffen worden als neue Lebens¬ form art (2.11.) [Und außerdem fehlen, zum Mythos-Werden, die Abenteuer¬ geschichten zu diesen alltäglichen Erscheinungen] Geräusche der fallenden Blätter in der Nacht wie von stumm laufenden, stocken¬ den, weiterlaufenden Hunden 2.11. A. erkennt einen Ort, wo sie lange nicht war viel früher manchmal war ( und wenn, dann immer ungern, fast mit Zwang), an dem Muster am Boden wieder Bemerkungen von Mme B. : "Was Sexuali¬ tät betrifft, bin ich ganz kalt, zéro. Dafür liebe ich den Wind im Haar und den Regen im auf dem Gesicht. Und das Tanzen." Sie stand auf, tanzte ein bißchen auf der Stelle, fin¬ gerschnippend, mit geschlossenen Augen, und setzte sich wieder. "Mein Mann ist ein ganz geistiger Mensch, er könnte Mitglied jeder Akademie sein. Den Körper gibt es für 169 ihn nicht." Vergebens, sicher auch schlecht, versuchte ich ihr zu sagen, daß das sei das die vielleicht das stärkste und schönste Körperempfindung sei , und daß nicht tanzen zu können, sich nicht "den Vibrationen zu überlas¬ sen", möglicherweise eine Errungenschaft. Sie nickte, wartete aber auf die " éxplica¬ tions explications ". Sie erklärte erzählte, als sie das erste Mal ins Tanzen geraten sei, habe sie angstvoll Angst gewünscht, die Ex kstase die ganze Nacht beizubehalten. Sie begann ihre französischen Sätze oft mit einem deut¬ schen "Ach!", was sehr schön war. Ich saß in ihrem Salon, wieder einmal am falschestmöglichen Ort der Welt, mit übergeschlagenen Beinen wie verknotet; alle Körperfunktionen wie stillgelegt , : nicht einmal den Urindrang, der mich Stunden zuvor noch von im Lift g beschäf¬ tigt hatte, spürte ich mehr. Daß Mme B. übrigens ERZÄHLTE (statt, wie sonst, Meinungen vorzubringen und, vor allem, zu verlangen) erschien mir bei ihr schon als eine Art des Sich-Gehen-¬ Lassens Jeden Morgen kommen doch wunder¬ barerweise scheints fast alle 170 Leute unversehrt aus den Häusern Ein Offizier im Zug: ein unfreundliches Wachsgesicht, schon fürs Begräbnis hergerichtet Wie friedlich die Stadt wieder auf allen Plänen erscheint Jemand, dem beim aufmerksamen Lesen einer Gebrauchsanweisung der Speichel aus dem Mund rinnt Eine Nutte, unter den andern Leuten in der Métro sitzend, Stiefel bis zu den Oberschenkeln "Ich möchte mit Ihnen ein Tonband¬ gespräch machen, für den Unterricht." ‒ "Sind Sie Lehrer?" ‒ "Nein, aber ich würde mich vorher mit Lehrern unterhalten und Ihnen dann ein paar Fragen stellen aus der Per¬ spektive der von Schülern." "Wie o haben Sie Ihren Urlaub ver¬ bracht." ‒ "Ich habe keinen Urlaub genommen , sondern gearbeitet." ‒ "Oh, ich habe auch den ganzen Urlaub eigentlich nur gearbeitet." Eine hirnrissige Unterscheidung, dieser Satz in "Le Monde": "Es ist sehr schwierig, klar zu im Erinnerungs¬ kult (der deutschen Militärs) klar zu trennen, was einen 171 gefährlich politischen Gehalt haben kann und das, was lediglich Teil simpler Waffenbrüder¬ schaft ist." Prüfungsvorstellung (und -gefühl) z.B. auch , beim Tasten nach der Fahrkarte vor dem Einsteigen in den Bus In den Wartesaal treten mit der auto¬ matischen Wortverbindung: "ungeheizter Wartesaal" Allmählich die Gewißheit, ERFINDEN zu können Vorstellung (beim Blick einer Frau), wenn ich schön wäre, wäre ich für immer in Sicherheit Wenn ich mit einem Kind Hand in Hand gehe und dabei angespannt bin, halte ich die Hand des Kindes , die ich be zugleich wie in einem Krampf hoch; erst in der Entspannung sinkt der Arm mit der Hand des Kindes Abend. Draußen. Mit einem Kind. Unten Paris, allseits glitzernd. Wieder das zugleich bange mulmige Gefühl, ein Held zu sein Die fixen Ideen sind noch nicht zu Mythen ERZÄHLT ("Unter dem Schutz meines Mythos" ‒ "In der Schutzlosigkeit meiner fixen Idee") Die stillen sanften Geräusche eines Mitter¬ 172 nachtsfilms Im Fernseher Kreidezeichnung von einem Erschos¬ senen auf der Straße, die das und die Herbstblätter treiben darüber US-Präsidentenwahlen in den USA ; und die Exper¬ ten mit ihren gerunzelten Stirnen, und auch man selber fühlt einen Schmerz in der Brust, als ob es wirklich um etwas gehe 3.11. Aufwachen mit dem Problem, wie man das Spritzen des Öls in der Pfanne ver¬ meiden könnte Das Laub in den Bäumen ist schon so schütter, daß es wie flatternde Vögel erscheint Aufpassen, keine "Lieblingswendungen" zu kriegen! Blick in die stille, abschüssige Straße hinein: durch die überall liegenden Blätter das Gefühl, in einen Talgrund zu schauen ‒ die persönlichen Geheimsprachen überall in den Wohnungen: an Bügeln hängende Hemden bedeuten z.B., daß an diesen Knöpfe fehlen, usw. Jemanden Tag für Tag um sich haben, ohne ihn zu erleben Daß mir nicht die Befürchtungen manchmal unvernünftig erscheinen, sondern die Sorglosigkeit, die Angstfreiheit (als hätte 173 würde ich mich dabei ERTAPPEN) "Welche Katastrophen hast du denn schon erlebt?" ‒ "Die Kata¬ strophe des Alleinseins." "Mein Sohn ist in einer psychiatri¬ schen Anstalt. Er hat uns von ist von sich aus gebeten da ein zu getreten. Er hat schreckliche Ängste." Und jetzt zögert man, zu fragen, was für welche Ängste er denn hat, obwohl darauf gewartet wird und das Gespräch davon abhängt (Parzival + Amfortas ) , immer wieder dieser Mythos des Nicht-¬ Fragens ) ; erst viel später fällt einem ein, daß man hätte fragen sollen, aber da ist es nicht mehr möglich) Dialog aus einem Traum: "Was machst du denn für ein Gesicht?" ‒ "So schaut man eben drein beim Knöpfezumachen , . " Da schaute blickte mich eine Frau aus der Menge zärtlich an. Allmählich bei allen Geräuschen im Haus sofort wissen, woher sie stammen An manchen seltenen Tagen sich mit dem Bewußtsein, nein, keinem einzelnen, begrenztem Bewußtsein, 174 sondern einer der unbegrenzten, allesumfassenden Bewußtheit bewegen, schon der neue Mensch zu sein, d.h. gleichzeitig phanta¬ sieren zu können , sich zu erinnern, und in völliger Geistesgegenwart in die Umwelt, durch die man sich bewegt, eingreifen zu können, wobei eins zur die Deutlich¬ keit und Entschieden¬ heit des andern ver noch ver¬ stärkt Verschiedene Motive Additionstabelle, Obst und durchgestrichenes Gefäß mittelgroße, tw. seitlich gedrehte Zeichnung (Filzstift: blau), sehr wahrscheinlich von Amina Handke, mit Schrift in der Zeichnung, Datum, Ort und Beschriftung → + 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 A. 31.10.76. im China-¬ Restaurant rue Erlanger Ein Kältehauch im Bahn¬ hof, noch bevor der durch¬ sausende Zug heran ist Eine Geschichte begänne: "Der Zug fuhr in durch eine r be¬ tonierte n Senke, über die in die von der Böschung oben lange Pflanzenbüschel hineinhingen; diese wohl ziemlich hartblätt¬rigen Büschel schwan¬ gen durch den Luftzug der vorbeirasen¬ den Züge einmal in die eine, dann in die andre Richtung, so daß in den r Betonwand helle herausgekratzte 175 Verschiedene Motive evtl. Rind, Giraffe und Steinbock mit Bergsilhouette, tw. durchgestrichen mittelgroße Zeichnung (Kugelschreiber: blau), Urheber*in nicht identifiziert Es lässt sich nicht eindeutig sagen, ob die Zeichnung von Peter Handke, seiner Tochter Amina oder einer dritten Person stammt. Nicht identifiziertes Motiv mehrere kleine Rechtecke umgeben von größeren, rechtwinklig verlaufenden Linien mittelgroße Zeichnung (Fineliner: rot), Urheber*in nicht identifiziert, mit Beschriftung 8h 36 voulè des Ges mardi 1/25 Zwei der mit der Zeichnung assoziierten Textteile ("mardi" und voulè des Ges) wurden von Handke durchgestrichen, weshalb sie nicht im Platzhalter angezeigt werden. 348 95 35 Kustow 928 20 33 244342 L. 19/49/30 Ansbacher St. 63 Berlin Bei manchen Tätigkeiten die Überzeugung einer solchen Geschützt¬ heit, daß nicht einmal das "Monster des Universums", wenn es jetzt einträte, mir was anhaben könnte (auch nicht wollte) A. , die immer von ihren vielen neuen Freundinnen in der Schule sprach, kam es eines Morgens, als sie wieder das Schulelend packte, vor, als habe sie in Wirklichkeit doch gar keine Freundin Pendelspuren zurückblieben, ähn¬ lich dem Kreisfragment einer Sonnen¬ uhr. An diesen fast weißen, halb¬ runden Krümmungen Zeichen an dem ¬ langen Betondamm, die ich mir lange Zeit nicht erklären konnte, fuhr ich damals täglich vorbei ..." Einmal alle Lebensmaßnahmen vergessen 176 Marie-Louise Audiberti 1 bis rue des Capucins 92190 Meudon Bellevue. 027 44-59 Meine Vergangenheit: wenn es gut war, erinnere ich mich an die Situa¬ tion; wenn es schlecht war, war das ich M. AYACHE Tél. 626.04.59 après 19 H h Dinosaurierskelett mittelgroße Zeichnung (Kugelschreiber: blau), Urheber*in nicht identifiziert Es lässt sich nicht eindeutig sagen, ob die Zeichnung von Peter Handke, seiner Tochter Amina oder einer dritten Person stammt. Im Fern¬ sehen die Musik der Geschichte zu Bildern der Natur (der N. Natur eine G. Geschichte abschwin¬deln) (zu X 65 oben ): Alte Frauen laufen auf den war¬ tenden Zug zu, und in der Unfähigkeit, schneller zu sein, beeilt sich panisch das Gesicht, vor allem der Mund 177 Born: Die Realität ist ein "Unrecht" in den schwachen Passagen hat nur er Platz, und wenn keine andern drin sind, ver¬ liert auch er die Kontur der unlösbar schwere Chandler-Fall ist hier Maria ... "Pathos, wie es ... aus dem Anschaun des eigenen Lebens kam" Die Unmöglichkeiten des Zusammen¬ lebens: Solche Axiome kennt die Literatur nicht Es finden sich keine Momente eines möglichen anderen Lebens in dem Buch, alle Liebesversuche sind vergebens, Gesten (andres Leben nur in der Erin¬ nerung: Maria), nur Übermut im Schlam¬ massel Schlamassel Sprache wird L leidenschaftlich die schöne Beschreibung von Fremden: als ob B. auf den ersten Blick mehr sieht als auf den zweiten Der Schriftsteller hat eine gewisse Unver¬ wüstlichkeit, wie Berti Vogts und Uwe Seeler, nein, viel unverwüstlicher, ¬ lich Nicht identifiziertes Motiv evtl. drei Glocken kleine eh. Zeichnung (Kugelschreiber: schwarz) Die Notizbuchseite wurde nachträglich mit roten und schwarzen Stiften großflächig überkritzelt, wobei die Zeichnung anscheinend ausgespart wurde. Trauer über die Menschen, als ob sie schon tot wären Das eigene Unglück (oder: das Unrecht an ihnen persönlich) gibt die Kraft, das Unrecht zu sehen, das an den andern be¬ gangen wird 178 07.10.8 Geheimschrift Symbole und Legende mit alphabetischer Zuordnung große Zeichnung (Kugelschreiber: blau), sehr wahrscheinlich von Amina Handke, mit Schrift in der Zeichnung, Schrift als Zeichnung und Beschriftung o F T A i in ou L D hibou B A B C → D E F G H i j K L M N O P Q R S R O E M T U V W X Y Z lavabo 326 72 46 D. C E . Man merkt dann, daß man das nötig gehabt hat (daß ein Buch einen gründlich an sich erinnert) CLAIREFONTAINE